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»Ja, der Ekel vor dem, was man ist«

  • Heinrich Detering: Juden, Frauen und Litteraten. Zu einer Denkfigur beim jungen Thomas Mann. Frankfurt/M.: S. Fischer 2005. 208 S. Paperback. EUR (D) 17,90.
    ISBN: 3-10-014203-9.
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Thomas Manns Verhältnis zum Judentum und die Inszenierung jüdischer Figuren in seinem Werk haben als Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Forschung insbesondere in den letzten Jahren wachsende Aufmerksamkeit auf sich gezogen. In den Vordergrund der kritischen, oft auch kontrovers geführten Auseinandersetzung ist dabei die durchweg ambivalente Darstellung des Judentums gerückt, die das Mann’sche Prosawerk ebenso kennzeichnet wie seine persönlichen Äußerungen zum Thema. Tritt der Autor zum einen gerne als überzeugter Philosemit auf, lassen sich zum anderen die stereotypen Überzeichnungen jüdischer Figuren in seinen Texten ebenso wenig überlesen wie problematische Äußerungen zum Judentum in seinen Essays. So deutete Ruth Klüger in ihrem elementaren Essay über jüdische Figuren bei Thomas Mann seine ambivalenten Darstellungen von Juden als literarische Reflexe »für das Verständnis und Missverständnis, die Faszination und den Haß, die Deutsche in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts« dem Judentum entgegenbrachten. 1 In jüngster Vergangenheit konnten insbesondere die Beiträge des Berliner Kolloquiums der deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft zu Thomas Mann und das Judentum im Jahre 2002 in ihrer Auseinandersetzung mit einzelnen Werken des Autors den Blick auf jene Ambivalenzen schärfen. 2 Zu Recht stellt dabei Thomas Klugkist in seiner den Tagungsband beschließenden Textcollage fest, dass in der Mann’schen Auseinandersetzung mit dem Judentum die Kategorie des »Moralischen« hinter seinen Texten zurückfalle: »Das Moralische stand im Zweifelsfall immer hinter dem Ästhetischen zurück.« 3

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Thomas Mann, auch das wurde schnell erkannt, belässt es nicht bei einem bloßen Inszenieren jüdischer Figuren – er nimmt ihre Rolle als gesellschaftliche Randfiguren für die eigene Person in Anspruch. Bereits der Biograf Hermann Kurzke konstatiert: »Da er [Mann] selbst ein Außenseiter war, empfand er die Juden schon früh als Brüder. Juden sind wie Künstler den seßhaften Bürgern überlegen, sind hellsichtiger, leidensfähiger und ausdrucksstärker.« 4 Und Ruth Klüger merkte diesbezüglich kritisch an, dass Mann mit seiner Inanspruchnahme jüdischer Rollenbilder weniger der tatsächlichen sozialen und gesellschaftlichen Position der Juden als vielmehr einem brüchigen Selbstbild gerecht wird: »[...] aber es ist eben auch eine Funktion von erfundenen Juden, daß ihre nicht-jüdischen Erfinder ihre eigenen Unsicherheiten und Selbstkritik an ihnen auslassen.« 5 Insgesamt ist die Thomas-Mann-Forschung, wenn sie die persönliche Spiegelung des Autors im Angesicht jüdischer Figuren untersucht, dazu übergangen, seinen Philosemitismus als Ausdruck seines Stolzes, seinen Antisemitismus als Resultat seines Selbsthasses und seiner Scham zu lesen.

