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Aufrichtig sein ...

  • Claudia Benthien / Steffen Martus (Hg.): Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. (Frühe Neuzeit 114) Tübingen: Max Niemeyer 2006. VIII, 376 S. Leinen. EUR (D) 112,00.
    ISBN: 3-484-36614-1.
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Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert

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Eine Publikation zur Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert stellt sich unweigerlich in eine romanistische Traditionslinie, die mittlerweile geradezu klassische Studien zur Kultur der höfischen Gesellschaft hervorgebracht hat. Genannt seien in diesem Zusammenhang nur die Aufsätze von Jean Starobinski zur Schmeichelei oder von Roland Galle zum Zusammenhang von ›honnêteté‹ und ›sincérité‹. Zudem assoziiert man die Aufrichtigkeit unweigerlich mit Michel Foucaults berühmter Formel des Menschen als ›bête d’aveu‹, als Geständnistier, das zunächst in der Beichte und dann als Patient im Arztzimmer sowie letztendlich auf der Couch des Psychiaters aufrichtig gesteht und sich so als Subjekt von Diskursen selbst objektiviert. Doch auch die komplementäre Form der Subjektbildung, die Individuierung, geht bekanntlich aus dem aufrichtigen Geständnis hervor, da dieses einen Raum der Intimität eröffnet, der dem Subjekt einen Freiraum zur Selbstproblematisierung bietet. Die Lektüre des vollständigen Titels des anzuzeigenden Bandes, Die Kunst der Aufrichtigkeit, versichert einen solchen Leser schließlich, in ein Gespräch mit Vertrautem einzutreten, denn für die Gesellschaft von ›la cour et la ville‹ war sie nie anders denn als Kunst denkbar, da die Aufrichtigkeit stets der bewussten Regulierung bedurfte, um den Erfordernissen der Gesellschaft zu genügen und damit die Distinktion des Einzelnen auszuweisen.

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Als wahre Kunstform auf dem sozialen Parkett wurde die Aufrichtigkeit insbesondere von den Moralisten begriffen, da an ihr die Kunst der Menschenkenntnis genauso erprobbar war, wie die Kunst der möglichen Verstellungen, so dass sich an ihr die Differenz zwischen wahrer und vorgetäuschter Aufrichtigkeit festmachen lässt, wie dies La Rochefoucauld aber auch Madeleine de Scudéry nachdrücklich hervorhoben. Dadurch schließt die Aufrichtigkeit, die gewöhnlich dem 18. Jahrhundert zugeschrieben wird, so sie als Kunst verstanden wird, unmittelbar an die Kunst der Verstellung an, die gängiger Weise für das 17. Jahrhundert namhaft gemacht wird. Vor diesem Hintergrund verspricht ein Band zur Kunst der Aufrichtigkeit, ein zentrales Konzept der Frühen Neuzeit in den Mittelpunkt umfassender Reflexionen zu stellen und so Auskunft zu geben über die historischen Formen der Selbstpräsentation des Menschen im Alltag sowie der verschiedenen Diskursordnungen, die diese Selbstdarstellungen einen Rahmen geben.

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Methodologie der Aufrichtigkeitslektüren

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Die historische Kunst der Aufrichtigkeit stellt den potentiellen Leser folglich vor zwei Herausforderungen: erstens zu erkennen, ob es sich bei der genannten Aufrichtigkeit um eine wirkliche oder nur inszenierte Aufrichtigkeit handelt und zweitens zu beschreiben, wodurch die behauptete Aufrichtigkeit gekennzeichnet ist, mithin wodurch sie sich plausibilisiert. Die Kunst der Aufrichtigkeit fordert demnach eine Lektüre, die im Wissen um diese Kunst, die Aufrichtigkeit ›richtig‹ versteht und zugleich deren Bedeutung sowie Funktionen herausarbeitet. Möglich wäre demnach zum einen die Lektüre von historischen Texten, in denen die Aufrichtigkeit oder synonym verwendete Begriffe thematisiert werden, um die historische Semantik des Begriffs herauszupräparieren. Damit verbunden wäre die Lektüre von Texten, in denen das leitende Konzept in Relation zu anderen Konzepten reflektiert wird, um den systematischen Stellenwert der Aufrichtigkeit in einzelnen Diskursen zu erarbeiten. Zum anderen bietet sich die Möglichkeit, die Aufrichtigkeit als eine Kategorie zu fassen, die einem aktuellen Denksystem – man denke etwa an die Sprachphilosophie – entstammt, und von diesem Punkt aus eine theoriegeleitete Lektüre der historischen Texte zu unternehmen, in denen die Aufrichtigkeit möglicherweise nicht selbst begrifflich, wohl aber systematisch fassbar wird. Im besten Fall kommen beide Formen des Zugangs zusammen und gehen eine produktive Synthese ein, so dass die Aufrichtigkeit sowohl historisch adäquat als auch konzeptionell präzise beschreibbar wird.

