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Faszinosum 'Künstlicher Mensch'

Utopie oder Horrorszenario?

  • Eva Kormann / Anke Gilleir / Angelika Schlimmer (Hg.): Textmaschinenkörper. Genderorientierte Lektüren des Androiden. (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 59) Amsterdam, New York: Rodopi 2006. 253 S. 4 Abb. Hardback. EUR 55,00.
    ISBN: 90-420-1778-3.

Inhalt des Sammelbandes

Anke Gilleir (Leuven), Eva Kormann (Karlsruhe), Angelika Schlimmer (Bielefeld): Genderorientierte Lektüren des Androiden. Eine Einführung (S. 7–20)

Rudolf Drux (Köln): Männerträume, Frauenkörper, Textmaschinen. Zur Geschichte eines Motivkomplexes (S. 21–34)

Jutta Eming (Berlin): Schöne Maschinen, versehrte Helden. Zur Konzeption des künstlichen Menschen in der Literatur des Mittelalters (S. 35–46)

Britta Herrmann (Bayreuth): Das Geschlecht der Imagination: Anthropoplastik um 1800 (S. 47–72)

Eva Kormann (Karlsruhe): Künstliche Menschen oder der moderne Prometheus. Der Schrecken der Autonomie (S. 73–90)

Carola Hilmes (Frankfurt/M.): Literarische Visionen einer künstlichen Eva (S. 91–104)

Marianne Vogel (Groningen): »Einfach Puppe!« Die Wachspuppe in der Wirklichkeit und in der Imagination in Romantik und Moderne (S. 105–115)

Annette Bühler-Dietrich (Stuttgart): Zwischen Belebung und Mortifizierung: Die Puppe im Briefwechsel zwischen Rilke und Lou Andreas-Salomé (S. 117–132)

Gudrun Wedel (Berlin): Kunst – Gefühl – Kommerz: Puppen in der Autobiographie von Käthe Kruse (1883–1968) (S. 133–144)

Cathy S. Gelbin (Manchester): Das Monster kehrt zurück: Golemfiguren bei Autoren der jüdischen Nachkriegsgeneration (S. 145–159)

Birte Giesler (Sydney): Phantasmen der Prokreation im Kontext der neuen Reproduktionstechnologien – Utopischer Raum für neue Konzepte von Gender und Autorschaft? – Carl Djerassis Komödie Unbefleckt (S. 161–174)

Tanja Nusser (Greifswald): Reproduktive Un-/Ordnungen. Überlegungen zu kulturellen Darstellungen biomedizinischer und kybernetischer Reproduktion (S. 175–185)

Frank Degler (Karlsruhe): Scheintod. Das Spiel mit den digitalen Körpern (S. 187–197)

Elke Brüns (Berlin): Matrix: Erlösung von Körper und Geschlecht? (S. 199–208)

Claudia Gremler (Bath): Androiden und (Anti)feminismus in The Stepford Wives (S. 209–223)

Silke Arnold-de Simine (Mannheim): Ich erinnere, also bin ich? Maschinen – Menschen und Gedächtnismedien in Ridley Scotts Blade Runner (1982/1992) (S. 225–242)

Florentine Strzelczyk (Calgary): Maschinenfrauen – Sci-Fi Filme: Reflektionen über Metropolis (1926) und Star Trek: First Contact (1996) (S. 243–253)

[1] 

Der vorliegende Sammelband Textmaschinenkörper beschäftigt sich mit dem Thema des artifiziell konstruierten Menschen anhand seiner Darstellung »in literarischen, filmischen und digitalen Texten« (S. 7). Dabei eröffnen die sechzehn Beiträge eine Perspektive auf das Thema, die vom Mittelalter (Jutta Eming) bis zur Jahrtausendwende zum 21. Jahrhundert reicht (Birte Giesler; Tanja Nusser; Frank Degler u.a.m.). Durch den zugrundeliegenden, weit gefaßten Textbegriff werden auch neuere Medien wie Film und Computerspiel einbezogen, so daß vor allem in der zweiten Hälfte des Bandes eine außerordentliche Aktualität erreicht wird.