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Zielsetzung

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Heinrich Detering kann also in der vorliegenden Studie auf eine gerade in jüngster Zeit ertragreiche Forschung zurückgreifen, welche die zentrale Rolle der Juden als Identifikationsvorlage für das Selbstverständnis Thomas Manns bereits erkannt hat. Detering stellt nun zwei weitere Außenseitergruppen vor: Frauen und Literaten. Beide – so will er nachweisen – gehören gemeinsam mit den Juden zu den Stigmatisierten und bilden im Denken des jungen Thomas Mann eine Trias, die kaum auseinander zu dividieren ist. Nicht bloß die literarische Inszenierung dieser Stigmata, sondern gerade die Identifikation mit ihren Trägern – so die zentrale These Deterings – zähle »zu den Leitmetaphern des jungen Thomas Mann« (S. 17). Aus dem Mann’schen Essay Das Theater als Tempel (1907) leitet Detering dabei eine Poetik des Stigmas ab. Stigma ließe sich dann mit Mann auf die schlichte Formel »einer körperlichen Markierung, die ihren Träger als Außenseiter brandmarkt« bringen (S.16). Mit Blick auf die zahlreichen Figuren im Mann’schen Werk, die durch deformierte Körperteile, Verkrüppelungen, Sprachfehler, platte Nasen oder grotesk bemalte Gesichter auffallen, erkennt Detering, dass Mann in aller Deutlichkeit »seinen Figuren die Abzeichen ihrer Wesensart mit sogar derb pittoresken Strichen ins Gesicht« male (S. 14).

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Kennzeichnend für sämtliche Mann’schen Darstellungen des Stigmas ist dabei der den Stigmatisierten eigene Entwicklungsprozess, der zwischen Selbsthass und –ekel sowie gleichzeitiger Selbstbehauptung stattfindet. Diesen Prozess durchlaufen sämtliche Außenseiter der wilhelminischen Gesellschaft, ihre – mit Nietzsche gesprochen –»Tschandalas« (S. 17), und zu ihnen gehören, so die Prämisse Deterings, die Anhänger eines »weiblichen Kulturideals« ebenso wie der »Jude« und der »Litterat«.

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Ausgangspunkt

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Gleichsam als Initialzündung der Studie fungiert Deterings editorische Arbeit an den Essaybänden der Großen kommentierten Frankfurter Thomas-Mann-Ausgabe (GKFA). Dort findet sich eine bislang nicht publizierte, weil von Mann später wieder gestrichene Textpassage aus dem in den Betrachtungen eines Unpolitischen selbstkritisch widerrufenen Essay Der Literat:

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Ja, der Ekel vor dem, was man ist, diese Untreue und seltsame Unsicherheit des Ichs scheint in der That die gemeinsame Eigenschaft der Juden, Frauen und Litteraten zu sein.
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Hier, so Deterings Ansatzpunkt, verberge sich ein Schlüsselgedanke des jungen Thomas Mann, der sich als zentral für die Lesart seiner frühen Erzählungen und Essays erweise und nun fruchtbar für die Analyse gemacht wird. Im Frühwerk Manns, das bis auf zwei Ausnahmen auf die Zeit zwischen den ersten Schriften bis zum Kriegsausbruch 1914 beschränkt bleibt, sucht Detering Juden, Frauen und Literaten als Gruppe der stigmatisierten »Tschandalas« in ihrer durchweg ambivalenten Inszenierung offen zu legen. Die Studie versteht sich zugleich als Ausarbeitung des Beitrags, den Detering im Rahmen des Berliner Kolloquiums zu Thomas Mann und das Judentum leistete. 6 Bildete hier noch das essayistische Frühwerk den zentralen Untersuchungsgegenstand, weitet er nun den Blick auf das frühe Prosawerk aus. Konstitutiv sowohl für den literarische Umgang als auch die persönliche Identifikation mit den Stigmatisierten sei dabei – so die Überzeugung Deterings – die ambivalente Bewertung, die sie stets erfahren und die einen Prozess begründe, der sich als »Übergang vom Dasein als ‚›Gezeichneter‹ zu dem als ›Ausgezeichneter‹« äußert (S. 18).