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Doch, aufrichtig gesagt, nur die Hälfte der Beiträger versucht sich der Aufrichtigkeit als einer Kategorie oder gar als einem Konzept zu nähern. Die weitaus größere Hälfte bietet Lektüren von literarischen Texten oder ›Diskursen‹, ohne sich um eine Konturierung der Aufrichtigkeit zu sorgen. Manche von ihnen legen interessante, durchaus mit Gewinn zu lesende Lektüren vor, die jedoch mit dem eigentlichen Thema des Bandes wenig zu tun haben.

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Sehr häufig stellen die VerfasserInnen daher ihr persönliches Verständnis der Aufrichtigkeit als (Liebes-)Treue, Wahrhaftigkeit oder Authentizität ihren Lektüren voran und interpretieren dann die zugrunde gelegten Texte als ›aufrichtige‹ Texte, ohne dass indes klar würde, warum in diesen die Aufrichtigkeit – und eben gerade diese – eine besondere Stellung einnimmt, da die Quellen jene gerade nicht belegen. In solchen Fällen zeigt sich häufig ein ausufernder Gebrauch des Adjektivs ›aufrichtig‹ und des Substantivs ›Aufrichtigkeit‹, um das Vorgestellte zu beschreiben, ohne dass die Objekte dies notwendig und gelegentlich auch plausibel erscheinen lassen. In wenigen Fällen geht die Setzung gar so weit, dass die ›Aufrichtigkeit‹ wahrhaft abrupt in die Argumentationslogik eingeführt wird, ohne dass man den Zusammenhang verstehen würde. Die Relation von Objekt- und Metaebene steht dann in einem eigenwilligen Verhältnis zueinander.

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Lektüren der Aufrichtigkeit

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Im Sammelband werden nachfolgende Schwerpunkte thematisiert, um ein umfassendes Bild von der Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert vorzustellen:

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1. »Christliche Aufrichtigkeit und sakrale Rhetorik«

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2. »Sozialverhalten und Unverstelltheit«

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3. »›Teutsche‹ Redlichkeit und wahres Sprechen«

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4. »Wissenschaften und Künste der Aufrichtigkeit«

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Es werden im Weiteren indes nur diejenigen Studien betrachtet, die sich mit dem Begriff bzw. Konzept der (Kunst der) Aufrichtigkeit auseinandersetzen, wobei den Vorgaben der Herausgeber nachgehend, die thematischen Schwerpunktsetzungen abgeschritten werden.

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Im ersten Abschnitt zu »Christliche[r] Aufrichtigkeit und sakrale[r] Rhetorik« untersucht Lutz Danneberg den Zusammenhang von »Aufrichtigkeit und Verstellung im 17. Jahrhundert«, indem er die systematischen Unterscheidungen von »dissimulatio, simulatio und Lügen als debitum morale und sociale« verfolgt. Dabei konzentriert er sich auf den philosophischen und theologischen Diskurs, erweitert jedoch die Perspektive, indem er die Begründungen der Aufrichtigkeit und der Verstellung seit Aristoteles, besonders aber seit Augustinus und späterhin Thomas von Aquin in den Blick nimmt, um nach deren moralischen, sozialen und politischen Implikationen zu fragen. Dabei kann er unter Rückgriff auf die aktuelle Sprechakttheorie einerseits und die historischen Diskussionen andererseits zeigen, dass die Aufrichtigkeit keineswegs als klar konturierter Begriff zu verstehen ist, sondern als problematisches, wenn nicht geradezu kontingentes Phänomen, das – verkürzt gesagt – vom Wollen und der Verständniskompetenz des Senders sowie des Empfängers grundlegend abhängt und das im Angesicht Gottes wiederum andere Konsequenzen zeitigt als im Angesicht seines Nächsten. Gerade Dannebergs ausführliche Einlassungen zum Zusammenhang von Aufrichtigkeit und Verstellung zeigen, wie weitgefächert dieses scheinbar leicht greifbare Konzept ist und lassen so einen Mangel des Bandes bereits zu Beginn aufscheinen, der im Weiteren nur allzu deutlich wird: Weil die Aufrichtigkeit so vielschichtig ist und in verschiedenen Kontexten höchst unterschiedlich verstanden werden kann, wäre es mehr als sinnvoll gewesen, dem Band eine allgemein verbindliche Fragestellung voranzustellen, um der Heterogenität auf der Sachebene ein Mindestmaß an Kohärenz auf der Reflexionsebene entgegenzusetzen.