[2] 

Die methodische Ausrichtung der Beiträge, deren Analysen als »genderorientiert« bezeichnet werden, stellten in Bezug auf das Motiv des künstlichen Menschen, so Klappentext und Vorwort des Bandes, ein Desiderat innerhalb der Forschung dar. Und tatsächlich beschäftigen sich Arbeiten jüngeren Datums innerhalb der Gender Studies zwar mit dem Zusammenhang von Körper und Geschlecht sowie der Konstruktion beider unter wechselseitiger Einflußnahme vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Realitäten. Diese beziehen sich jedoch nur auf den natürlich entstandenen Körper und seine Darstellung in Kunst und Literatur, 1 während die umfangreiche Literatur zum künstlichen Menschen (auf welche die Beiträge im vorliegenden Band auch zahlreich verweisen) nicht von der Warte der Gender Studies aus argumentiert.

[3] 

Körper und Gender

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Der Körper allerdings stellt per se ein für die Gender Studies unumgängliches Thema dar, ist er doch sichtbarer Ort des Geschlechterdiskurses und seiner unmittelbaren Zuschreibungen. 2 Die Frage nach der Unterscheidbarkeit von biologischem und gesellschaftlichem Geschlecht wird am Problemfeld des künstlichen Körpers um eine Dimension erweitert und gewinnt damit an Komplexität. Denn die Spiegelungen des als ›natürlich‹ postulierten Geschlechts im künstlichen Körper legen die Konstruktion der Geschlechtszuschreibungen als künstliche bloß und geben die Struktur dieser gewaltsamen Zuordnungen frei, indem sie den Akt der Zuschreibung selbst, im Fall des künstlichen Körpers als Akt der Erschaffung des Körpers als ganzem, inszenieren. Vor allem die künstliche Frau und ihre Attribuierungen stehen symbolisch für die gesellschaftlichen Zuschreibungen, die die Wünsche einer patriarchalisch organisierten Gesellschaft produzieren, um sie dann als natürliche auszugeben. Dieser strukturelle Mechanismus wird in den untersuchten Texten durch den täuschend echten Androiden versinnbildlicht.

[5] 

Der künstliche Mensch im Spannungsfeld
von Macht und Herrschaft

[6] 

Eine diachrone Perspektive eröffnet das Motiv des künstlichen Menschen in der Literatur dadurch, daß seine strukturelle Anlage Konstanten aufweist, die ihn als Codierung anthropologischer oder gesellschaftlicher Phänomene ausweist. So scheint es zwei zentrale Topoi zu geben, die sich hinter den Androiden in der Literatur verbergen. Zum einen ist es der Wunsch nach Herrschaft, der sich zumeist bereits in Rollenverteilung und dadurch entstehendem speziellen Verhältnis von männlichem Schöpfer zu seinem (weiblichen) Geschöpf ausdrückt, zum anderen die Angst vor der unkontrollierbaren Weiblichkeit, deren Kern die entfesselte weibliche Sexualität ist und die in Form einer künstlichen Frau als Feind oder Bedrohung dargestellt wird. Einen Überblick bietet der summarisch angelegte Beitrag von Rudolf Drux, der das Motiv des künstlichen Menschen bis zu Homer zurückverfolgt, allerdings nicht besonders weit ins 20. Jahrhundert vordringt. Er steht den übrigen Beiträgen gleich einer zweiten Einführung voran, die souverän aus einer breiten Kenntnis der Materialbasis schöpft, den Aspekt der Genderforschung allerdings nicht weiter beleuchtet.