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Mannweibliche Kunst

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Die Auseinandersetzung mit dem Stigma »Weiblichkeit« eröffnet Deterings Blick auf seine titelstiftende Trias. »Männer-Weiblichkeit« als geschlechtliche Grunderfahrung lässt sich in der Tat im Frühwerk Thomas Manns nur allzu leicht entdecken und reduziert sich mitnichten auf bloße Andeutungen einer verborgenen Homosexualität. Als Ur-Szene mannweiblicher Stigmatisierung wird Manns Erzählung Luischen gelesen. In der Darstellung des Rechtsanwalts Christian Jacoby, der beim Frühlingsfest in Babykleidung die Bühne betritt, tatsächlich aber zur »Fummeltrine im Tuntentreff« (S. 29) mutiert, begegnet – grotesk und grell ausgeleuchtet – Männer-Weiblichkeit als schonungslos ausgestelltes Stigma. Bereits hier jedoch gelingt es Detering zu zeigen, dass die weiblichen Eigenschaften Jacobys eine ambivalente Bewertung erfahren. Mit seiner originellen Analyse der Erzählung wirft er den Spannungsbogen auf, der kennzeichnend für sämtliche Stigmaerfahrungen im Frühwerk Manns sein soll: Das konsequente Schwanken zwischen dem Ekel vor sich selbst als Gezeichneter und dem gleichzeitigen Stolz des Ausgezeichneten.

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Wie deutlich der junge Thomas Mann diesen Prozess selbst sichtbar macht, weist Detering mit einem Blick auf frühe literaturkritische Essays nach. Sowohl Manns Aufsatz zu Toni Schwabes Roman Esther Franzenius mit dem bezeichnenden Titel Das Ewig-Weibliche als auch sein Gabriele Reuter-Essay feiern ein gender-Modell, in dem Detering die zeitgenössischen Kategorien des Sexes kaum noch wiederzuerkennen glaubt. Mit Toni Schwabe schwärmt Mann in emphatischen Lobpreisungen von einer Autorin, die in ihren Texten unerhört moderne Geschlechterkonstruktionen und Liebesbeziehungen inszeniert und dabei keineswegs verurteilt: Androgyn gezeichnete, lesbisch liebende Frauen, homo- und heteroerotisches Begehren zeugen von einer modernen Unkonventionalität, graben zeitgenössische gender-Konzepte um und begründen ein neues weibliches Selbstverständnis. Das Stigma – schlussfolgert Detering – erfahre hier seine positive Umdeutung in die stolze Selbstbehauptung eines weiblichen Kultur- und Kunstideals (S. 51).

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Das dringende Bedürfnis Manns nach Identifikation mit eben diesem weiblichen Kunstideal zeigt sich, als er 1904 den Roman Liselotte von Reckling von Gabriele Reuter bespricht. Die Inhalte des im Grunde eher konventionell gehaltenen Textes überstrapazierend glaubt er hier erneute Bestätigung für seine These von einem »weiblichen Kunstideal« zu finden: »Es scheint offenkundig, dass Thomas Mann die Ideen, die er aus dem Roman Toni Schwabes entwickelt hat, nun um jeden Preis in denjenigen Gabriele Reuters hineinliest.« (S. 58). Der Reuter-Essay thematisiere – so das Ergebnis Deterings – keinesfalls die tatsächlichen Inhalte des behandelten Romans, sondern entwickle vielmehr das poetologische Selbstverständnis eines Autors, der in der ersten Person Plural von den »Tschandalas« der Gesellschaft spricht und sich in diesen frühen Jahren »auf derselben Seite wie Toni Schwabe und Gabriele Reuter, als eine deutsche Schriftstellerin« präsentiere (S. 60).

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Der ganze Mensch

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Mit seinem Blick auf Manns 1924 publizierten Essay Zum 60. Geburtstag von Ricarda Huch verlässt Detering zwar seinen eigentlich auf die Zeit vor 1914 begrenzten Untersuchungsrahmen, rechtfertigt jedoch überzeugend die Notwendigkeit dieses Ausblicks. Am Huch-Essay und mit Blick auf Manns Leseexemplare Huch’scher Texte zeigt Detering, wohin die frühen Annäherungen an ein weibliches Kunst-Ideal eigentlich führen. Es geht um nichts weniger als das anthropologische »Ideal des Ganzmenschen« (S. 61), das Mann in Auseinandersetzung mit Texten Ricarda Huchs erarbeite. In Huchs Studie Blüthezeit der Romantik und dem darin postulierten Ideal vom Künstler als ›Ganzmenschen‹, in dem sich weibliche und männliche Prinzipien vereinen, erkenne Mann die Vorstellung des »Ewig-Menschlichen« (S. 64), das geschlechterspezifische Unterschiede in der Idee des übergeschlechtlichen Androgynen aufhebt.