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Im zweiten Abschnitt zu Sozialverhalten und Unverstelltheit sind die Aufsätze von Heidrun Kugeler zu »›Ehrenhafte Spione‹. Geheimnis, Verstellung und Offenheit in der Diplomatie des 17. Jahrhunderts« und Wilfried Barners »Aufrichtigkeit und ›Lebendigkeit‹ bei Christian Weise, pragmalinguistisch betrachtet« hervorzuheben. Kugeler orientiert sich in ihrer Studie zum Status der Aufrichtigkeit in der Diplomatie vorwiegend an den Selbstdarstellungen der Diplomaten sowie an diplomatischen Traktaten, um zu zeigen, welche Bedeutung selbige für das Verständnis der Diplomatie und Selbstverständnis der Diplomaten hatte. Denn entgegen möglicher voreiliger Zuschreibungen sahen sich die Diplomaten als ein Kreis distinguierter Personen an, die ob ihrer Rolle im öffentlichen Raum sowohl Vertrauenswürdigkeit suggerieren als auch Vertrauen erwerben mussten. Hierfür bot die Aufrichtigkeit ein probates Mittel, da sie dem jeweiligen Gegenüber nahe legte, dass die getroffenen Aussagen zuverlässig seien, da sie an die moralisch integre Instanz des Sprechers gebunden sind. Dies bedeutet zudem, dass der Diplomat aufmerksam die Grenze zwischen verordneter Geheimnisbewahrung und persönlicher Aufrichtigkeit zu wahren hatte, dabei jedoch stets die eigene bzw. genauer: gruppenspezifische Integrität und damit auch Distinktion zu beachten hatte. Derart wurde eine Vertrauensbasis geschaffen, die als Ausweis für die Vertrauenswürdigkeit nicht nur der Diplomaten, sondern auch der Diplomatie als Ganzer und damit der diplomatischen Beziehungen zwischen den Staaten gelten sollte.

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Barners Aufsatz nimmt von den Sprechakttheorien im Anschluss an John L. Austin und John R. Searle seinen Ausgang, um danach zu fragen, wie Aufrichtigkeit im Sprechen, präziser: durch die Performanz hervorgerufen wird. Vorzugsweise anhand von Christian Weises Politischer Redner verfolgt er die Frage, wie in welcher Situation Aufrichtigkeit als Grundlage für einen gelungenen, aber nicht notwendiger Weise wahren Sprechakt anzusehen ist. Weises Schriften markieren insofern einen Übergang als sie bereits eine explizite Kritik an der starren Rhetorisierung von Brief- und Gesprächsstil enthalten, jedoch diese Rhetorisierung noch nicht durch eine eigenständige Vorstellung ersetzen. Erst Benjamin Neukirch, als exemplarischem Repräsentant der Galanterie, gelingt dies, gemäß Barner, indem dieser als neue Kategorie die ›galante Natürlichkeit‹ einführt. Diese Natürlichkeit steht für die Lebendigkeit des quasi-spontanen Ausdrucks genauso ein wie für die ungezwungene, wohl aber die Regeln der Höflichkeit wahrende Aufrichtigkeit, die die je nach sozialem Raum spezifische Distinktion einhält: damit weist diese Natürlichkeit der performativen Aufrichtigkeit zugleich ihren soziologischen Ort zu.