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Gab es im 17., 18. und noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der (natur-)wissenschaftlichen Forschung und infolgedessen auch in der Literatur eine konstante Vision einer Geburt außerhalb des weiblichen Körpers, 3 so wird rückt diese am Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem aber im Laufe des 20. Jahrhunderts in greifbare Nähe. Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, sind wir an einem Punkt, an dem die ersten künstlich gezeugten Menschen ihre eigenen Nachkommen zeugen. Dennoch oder gerade mit der Realisierbarkeit künstlicher Befruchtung, die auch die Möglichkeit der Zeugung von Embryonen außerhalb der Gebärmutter einer Frau nicht mehr als Utopie oder Science-Fiction-Vision erscheinen läßt, ist dieses Thema nach wie vor virulent, jetzt aber unter anderen Vorzeichen. In früheren Jahrhunderten war der Traum der männlichen Geburt durch den Wissenschaftler der Traum einer Ermächtigung über die Natur, die ja in der Tradition der europäischen Geistesgeschichte immer mehr mit der Frau oder mit Weiblichkeit schlechthin gleichgesetzt und dadurch analog dem damaligen Frauenbild in eine inferiore Rolle gedrängt wurde – eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt im 18. Jahrhundert erlebt.

[8] 

Dieser Traum ist also gleichzeitig der Traum der Beherrschung des weiblichen Geschlechts und damit der endgültigen Vorherrschaft des Mannes, der nun sogar die ›Produktion‹ von Nachkommen über den Zeugungsakt hinaus alleine bewerkstelligen kann. Mit der Zeugung der ersten Retortenmenschen ist allerdings ein neues Problembewußtsein entstanden, das sich auch in Literatur und Film niederschlägt. Die neu entstandenen Probleme sind sozialer und gesellschaftlicher Natur. Fragen wie die des familiären Umgangs mit außerhalb der Familie und ihren Strukturen entstandenen Nachkommen oder der ›Urheberschaft‹ solcher Kinder, mithin also der Vaterschaft im sozialen und der Autorschaft im wissenschaftlichen Sinn zugleich, bis hin zur Frage der Unterscheidbarkeit von künstlichem und ›natürlichem‹ Menschen und ihrer Kriterien werden zu zentralen Fragen.

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Die Potenz
der Einbildungskraft

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Den sich im künstlichen Menschen manifestierenden Wunsch nach Herrschaft beleuchten erkenntnisreich die Beiträge von Britta Herrmann und Eva Kormann. Britta Herrmann untersucht in diesem Zusammenhang die »Imagination als ambivalente Kraft« (Herrmann, S. 47), die vor allem für die Aufklärer einer starken Führung durch die Vernunft bedarf, um nicht zu einer unkontrollierbaren und damit gefährlichen Macht zu werden. In diesem zwiespältigen Verhältnis spiegelt sich auch das angespannte Verhältnis von Wissenschaft und Kunst, die sich beide der Einbildungskraft als produktivem Grundvermögen bedienen möchten. Dabei reicht der Gedanke der realen Produktivität der vis imaginativa weit zurück und wird besonders an der schwangeren Frau schon seit Paracelsus häufig diskutiert. Die Einbildungskraft, besonders wenn sie wie im Fall der Schwangeren von einer Frau und damit von einem nach zeitgenössischer Auffassung tendenziell schwachen und vernunftfernen Wesen reguliert werden soll, hat hier die fatale Fähigkeit, sich mißbildnerisch oder gar monströs auszuwirken.

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Trotz der umfangreichen Literatur zur Einbildungskraft eröffnet Herrmann hierbei eine neue Perspektive darauf, wie über das Medium der Einbildungskraft die männliche Potenz und Zeugungskraft in Verbindung gebracht wird mit der schöpferischen Kraft des Künstlers. An dieser Stelle berühren sich Kunst und Wissenschaft in ihrem Interesse, die männliche Potenz in jeder Hinsicht zu profilieren, was innerhalb der künstlerischen Darstellung den künstliche Menschen schöpfenden Wissenschaftler, wie ihn Frankenstein verkörpert, zur konsequenten Folge hat. Somit ist die Geschichte des Androiden sowohl im medizintheoretischen als auch im kunsttheoretischen Diskurs vordringlich verknüpft mit dem Ziel, die Reproduktion des Menschen unter Ausschluß der Frau zu bewerkstelligen. Herrmann bezieht sich in ihrer Betrachtung auf zeitgenössische einschlägige theoretische Texte, die sie souverän mit literarischen Beispielen unterfüttert und gleichzeitig auf die Konstruktion von Geschlechtszuschreibungen untersucht.