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In der Tat erweisen sich die Texte Huchs in ihrem Entwurf eines neuen anthropologischen Konzepts als außerordentlich modern. So konkretisiert Ricarda Huch 1899 in ihrem Aufsatz Die Beurteilung der Frauendichtung sehr deutlich ihr innovatives Geschlechtermodell:

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Ist die Frau ein Mensch? Dies möchte ich eben bestreiten, beeile mich allerdings schleunigst hinzuzufügen, daß ich auch den Mann für keinen Menschen halte und daß ich das Wesen des Genies eben darin sehe, daß es die Kräfte beider Geschlechter soviel als möglich in sich vereinigt, also den Begriff – Mensch – reiner verkörpert als der durchschnittliche Mensch. 7
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Deutlich wird: Bereits bei Huch lassen sich Wurzeln für die von Thomas Mann hergestellte Analogie von Mannweiblichkeit und Künstler- bzw. Literatentum finden. Huch begreift ihr Bild des »Ganzmenschen« ganz explizit als ein Menschenideal, das gerade den Künstler charakterisiert und ihn als solchen auszeichnet.

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In der Regel natürlich überwiegt das Männliche im Manne, das Weibliche im Weibe, aber gerade bei Künstlern, die doch sowieso Ausnahmemenschen sind, begegnen wir eigentümlichen Mischungen, Versuchen der Natur, das mannweibliche Menschenideal hervorzubringen. 8
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Dass dieses Ideal des mannweiblichen Künstlers nicht zwingend auf die Emanzipation eines spezifisch weiblichen Kunstideals, auf eine radikale Selbstbehauptung des Weiblichen hinausläuft, wird indes ebenso deutlich. Denn auch in der Zusammenführung von männlichen und weiblichen Eigenschaften hält Huch an zeitgenössischen Stereotypen im Sinne tradierter Rollenverteilungen fest:

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Was die männlichen und weiblichen Eigenschaften in der Kunst sind, kann man, wenn man von allem Zufälligen absieht, in Kürze sagen: männlich ist die hervorbringende Kraft, das Gestalten und Formgeben; das Ausfüllen und Beseelen des Bildes ist weiblich. Männlich ist das Architektonische und Plastische, weiblich das Malerische und Musikalische, und innerhalb dieser Künste ist männlich wieder das Konstruktive, weiblich das Dekorative. 9
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Huch operiert in ihrer Gegenüberstellung geschlechterspezifischer Qualitäten mit Klischees, die auch in Sigmund Freuds Aktiv-Passiv-Konstruktion seines Geschlechtermodelles anklingen, das Männlichkeit als die stets hervorbringende, erzeugende Kraft begreift. In der Tat mag der Entwurf eines mannweiblichen Menschenbildes um 1900 zwar nur wenige literarische Spuren hinterlassen, dafür aber avanciert er im medizinischen und gesellschaftlichen Diskurs gleichsam zu einem Modethema. So konstatiert Freud in seinen Abhandlungen zur Sexualtheorie: »Jede Einzelperson weist vielmehr eine Vermengung ihres biologischen Geschlechtscharakters mit biologischen Zügen des anderen Geschlechts und eine Vereinigung von Aktivität und Passivität auf.« 10 Und selbst der berüchtigte Otto Weininger geht in seinem gleichermaßen misogynen wie antisemitischen Pamphlet Geschlecht und Charakter von »sexuellen Zwischenformen« aus, die sowohl in Männern als auch in Frauen begegnen. 11 Diese auf den ersten Blick fortschrittlichen anthropologischen Modelle legen ihre problematische Konsequenzen rasch offen: Der männliche Blick auf die Frau ist nun keinesfalls mehr anmaßend, sondern entspricht – da jeder über weibliche Anteile verfügt – gleichsam einem Akt der Introspektion.