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Weise bereitet dieser Überwindung einer formal erstarrten Rhetorik indes die Grundlage, indem er die Formen und Funktionen des Sprachhandelns reflektiert und pragmatisch ausrichtet. Die Aufrichtigkeit wird in diesem Sinne zum Ausweis einer kommunikativen Kompetenz, die zwar an ein moralisches Substrat beim Sprecher rückgebunden sein sollte, aber nicht notwendiger Weise auch sein muss.

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Im dritten Abschnitt zu »›Teutsche‹ Redlichkeit und wahres Sprechen« steht eine Besonderheit der Aufrichtigkeitsreflexionen des 17. Jahrhunderts im Mittelpunkt, nämlich das eigentümliche, aber wirkmächtige Kompositum der ›teutschen Aufrichtigkeit‹. Sowohl Klaus Garber in seinem Aufsatz »Pastorale Aufrichtigkeit« als auch – und besonders – Ingo Stöckmann in seiner Studie »Die Gemeinschaft der Aufrichtigen« präparieren dieses eigenwillige Produkt deutscher Selbstdarstellung heraus, das sich explizit absetzt von nicht-deutschen, insbesondere französischen Formen der Aufrichtigkeit.

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Verkürzt gesagt reklamiert die ›teutsche Aufrichtigkeit‹ eine doppelte Wertigkeit für sich: Zum einen sei sie als ›wahre Aufrichtigkeit‹ zu verstehen, im Gegensatz zur vermeintlichen bzw. nur vorgetäuschten Aufrichtigkeit der Franzosen, zum anderen ist diese ›aufrichtige Aufrichtigkeit‹ genuines Kennzeichen der Deutschen, sei es der deutschen Sprache oder der deutschen Nation. Das zeigt sich etwa darin, dass die Sprecher eine Unmittelbarkeit der Kommunikation setzen, genauer: in Szene setzen, die zwar als rein künstlicher bzw. künstlerischer Effekt verstanden werden könnte, aber eben nicht dürfte. Bemerkenswert ist, dies hebt Stöckmann mehrfach hervor, dass das Insistieren auf der eigenen Aufrichtigkeit zwar tendenziell die Frage nach dem Grund für diese Behauptung nahe legen könnte, dies jedoch bewusst von den Apologeten der ›teutschen Aufrichtigkeit‹ ausgeklammert wird, um eine geradezu natürliche, d.h. naturgemäße ›teutsche‹ Aufrichtigkeit setzen zu können, die so nur für sie als unhintergehbar existiert. In diesem Sinne fungiert die spezifisch ›teutsche‹ Aufrichtigkeit als ein Baustein für die kulturelle Staatenbildung, die sowohl im Land der Pegnitzer Pastorale als auch in den Sprachgesellschaften Straßburgs und andernorts um 1700 geleistet wurde.

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Der vierte und letzte Abschnitt zu »Wissenschaften und Künste der Aufrichtigkeit« wird eingeleitet von Dirk Niefangers Studie »Aufrichtige Anlässe. Anfangspunkte der (poetischen) Rede im 17. Jahrhundert«. Analog zu Wilfried Barner untersucht Niefanger die Strategien, derer sich die Autoren von Reden bedienen, um die Aufrichtigkeit der Intention und damit der Sprachhandlung einem Hörer bzw. Leser unter Beweis zu stellen. Anhand dreier Beispiele, einer Leichenabdankung, der Vorrede eines medizinischen Buchs und eines Panegyrikus verfolgt er die rhetorischen Strategien aufrichtiger Evidenzbildung bzw. evidenter Aufrichtigkeitsbezeugung, mit denen die Redner bzw. Schreiber von ihrer Aufrichtigkeit überzeugen wollen. Dabei hebt er insbesondere auf zwei Momente ab, die sich auch im Beitrag von Barner skizziert finden: der Situationsgebundenheit der jeweiligen Rede und damit verbunden der Pluralität der Aufrichtigkeit suggerierenden Sprachhandlungen einerseits und die grundlegende Bindung der Sprechakte an die Rhetorik andererseits, da die intendierte Aufrichtigkeit immer an ihre Evidenz gebunden ist, so dass Aufrichtigkeit eben nur als Kunst der Aufrichtigkeit zu verstehen ist. Einfacher gesagt: eine Rede wirkt nur dann als aufrichtig, wenn der illokutionäre und der perlokutionäre Akt diese Aufrichtigkeit begründen, mithin keine Kontingenz hinsichtlich der Aufrichtigkeit in der Performanz festzustellen ist.