[12] 

Künstlicher Mensch
und autonomes Subjekt

[13] 

Eva Kormann beleuchtet unter dem Aspekt des autonomen Subjekts im Konzept des romantischen Individualismus Mary Shelley, Frankenstein (1818), E.T.A. Hoffmann, Der Sandmann (1816) und Auguste Villiers de L’Isle-Adam, L’Ève future (1886). Die drei Texte, die allesamt zum Bereich der Schauergeschichten gezählt werden können, dienen Kormann als Indiz für ein frühes Aufscheinen dessen, was für die Zeit um 1900 als ›Krise des Individuums‹ bezeichnet wird. Die Erschaffung eines künstlichen Menschen, die den »Höhepunkt [ihrer] literarischen Auseinandersetzung« (S. 75) in der Zeit um 1800 hat, sieht Kormann in engem Zusammenhang mit den Autonomiebestrebungen dieser Zeit: »Diese Häufung künstlicher Lebewesen im schauerlichen Genre und nach 1800, in der Hoch-Zeit des bürgerlichen, männlichen, europäischen-autonomen und schöpferischen Subjekts, ist, so meine These, kein Zufall: [...] sie ziehen die letzte Konsequenz aus den titanischen, prometheischen Konstruktionen von einem autonomen Subjekt.« (S. 76)

[14] 

Dabei betont Kormann einleuchtend, wie die angestrebte totale Autonomie dem Subjekt selbst zum Verhängnis wird. Losgelöst von jeder sozialen Bindung und damit einem möglichen Korrektiv strebt es rücksichtslos dem einen Ziel entgegen: der totalen Macht, die in der Macht über Leben und Tod eindrücklich versinnbildlciht wird. Daß dieser Anspruch einhergeht mit einer ver-rückten und dadurch potentiell gefährlichen Wahrnehmung, zeigt Kormann einleuchtend anhand einer Analyse des Augen-Motivs in Hoffmanns Sandmann. So führt die Erschaffung künstlicher Menschen in allen drei Fällen nicht zu völliger Autonomie, sondern vor allem zu Einsamkeit und Tod; die Selbstinszenierung des prometheischen Subjekts scheitert letztendlich (vgl. S. 89).

[15] 

Sich verändernde Vorzeichen
von Natur und Technik

[16] 

Gerade vor dem Hintergrund des technischen Fortschritts nicht nur in der Biologie und besonders der Reproduktionsmedizin ist mit der Jahrhundertwende nicht mehr die Natur das bedrohliche und zu bekämpfende Gegenüber des männlichen Protagonisten. Sie wird immer mehr abgelöst von genau den Strategien, die zuerst ersonnen wurden, um die Natur zu beherrschen, nun aber eine bedrohliche Dynamik entwickelt haben und selbst zu dem Feind zu werden drohen, den sie einst bekämpfen sollten. In der Literatur zeigt sich dieser Wandel deutlich an den künstlichen Frauenfiguren. Noch im 19. Jahrhundert sind sie konzipiert als ihren natürlichen Geschlechtsgenossinnen gegenüber erfreulich brav und anpassungsfähig an die Bedürfnisse und Vorstellungen des männlichen Partners. Als deren eindrücklichstes Beispiel kann Olimpia in Hoffmanns Sandmann gelten:

[17] 
Eine Maschinen-Frau als Liebesobjekt scheint so der größtmöglichen Kontrolle durch ihren männlichen Schöpfer zu unterliegen, schließlich unterliegt ihr Funktionieren einem »maschinalen Zwangszusammenhang«. Olimpia ist im »Sandmann« zunächst ein von Nathanaels Phantasie abhängiges Geschöpf, er kann ihren kargen Wortschatz und ihren leeren, den Betrachter spiegelnden Blick nach seinen narzisstischen Wünschen auslegen. Sie wird zu seiner Wunschmaschine. (S. 84)
[18] 

Künstliche Frauen dienen als Projektionsfläche für die Selbstbespiegelung des Mannes, wenngleich diese Phantasie auch häufig ironisch unterlaufen wird oder aber mit dem Tod eines oder mehrerer Beteiligter endet (vgl. E.T.A. Hoffmann, Der Sandmann und Auguste Villiers de L’Isle-Adam, L’Ève future). Dieses immanente Unbehagen, das auch schon die früheren Texte durchzieht, gewinnt um die Jahrhundertwende Gestalt in Form einer bedrohlichen künstlichen Frau, wie sie paradigmatisch Fritz Langs Film Metropolis zeigt.

[19] 

Die hierbei stattfindende chiastische Verschränkung der Motive Technologie und Sexualität sowie der Angst vor beiden zeigt Florentine Strzelcyk auf. Sie untersucht vergleichend die Filme Metropolis (1926) und Star Trek: First Contact (1996) und arbeitet dabei für die relativ weit auseinanderliegenden Entstehungsdaten verblüffende Ähnlichkeiten in der Darstellung der Maschinenfrau, hier wie auch sonst häufig im Band als ›Cyborg‹ bezeichnet, heraus: »Was [...] auffällt, ist, welche enormen Veränderungen in technischer und ästhetischer Hinsicht das Genre erfahren hat, während gleichzeitig bestimmte ideologische Tangenten in gleichsam ahistorischer Weise konstant geblieben sind. Darunter sind am auffälligsten Repräsentationen der Maschinenfrau oder des weiblichen Cyborgs« (S. 243). Dieser Repräsentation der weiblichen Androiden liegt eine Verdrängung des biologisch Weiblichen zugrunde – die Reduktion der »echten« Maria auf ihre asexuelle Mütterlichkeit in Metropolis stellt eine Variante dieser Verdrängung dar. Gleichzeitig mit der Tilgung der Weiblichkeit aus den biologischen Frauen wird diese auf die künstliche Frau übertragen, die nun als Verkörperung männlicher Ängste sowohl vor unkontrollierter weiblicher Sexualität als auch vor unkontrollierbarer Technik fungiert. Die Androide ist nun nicht mehr das Produkt eines männlichen Schöpfers, sondern ein bedrohlicher Gegenspieler.

[20] 

Neben der Entwicklung von der Herrschaftsphantasie und Apotheose zur Furcht vor den eigenen technischen Errungenschaften läßt sich aber eine weitere Entwicklung ausmachen, welcher der Band mit seinen Beiträgen ebenfalls Rechnung trägt. Es ist die Verlagerung der Bedrohung von innen nach außen. Schon den frühen Texten zum künstlichen Menschen ist die Reflexion auf das schöpferische Potential immanent. Sie beleuchtet die prometheischen Phantasien des Menschen im Spannungsfeld zwischen Fortschritt und Hybris, wissenschaftlicher Neugier und Wahn, und trifft damit auch genau die Schattenseiten, die im Konzept des Genies immer schon mitgedacht werden: die Nähe von Genie und Wahnsinn, das freiheitsliebende, damit aber auch unbändige und im Grunde nicht gesellschaftsfähige Potential des Genies, seine Egozentrik und – vor allem für die Kunst um 1800 ein zentrales Thema – die Tendenz, im Zuge der Installierung des alternativen Wertesystems der Kunst das der Religion abzuschaffen und damit verbunden eine Moral und Weltanschauung infrage zu stellen, die den Schöpfungsakt im eigentlichen Sinn nur dem allmächtigen Gott des Christentums zuschreibt. Dem tritt aber eine Reflexion der Gefahren des technischen Fortschritts um jeden Preis an die Seite, die weniger die mentalen und moralischen Voraussetzungen dieser Entwicklung in den Blickpunkt rückt, als sich vielmehr mit den (gesellschaftlichen) Auswirkungen derselben auseinanderzusetzt.