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Die euphorische Inanspruchnahme eines mannweiblichen Kulturideals ist demnach nicht per se als Aufwertung weiblicher Qualitäten zu begreifen, sondern diese bleiben positiv besetzt einzig in ihrer Anbindung an männliche Kräfte. Genau betrachtet, bleibt der von Detering gewählte Titel seiner Studie missverständlich: Weniger um »Frauen« geht es ihm als vielmehr um das »mannweibliche Prinzip« und eine »mannweibliche Stigmatisierung«. In Bezug auf das Modell des »Ganzen Menschen« sowohl bei Autorinnen wie Huch als auch bei Thomas Mann ist allerdings kritisch zu überprüfen, ob nicht dadurch ein gender-Konzept bekräftigt wird, das zeitgenössische Geschlechterstereotypen auch in ihrer Zusammenführung weiterhin legitimiert.

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Frauen und Juden

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Die ambivalente Beurteilung des Stigmas und seine Inanspruchnahme für die eigene Person wiederholen sich – so Detering in seinem dritten Kapitel – bei Thomas Mann in der Darstellung des Judentums. Paradigmatisch würden die Ambivalenzen in Manns Essay Die Lösung der Judenfrage (1907) sichtbar, hier werde deutlich, wie Thomas Mann von einer klaren Absage an antisemitische Tendenzen seiner Zeit zu einer Darstellung des Judentums übergehe, die »unmerklich hinüber ins Feindselige und Aufsässige« gleite. (S. 65). Detering geht davon aus, dass eine Auseinandersetzung mit Thomas Manns ambivalenter Einstellung zu Juden und Judentum von jener mit Kunst und Männerweiblichkeit nicht zu trennen ist: »Hier wie dort lässt sich dieselbe Ambivalenz beobachten, hier wie dort nimmt die Angst vor dem Sichtbar- und Hörbarwerden des Stigmas eine zentrale Rolle ein.« (S. 71).

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»Ist man ein Jude – ist man eine Frau« überschreibt Detering sein Zwischenkapitel, in dem er Manns »Analogisierung von geschlechtlicher und antisemitischer Stigmatisierung« (S. 73) nachzuzeichnen sucht. Gemeinsam sei beiden – so Detering mit Mann – erstens »›das Pathos der Ausnahme im Herzen‹, zweitens Stigmatisierung, Marginalisierung und Assimilationsdruck und drittens die daraus folgende Notwendigkeit einer offensiven und schöpferischen Selbstbehauptung [...]« (S. 73). Auf diesbezügliche Vorbildmodelle in Texten Andersens und Herman Bangs hatte nicht nur Detering selbst in vorgängigen Untersuchungen, sondern insbesondere Michael Maar in seiner Studie über Thomas Manns Andersen-Rezeption aufmerksam gemacht. 12 Philologisch höchst spannend aber ist hier Deterings Blick auf Adalbert von Chamisso und seinen Peter Schlemihl. Durch eine aufschlussreiche Auseinandersetzung sowohl mit Manns Handexemplar der Erzählung als auch seinem 1910 geschriebenen literaturkritischen Essay weist Detering nach, wie Mann Chamissos Erzählung als literarisches Beispiel verstanden hat, das den Zusammenhang zwischen erotischen und rassistischen Diskursen paradigmatisch entwickelt (S. 73 ff.).

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Die Ambivalenz der eigenen Stigmaerfahrung verrät sich nicht nur in Manns literaturkritischen Äußerungen oder seinen Prosatexten, sondern tritt auch dort offen zutage, wo es um die Person des Autors selbst geht. Anhand des erbittert und polemisch geführten Kritikerstreits zwischen Theodor Lessing und Thomas Mann zeigt Detering, wie Manns Solidarität mit dem von Lessing angegriffen jüdischen Literaturkritiker Samuel Lublinski auch als Identifikation mit dessen Judentum zu verstehen ist. Die eigene Selbstverachtung und Selbstbehauptung führen schließlich dazu – so Detering – dass Manns Äußerungen als Beweis für seine Solidarisierung mit dem »jüdischen Opfer« zu lesen sind und gleichzeitig selbst antisemitische Klischees nicht nur wiederholen, sondern auch produzieren (S. 85).