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Ein wahres Musterstück philologischer Praxis, das sowohl zum Thema des Bandes substantiell beiträgt als auch eine präzise Lektüre des ausgesuchten, d.h. im Wortsinn exemplarischen Beispiels bietet, legt Ernst Osterkamp in seinem Aufsatz zu »Johann Christian Günthers Redlichkeit« vor. Ausgehend von der historisch verbürgten Synonymität von ›Aufrichtigkeit‹ und ›Redlichkeit‹ verfolgt Osterkamp das geradezu exzessive Insistieren Günthers auf seiner Redlichkeit, die insbesondere seine Liebesgedichte, aber auch seine Bittbriefe durchzieht. Dabei verortet Osterkamp zunächst seine Überlegungen in der Günther-Forschung, wobei er herausstellt, dass die frühere Forschung, die am ›authentischen‹ Genie ausgerichtet war, der Redlichkeit kein Augenmerk schenkte, da diese als reine, nicht notwendige Bestätigung der behaupteten Authentizität angesehen wurde.

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Die neuere Günther-Forschung fokussiert hingegen die formale Qualität der Dichtung sowie die soziale Situation des Dichters, die auch in seinen Gedichten zum Ausdruck kommt, so dass beide, die ältere wie die jüngere Forschung der Redlichkeit als Evidenz produzierende soziale und ästhetische Kategorie keine Aufmerksamkeit widmeten, obwohl diese alle Texte durchzieht. Osterkamps These ist so einfach wie schlagend: Günther führt die Offenherzigkeit und Aufrichtigkeit in die galante Dichtung ein, um von seiner personalen Integrität zumindest literal zu überzeugen, da sein Handeln im sozialen Raum gerade diese Integrität vermissen oder problematisch erscheinen ließ. Günthers Scheitern besteht demnach darin, dass er sich gerade jenes Medium für seine Redlichkeitserklärungen auswählte, das dem zeitgenössischen Leser dazu am wenigsten geeignet erscheinen musste: die (galante) Liebeslyrik. Dieser Ort legt nahe, das Gesagte als ironisch bzw. scherzhaft zu verstehen und gerade nicht als aufrichtig, selbst wenn die Redlichkeit des Gesagten hervorgehoben wird. Im Sinne der Sprechakttheorie könnte man sagen, dass zwar nicht die Liebeslyrik per se, jedoch die galante Liebeslyrik im Besonderen eine Sprechsituation konstituiert, die keine Aufrichtigkeit zulässt, auch wenn, bzw. gerade dann, wenn die Aufrichtigkeit des Gesagten herausgestellt wird.

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Denn eine solche Hervorhebung indiziert mehr einen bewussten, strategischen Einsatz der Aufrichtigkeit als Persuasionstopos und weniger einen wie auch immer gearteten authentischen Ausdruck subjektiver Befindlichkeit. Doch weist Osterkamp noch mit einer weiterführenden Bemerkung den Weg aus dieser Problematik: nicht die galante Poesie, wohl aber die (galante) Prosa könne einen Ausweg aus diesem Aufrichtigkeitsdilemma bieten, da hier die Aufrichtigkeit ihren ›natürlichen‹ Ort hat. Ein Blick auf Christian Friedrich Hunold, der in diesem Band leider fehlt, hätte dieser Aussage mehr als Nachdruck verleihen können.

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Als letztes sei noch auf den Beitrag von Marie-Thérèse Mourey, »Gibt es eine Aufrichtigkeit des Körpers? Zu den deutschen Tanzlehrbüchern des späten 17. Jahrhunderts«, verwiesen. Sie zeigt, dass den Tanzlehrbüchern, in denen der Tanz eine positive Qualität zugesprochen bekommt, eine doppelte Ausrichtung zu Eigen ist: Zum einen orientieren sich die deutschen Lehrbücher stark an der französischen Hofkultur, und zum anderen fokussieren sie ein distinguiertes Subjekt, das den Tanz zu nutzen weiß, um sich zu perfektionieren bzw., wenn nötig, zu korrigieren. Die Aufrichtung des Tänzers durch den Tanz firmiert dann als Kennzeichen seiner natürlichen Distinktion, die ihm (s)eine Position im sozialen Raum gerade dadurch sichert, dass er sich künstlich überformt und so jene Aufrichtigkeit suggeriert, die ihn als ganzen, noblen Menschen konstituiert.