[21] 

Reproduktionsmedizin
und künstlicher Mensch

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Ein aktuelles Beispiel für diese Auseinandersetzung ist Carl Djerassis Komödie Unbefleckt, die der Beitrag von Birte Giesler untersucht. Djerassi verknüpft auf kritisch-ironische Weise die aktuellen Entwicklungen der Fortpflanzungsmedizin mit der Frage nach Autor- und Vaterschaft. Dabei greift er alte Geschlechterklischees wie die Zuordnung von Wissenschaft zu Männlichkeit auf, die sich als gar nicht so überholt herausstellen. Giesler zeigt auf, wie die Figur der modernen Wissenschaftlerin und ihr Kinderwunsch die Motive des 18. und 19. Jahrhunderts aufgreift, um sie in ihr Gegenteil zu verkehren. Waren es in den vergangenen Jahrhunderten die männlichen Forscher, die sich das Embryonenwachstum außerhalb des weiblichen Körpers zum Ziel machten, so ist es hier die weibliche Wissenschaftlerin, die die Zeugung ohne den Mann praktiziert. Zugleich wird aber deutlich, daß gerade die Diskussion um die Reproduktionsmedizin alte geschlechtsspezifische Denkmuster neu installiert, anstatt sie in Frage zu stellen. Mit der Frage nach der Autorschaft sowohl im biologischen als auch im wissenschaftlichen Sinn kehrt der Text letztendlich zurück zu den genieästhetischen Auseinandersetzungen um Urheberschaft und den Zusammenhang von Kunst und Naturwissenschaft. 4 In dieser Rückkehr zu eigentlich überholten Denkmustern, so Giesler, »verweist das Geschehen [...] gleichermaßen auf den logozentrischen Irrwitz, die Emanzipation vom Körper zu postulieren, wie auf die Unhintergehbarkeit von Kultur. [...] Natur und Kultur erscheinen gleichursprünglich.« (Giesler, S. 174).

[23] 

Die gesellschaftlichen Implikationen werden ebenfalls gestreift, wenn im Beitrag von Frank Degler zu einem der populärsten Computerspiele der letzten Jahre, Tomb Raider, der Umgang mit dem Tod untersucht wird, der hier nur als vorübergehender Zustand besteht, den man durch Laden des letzten gespeicherten Spielstands zu einem temporären Phänomen auf Widerruf erklären kann. An diesem Punkt wird wieder virulent, was eine Vielzahl der Beiträge als klassisch für Texte um den künstlichen Menschen aufgezeigt haben: die Herrschaft des Schöpfers über das erschaffene Geschöpf. In diesem Fall sind lediglich die Rollenverteilungen andere, denn der Spieler wird zum Schöpfer für die Dauer des Spiels, der ähnlich dem Rabbi Löw, dem Schöpfer des aus Lehm geformten Golem in der jüdischen Kabbala oder gleichsam wie Frankenstein das Geschick des künstlichen Menschen in Händen hält und dessen Belebung, Wiederbelebung oder endgültige Auslöschung durch Beenden des Spiels gottähnlich bestimmt.