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Wenngleich noch verhalten, finden sich hier erste Ansätze einer Lesart, die nicht nur die Mann’sche Rezeption und Bestätigung, sondern auch eine literarische Produktion antisemitischer oder eben auch sexueller Stereotypen problematisiert. Denn in der persönlichen Instrumentalisierung jüdischer Außenseitererfahrung durch Thomas Mann und in seinem Bemühen, diese Erfahrung zu einer Auszeichnung umzudeuten, verbirgt sich die Gefahr, die wachsende soziale und gesellschaftliche Diskriminierung der jüdischen Bevölkerungsminderheit zu banalisieren und tatsächliche Probleme in einer auf sich selbst bezogenen Sentimentalität zu ertränken. Bereits Ruth Klüger hatte mit Blick auf den jüdischen Arzt Dr. Sammet im Roman Königliche Hoheit ganz richtig die fatalen Konsequenzen der Mann’schen Identifikation mit seinen jüdischen Figuren erkannt. »Wenn man Dr. Sammet zuhört, glaubt man, daß es den Juden so geht, wie es ihnen gehen soll, und daß keine Änderung notwendig sei.« 13

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Litteraten

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Der Blick auf den »Litteraten« schließt die Aufschlüsselung der vorgestellten Denkfigur im Kontext der frühen Mann-Texte ab. Die Stigmatisierung des Literaten – so die Prämisse Deterings – lässt sich von den rassistischen und sexuellen Stigmatisierungen bei Thomas Mann nicht trennen. Weniger ausführlich behandelt als die »Frauen und Juden« und gleichzeitig untrennbar an diese beiden gekoppelt bleibt die Auseinandersetzung mit der Literatenfigur insbesondere auf den programmatischen Essay Der Literat beschränkt. Denn in diesem Text ist es Mann selbst, der die Bezeichnung Literat nicht nur als einerseits »tötlichstes Schimpfwort« (S. 94) und gleichzeitig als »Ehrentitel und Ordenszeichen« (S. 94) deutet, sondern bereits klare Analogien zwischen den Literaten, den Juden und den Frauen herstellt. So ist die Stigmatisierung des Literaten ohne die der Juden nicht denkbar, sondern entspricht dem Hang des jungen Mann dazu, das »Litteratentum« grundsätzlich als jüdisch zu begreifen. Unterstützt wird diese Auffassung auch von einer zeitgenössischen Literaturkritik, die Thomas Mann vorzugsweise als einen »jüdischen Schriftsteller« verstehen will. Neben Lublinski, der Thomas Mann im Streit um Theodor Lessing bereits als »Espritjuden« bezeichnete, ist es vor allem der führende völkische Literaturkritiker Adolf Bartels, der Manns Werk als ein jüdisches verstehen will. Stigmatisiert ist der Literat Thomas Mann folglich als jüdischer Schriftsteller, als der er sich nicht nur selbst begreift. »Zwischen ›Literat‹ und ›Jude‹«, heißt das, besteht also »nicht mehr nur eine Beziehung der Analogie, sondern auch eine diskursive Schnittmenge« (S. 86).

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Wenn Thomas Mann 1908 in seiner Notiz über Heine also den ›Künstlerjuden‹ feiert, dann – so Detering – darf die vermeintliche Anstößigkeit des Begriffs nicht von der Tatsache ablenken, dass Thomas Mann sich dem ›Künstlerjuden‹ in beiden Hinsichten verwandt fühlt – so stolz und so stigmatisiert wie ›mein Heine‹ (S. 93).