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Die im zweiten Abschnitt herausgestellte Opposition von ›teutscher‹ und französischer Aufrichtigkeit erhält nun – im Zeichen der Galanterie – ihr Komplement in den Verhandlungen zwischen französischer und deutscher Aufrichtigkeit, die um die Herausbildung eines distinguierten Individuums kreisen. Diese Individuen, das verdeutlicht auch der Beitrag von Heidrun Kugeler zu den Diplomaten, verstehen sich zwar als Subjekte eines Herrschers aber nicht notwendigerweise als Repräsentanten einer Nation: sie repräsentieren vielmehr ihren sozialen Raum, der auf horizontaler, genauer: der Ebene der europäischen Hofkultur weitaus mehr Durchlässigkeiten kennt, als auf vertikaler Ebene innerhalb des eigenen Kultur- bzw. Staatsraumes.

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Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert?

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Wenn man von den vorgestellten Beiträgen zum anzuzeigenden Sammelband ausgeht, dann lässt sich zunächst festhalten, dass sowohl die ›Aufrichtigkeit‹ als auch die ›Kunst der Aufrichtigkeit‹ sinnvoller Weise nur als Kollektivsingulare zu verstehen sind. Zu fragen ist daher erstens, was man möglicherweise erwarten kann oder erwartet hätte hinsichtlich der (Er-)Klärung der Aufrichtigkeiten vor der Lektüre des Bandes und zweitens, inwiefern das Anliegen der Herausgeber, das sie mit dessen Publikation verfolgen, eingelöst wird.

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Zuerst zum Anliegen der Herausgeber. Deren Ziel ist es, die vermeintlich harte Grenze zwischen dem Zeitalter des Barock und dem der Aufklärung durchlässiger zu machen und an die Stelle von klaren Oppositionen ambivalente Wechselverhältnisse zu setzen, die den historischen Gegebenheiten Rechnung tragen. Dabei sind jedoch zwei Probleme der Literaturgeschichtsschreibung in Rechnung zu stellen, die allerdings nur implizit verhandelt werden.

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Denn zum einen klafft zwischen dem Barockzeitalter und dem Zeitalter der Aufklärung eine literaturgeschichtliche Lücke von ca. 50–60 Jahren, d.h. zwischen 1670 und 1730, die bis dato nicht wirklich sinnfällig gefüllt wurde und auf die einzelne Beiträge des Bandes auch explizit Bezug nehmen. Wie die Beiträge von Barner, Niefanger, Osterkamp und Stöckmann klar herausstellen, findet sich um 1700 eine literaturhistorische Gemengelage, die weder eindeutig als ›barock‹ noch als ›aufklärerisch‹ gekennzeichnet werden kann, so dass die anvisierte Durchlässigkeit von Barock hin zu Aufklärung nur die historische Situation um 1700 rekonstruiert, ohne sie jedoch umfänglich zu konturieren. Zum anderen zeigt ein Blick auf einen Klassiker der Literaturgeschichtsschreibung zur Frühaufklärung, Paul Hazards Crise de la conscience européenne, dass die behauptete Demarkationslinie zwischen Barock und Aufklärung allenfalls – und nicht einmal das – einen deutschen Sonderfall darstellen könnte, da die Übergänge zwischen beiden Epochen mehr von gegenseitigen Verhandlungen geprägt sind und weniger von scharfen Abgrenzungen. Erst in der Hochaufklärung, d.h. ab ca. 1740, werden die Grenzen schärfer gezogen, während die Frühaufklärung selbige noch gar nicht kennt.