[24] 

Perspektivenvielfalt

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Insgesamt bietet der Band Textmaschinenkörper einen breit angelegten Einblick in die Geschichte des Androiden in der Literatur, dennoch überschneiden sich viele der Beiträge bezüglich der behandelten Texte und Motive (E.T.A. Hoffmanns Sandmann, der Film Matrix, der Pygmalion- sowie der Frankenstein-Mythos). Zwar werden so teilweise stark differierende Perspektiven auf einzelne Texte geworfen, dies kann aber nur einhergehen mit einer trotz der großen Zeitspanne recht eingeschränkten Auswahl. Auch bleibt der methodenspezifische Erkenntnisgewinn der genderorientierten Lektüre zuweilen unklar, da einige der (eher allgemeinen) Einsichten in bestimmte Strukturen der Geschlechterverhältnisse so oder ähnlich auch schon von Klaus Theweleit in seinen Bänden Männerphantasien formuliert worden sind. 5 Dieses Manko wird allerdings ausgeglichen durch eine Reihe von Beiträgen, die sich eher abgelegeneren Themen annehmen wie zum Beispiel Marianne Vogel (die Wachspuppe in der Romantik und der Moderne) oder Annette Bühler-Dietrich (die Puppe im Briefwechsel zwischen Rilke und Andreas-Salomé).

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Die Beiträge können die Frage nach dem künstlichen Menschen zwar nur partiell erschließen, eröffnen vielleicht aber gerade durch ihre Heterogenität und tendenzielle Unabgeschlossenheit Perspektiven auf einen Themenkomplex, der bis jetzt nur wenig erschlossen ist. Dabei liegt die Stärke des Bandes nicht nur in der neuen Lektüre der Texte aus dem 19. Jahrhundert, die teilweise gewohnte Interpretationsmuster aufbrechen und damit einen anderen Fokus auf die Texte werfen. Sie besteht auch und gerade darin, Anschluß an aktuelle Diskussionen zu finden.

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In der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Filmen und Texten, die sich mit virulenten Themen wie Reproduktionsmedizin und künstlichem Menschen befassen, zeigt sich das Potential der Genderforschung besonders deutlich, da sie die Struktur dieser Diskussionen und ihrer Argumente freilegt und damit eine weitere kritische Sichtweise im Umgang mit den neuesten technologischen Entwicklungen eröffnet bis hin zur Frage nach der Unterscheidbarkeit von natürlichem und künstlichem Menschen in Silke Arnold-de Simines Beitrag zur Funktion von Erinnerung in bezug auf menschliche Identität. Trotz einiger Schwachstellen und sowohl thematisch als auch qualitativ sehr disparaten Beiträgen bietet der Band somit insgesamt einen guten Überblick über das Motiv des künstlichen Menschen und gleichzeitig über die Arbeitsweise der Gender Studies.

 
 

Anmerkungen

Vgl. ZFG / ZFS (Hg.): Körper und Geschlecht. Opladen 2002 sowie Franziska Frei Gerlach u.a. (Hg.): Körperkonzepte / Concepts du corps. Münster u.a. 2003.   zurück
Vgl. hierzu: Irmela Marei Krüger-Fürhoff: »Körper«. In: Christina von Braun / Inge Stephan (Hg.): Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien. Köln, Weimar, Wien 2005, S. 66–80.   zurück
Als prominentestes Beispiel innerhalb der deutschsprachigen Literatur kann die Entstehung des Homunculus im Reagenzglas in Goethes Faust II gelten – ein Produkt der naturwissenschaftlichen Forschungen und Versuche Fausts und Wagners, die in gewisser Weise eine frühe In-Vitro-Fertilisation erproben   zurück
Vgl. Giesler, S. 172.   zurück
Klaus Theweleit: Männerphantasien. 2 Bände. Frankfurt/M. 1977 und 1978, auf den auch mehrere Beiträge explizit verweisen. Gemeint sind v.a. Feststellungen wie: »die Frau – die künstliche zumal – darf zwar das Objekt und soll der willige Spiegel erotischer Wünsche sein; als Subjekt eines eigenen Liebesverlangens aber wird sie bedrohlich« (S. 71); »Die ideale Frau ist die ewige Verführerin« (S. 91) u.a.m.   zurück