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Königliche Hoheit

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Wohin aber führt Deterings Auseinandersetzung mit Manns frühen Texten und der Inszenierung seiner Stigmatisierungserfahrungen? Sie enden in einem Werk, das philologisch betrachtet ein eher problematisches ist. Königliche Hoheit zeigt wie kaum ein zweiter der Mann’schen Texte, wie literarische Kritik, literaturwissenschaftliche Urteile, Leserrezeption und nicht zuletzt die Selbsteinschätzung durch den Autor divergieren können. Zu Veröffentlichungszeiten ein überwältigender Erfolg, hat der Roman bis heute kaum Aufmerksamkeit durch die Literaturwissenschaft erfahren können. Dennoch – so weist Detering gerade auch mit Blick auf Selbstäußerungen Manns nach – hat der Autor selbst mit konsequenter Beharrlichkeit seine »Prinzengeschichte« verteidigt. Bereits in seinem der Studie vorgängigen Beitrag im Rahmen des Berliner Kolloquiums hatte Detering auf die Verknüpfung der Stigmata des Jüdischen, der Männerweiblichkeit und des Literatentums in Königliche Hoheit als noch ausstehendes Forschungsdesiderat aufmerksam gemacht. 14 Mit der ausführlichen Analyse des Romans sucht er in seiner Studie diese Lücke nun selbst zu schließen.

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Dabei sind es nicht nur die unverkennbar autobiographischen Implikationen, die den Roman zu einem beispielhaften Dokument für das Selbstverständnis Thomas Manns gestalten. Gerade dieses Werk – so die These Deterings – formuliere die »Summe seiner Stigmatisierungsdarstellungen, [...] und arbeitet sich ab am Versuch einer Lösung« (S. 107) Bei seiner, hier lediglich in wenigen Ausschnitten wiedergegebenen, Analyse zehrt Detering erneut von seiner editorischen Arbeit im Rahmen der GFKA und deckt gerade unter Berücksichtigung der langen Entstehungsgeschichte des Romans, seiner frühen Skizzen und später verworfenen Fassungen die spannendsten Beobachtungen auf, auch in Bezug auf das »Panorama der Außenseiter« (S. 130), das im Roman begegnet. Die ursprünglichen Entwürfe, so weist Detering nach, belegen eine deutlich schärfere Überschneidung antisemitischer und geschlechtlicher Stigmatisierung: In den ersten Textfassungen taucht keineswegs allein der Kinderarzt Dr. Sammet als jüdische Figur auf. Auch Imma Spoelmann, in der letzten Fassung des Romans als Rassenmischung und androgyne Außenseiterin zwar immer noch als Stigmatisierte gezeichnet, sollte eigentlich Imma Davidsohn heißen und Jüdin sein. Das Spektrum der Stigmatisierten geht in Königliche Hoheit jedoch weit über den Bereich der Frauen und Juden hinaus. Detering spricht von der bemerkenswerten »Mannigfaltigkeit der Stigmatisierungs-Erfahrungen« (S. 148) im Roman und liefert eine ausführliche Zusammenschau über all jene Gezeichneten im Text, deren äußerlichen und psychischen Defizite den körperlich behinderten Prinzen Klaus Heinrich schließlich zum »Fürsten der Außenseiter« werden lassen.

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Happy End?

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In der Geste eines Kusses, den Imma Spoelmann auf die linke, verkümmerte Hand des Prinzen drückt, führt Königliche Hoheit die Stigmatisierten zusammen, »weil sie einander erkennen und sich gemeinsam vom Stigma befreien« (S. 165). Es spricht allerdings für Detering und die Qualität seiner Studie, dass er seine Leser nicht mit dem Blick auf das im Roman angelegte Happy End, auf die hier »versöhnte Welt der Außenseiter« (S. 166) entlässt, sondern das problematische Kapitel der Mann-Biographie nicht ausspart, welches sich bei Kriegsausbruch 1914 anschließt. Konservativ-nationalistische Texte Manns wie die Gedanken im Kriege, der Brief an die schwedische Zeitung Svenska Dagbladet und die monumentalen Betrachtungen eines Unpolitischen setzen zwischen 1914 und 1918 eine tiefe Zäsur im Schaffen des Autors. Dass sich hinter diesen Äußerungen der – wenngleich ungemein problematische – Emanzipationsversuch eines ›feminisierten‹ Autors verbirgt, hat bereits Hermann Kurzke vermutet: »Der Krieg erlaubte es, sich als ›Mann‹ zu zeigen, denen zum Trotz, die ihn als Weib, Stubenhocker und feine Goldschnittseele verächtlich gemacht hatten.« 15 Detering weitet den Deutungsversuch des Biografen nun aus und schlägt abschließend vor, die tendenziösen Texte gleichsam als Dokumente eines Selbsthasses zu lesen, der nun »die Selbst-Bilder des jungen Schriftstellers in den wechselnden und sich überschneidenden Rollen von ›Juden, Frauen und Litteraten‹ trifft.« (S. 177).