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Damit tritt ein weiteres Problem in das Blickfeld, dasjenige der deutschen, besser: germanistischen Aufrichtigkeit. Wie die Studien zur spezifisch ›teutschen Aufrichtigkeit‹ von Klaus Garber und Ingo Stöckmann aber auch die Beiträge zur Aufrichtigkeit als im weiten Sinne verstandenen rhetorischem Distinktionskriterium von Heidrun Kugeler, Wilfried Barner, Dirk Niefanger, Ernst Osterkamp und Marie-Thérèse Mourey augenfällig zeigen, existiert die Aufrichtigkeit immer nur in Abgrenzung zu als spezifisch sozial oder national verstandenen Qualitäten eines Einzelnen oder einer (Sprachen-) Gemeinschaft. In nicht wenigen Fällen, dies verdeutlicht auch der epochale und nationale Grenzen außen vor lassende Beitrag von Lutz Danneberg, handelt es sich bei den Aufrichtigkeitsreflexionen um diskursive (im Sinne Foucaults) oder raumspezifische (im Sinne Bourdieus) Diskussionen des Konzepts, das gerade keine Grenzen kennt außer denjenigen des Diskurses oder der Raumes. Ein Band zur Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert kann folglich insbesondere dann gewinnen, wenn er die Überlegungen zur Aufrichtigkeit, sie mag ›sincerité‹, ›sincerità‹ oder ›sincerity‹ heißen, mit einbezieht und für die eigene Diskussion fruchtbar macht. Neben den eingangs genannten La Rochefoucauld und Madeleine de Scudéry hätten sich sicherlich auch Denker wie Torquato Acetto über eine Teilhabe am Gespräch gefreut, zumal sie einiges Interessantes zu sagen haben.

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Diese Exklusivität der germanistischen Aufrichtigkeit zeitigt indes gelegentlich Nachteile und zwar insbesondere dann, wenn denn in den Aufsätzen doch einmal auf die meist französischen Referenzstellen Bezug genommen wird. So liest man gelegentlich Aussagen zur Kultur von ›la cour et la ville‹, bzw. genauer: zur Préciosité und der (vermeintlichen) Repräsentantin Madeleine de Scudéry, die weder der historischen Situation noch der aktuellen Forschung zu dieser entsprechen. Geboten werden stattdessen altbekannte Plattitüden, die es eher zu hinterfragen gilt, denn unhinterfragt zu reproduzieren. Eine positive Ausnahme stellt hier die Studie von Stephanie Wodianka dar, die in ihrem Beitrag zum »Silberblick der Erbauung« die französische Situation im 17. Jahrhundert im Bereich der Erbauung kenntnisreich beschreibt.

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Fazit

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Was lässt sich über den Band als Ganzes sagen? Der Fokus auf die Aufrichtigkeit als einem in der germanistischen Frühneuzeitforschung eher unterbeleuchtetem Konzept verspricht einen Zugang zu einer Vielzahl von ästhetischen, sprachphilosophischen bzw. rhetorischen, soziokulturellen und künstlerischen Problemstellen, bei denen es einerseits um die Evidenz der Darstellung, andererseits um die Integrität und Authentizität des Darstellers geht. Die Beiträge bieten in recht unterschiedlicher Weise Antworten auf diese historischen Probleme bzw. Problemstellungen, wobei sich bei der Lektüre ein weiteres, eher aktuelles Problem bemerkbar macht, das von der Kunst der Aufrichtigkeit einen Ausgang nimmt, ohne allein von dort auszugehen. In manchem der Beiträge lässt sich ein deutlicher Vorbehalt gegen kulturwissenschaftliche Analysen festhalten, die der philologischen Praxis, vulgo: der genauen Textlektüre keinen Platz mehr geben. Und in der Tat sind vor allem die kursorischen Lektüren, die eher weite Themenfelder bzw. ›Diskurse‹ abschreiten und dabei gelegentlich einen Blick auf die Aufrichtigkeit schweifen lassen, diejenigen, nach deren Lektüre man gelegentlich ahnungslos zurückbleibt, da nicht deutlich wird, was der Beitrag mit dem historischen Thema des Bandes zu tun hat. Hingegen sind gerade diejenigen Studien, die einen Text, einen Autor oder aber ein Thema exemplarisch auf die zugrunde gelegte Frage nach der Kunst der Aufrichtigkeit hin untersuchen besonders ergiebig und zeigen zugleich, wie philologische Praxis und kulturwissenschaftliches Denken produktiv zusammen kommen können.

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Bleibt die Frage, was vom Bande bleibt – aufrichtig gesagt, einige sehr gute Aufsätze zu einem weiterhin spannenden Forschungsgebiet.