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Fazit

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Höchst anregend und glänzend geschrieben erschließt Heinrich Detering eine Lesart früher Mann-Texte, der man sich kaum zu entziehen vermag, auch, weil sie nicht apodiktisch Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. Detering ist sich der »perspektivischen Beschränkung« (S. 187) seiner Studie bewusst, vermag die von ihm ins Zentrum gerückte Denkfigur aber durch eine konsequente und engagierte Argumentation überzeugend aufzuschlüsseln und in ihrer Relevanz für eine zukünftige, kritische Auseinandersetzung mit Texten des jungen Thomas Mann herauszustellen. Der auch von Detering selbst zugegebene Verzicht auf allzu detaillierte philologische Nachweise und Quellenangaben ergibt sich aus dem erklärten Anspruch, nicht nur ausgewiesene Thomas-Mann-Forscher, sondern ein breites, literarisch interessiertes Publikum erreichen zu wollen. In der Tat kann Detering sich diese Freiheit erlauben, liefern doch die ausführlichen Kommentarbände der von ihm editierten Bände der GKFA dem um philologische Genauigkeit bemühten Rezipienten all jene zusätzlichen Informationen, auf die man in der vorliegenden Studie verzichtet. Verdienst Deterings ist es daher nicht zuletzt, den Reichtum der in einer kommentierten Gesamtausgabe enthalten Entdeckungen und Aufspürungen nun in ungleich zugänglicherer Form offen gelegt und dadurch den kostbaren Wert einer solchen philologischen Detail- und gleichzeitig ›Schwerstarbeit‹ einmal deutlich gemacht zu haben.



Anmerkungen

Klüger, Ruth: Thomas Manns jüdische Gestalten. S. 58. In: Dies.: Katastrophen. Über deutsche Literatur. München 1997. S. 40–59.   zurück
Dierks, Manfred / Wimmer, Ruprecht (Hg.): Thomas Mann und das Judentum. Die Vorträge des Berliner Kolloquiums der deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2004.    zurück
Klugkist, Thomas: Thomas Mann und das Judentum. Eine Collage. S. 164. In: Dierks/Wimmer (Anm. 2), S. 163–192.    zurück
Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 2001. S. 210.   zurück
Ruth Klüger (Anm. 1), S. 51.    zurück
Detering, Heinrich: Juden, Frauen, Literaten. Stigma und Stigma-Bearbeitung in Thomas Manns frühen Essays (1893–1914). In: Dierks/Wimmer (Anm. 2), S. 15–34.   zurück
Huch, Ricarda: Gesammelte Werke, Band 11. Hg. von Wilhelm Emrich. Köln / Berlin 1974. S. 505.   zurück
Ebd., S. 506.   zurück
Ebd., S. 505f.   zurück
10 
Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Frankfurt a. M. 1999. S. 120.   zurück
11 
Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Wien, Leipzig 1923. (zuerst 1903). S. 9.   zurück
12 
Detering, Heinrich: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus. Göttingen 2002 (zuerst 1994). / Maar, Michael: Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg,München 1995.    zurück
13 
Ruth Klüger (Anm. 1), S. 55.   zurück
14 
Detering (Anm. 6), S. 15–34. Hier S. 34:

Wo immer der junge Thomas Mann eine Auseinandersetzung mit Jüdischem führt, spielen die Stigmata der Männerweiblichkeit oder des Literatentums oder beide hinein. Das gilt übrigens auch für Königliche Hoheit – diesen immer noch zu entdeckenden Märchenroman über Frauen, Literaten und Juden.

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15 
Kurzke (Anm. 5), S. 237.   zurück