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Keine Zaubertinte und kein Wunderblock

  • Susanne Strätling / Georg Witte (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift. München: Wilhelm Fink 2006. 231 S. 46 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 3-7705-4250-9.
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In den letzten Jahren kam es zu einer Steigerung des wissenschaftlichen Bewusstseins für Materialität von Literatur in unterschiedlichen Ausprägungen. Im Rahmen dieser Konjunktur sind einige literaturwissenschaftliche Beiträge zur Bedeutung von Schrift erschienen. 1 In diesem Zusammenhang ist der Anfang 2006 erschienene Band zur Sichtbarkeit der Schrift zu sehen, der auf eine von der Herausgeberin und dem Herausgeber organisierte Tagung im April 2004 in Berlin zurückgeht. 2

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Ansprüche und Einleitung

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Der Anspruch des Bandes ist, Schrift und Schriftlichkeit an ihrem »zentrale[n] Paradoxon« (S. 7), ihrer notwendigen Sichtbarkeit bei gleichzeitiger Unsichtbarkeit (zu umschreiben etwa mit ›funktionale Durchsichtigkeit‹), zu fassen und die »zweifache[ ] Dynamik aus Sichtbarkeit und Lesbarkeit« zum Ausgangspunkt von »Thesen aus Literaturwissenschaft, Medientheorie, Kunstgeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Philosophie zu diesem Doppelcharakter der Schrift« zu machen. 3

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Die Einleitung »Die Sichtbarkeit der Schrift zwischen Evidenz, Phänomenalität und Ikonizität. Zur Einführung in diesen Band« (S. 7–18) von Susanne Strätling und Georg Witte weist darauf mehrfach hin:

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Die Sichtbarkeit der Schrift wird manifest durch den Körper der Graphie. Mag sich dieser verhüllen oder, wie in der avantgardistischen Entblößungstopik, in seiner Nacktheit darbieten, immer wird er aufdringlich in den Akt des Lesens hineinragen. […] Er stört die Transitivität der Dechiffrierung, verstellt den Durch-Blick auf Latenzen, den es [sic] als distinktes Notationssystem zuallererst ermöglichen will. Noch vor signifikatorischen Leistungen sind wir damit konfrontiert, dass Schrift zuallererst »sich zeigt«, statt auf etwas zu verweisen. Sichtbarkeit der Schrift würde in diesem Zusammenhang kein sinnstabiles Lesen, sondern ein Aufmerksamwerden für die widerständigen, selbstevidenten Fakturen der Graphie provozieren. (S. 7)
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Anhand dieses Dualismus machen Strätling und Witte auch ihre Position in der Debatte um Schrift und Schriftlichkeit klar. Sie referieren die Implikationen beider Standpunkte auch vor dem Hintergrund der Differenz von Bild und Schrift in Wahrnehmung, Schriftpraxis und Theorie, um für eine theoretische Neufokussierung der Differenz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit einzutreten. Sichtbarkeit von Schrift sei dabei nicht, sondern »sie geschieht« (S. 10); betont wird also das ›Eräugnis‹ des ›Vor-Augen-Tretens‹, des reflexiven »Sich-Zeigens«.

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Aufbau

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Die Disposition des Bandes folgt der dezidiert interdisziplinären Ausrichtung der Tagung und stellt die Disziplinaritäten in drei thematischen Blöcken nebeneinander.

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Der erste Block versammelt unter dem Titel »Präsenz / Absenz« Beiträge aus philosophischer sowie aus kunsthistorischer Perspektive, die sich mit Phänomenen der Flüchtigkeit und der Spur beschäftigen und damit Begriffe der Dekonstruktion aufgreifen:

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• Dieter Mersch: Spur und Präsenz. Zur ›Dekonstruktion‹ der Dekonstruktion (S. 21–39)

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• Annette Gilbert: Ephemere Schrift. Flüchtigkeit und Artefakt (S. 41–58)

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• Karin Gludovatz: Auf, in, vor und hinter dem Bild. Zu den Sichtbarkeitsordnungen gemalter Schrift in Maerten van Heemskercks Venus und Amor (1545) (S. 59–72)

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Der zweite Abschnitt –»Optik und Operationalität der Scrift« [sic] (S. 73) – untersucht anhand historischer Beispiele graphematische Ordnungen und ihre Funktionsprinzipien:

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• Sybille Krämer: Zur Sichtbarkeit der Schrift oder: Die Visualisierung des Unsichtbaren in der operativen Schrift (S. 75–83)

[15] 

• Werner Kogge: Elementare Gesichter: Über die Materialität der Schrift und wie Materialität überhaupt zu denken ist (S. 85–101)

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• Gernot Grube: Rückseite der Sichtbarkeit. Zur operativen Revolution der elektronischen Schrift (S. 103–118)

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• Stefan Rieger: Die Gestalt der Kurve. Sichtbarkeiten in Blech und Draht (S. 119–138)

[18] 

• Sven Spieker: Die Poetik des Anti-Denkmals: Schriftskepsis, Registratur und graphische Methode (S. 139–152)

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Unter dem Überbegriff »Schrift-Schau« fasst der dritte Block schriftinterpretatorische Beiträge zu konkreten Schriftmaterialisationen in der russisch- und deutschsprachigen Literatur zusammen:

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• Susanne Strätling: Gezeigte Zeichen. Schriftwunder zwischen Epiphanie und Elektrizität (S. 155–171)

[21] 

• Georg Witte: Das Gesicht des Gedichts. Überlegungen zur Phänomenalität des poetischen Texts (S. 173–190)

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• Aleida Assmann: Wenn Buchstaben zu Bildern werden (S. 191–202)

[23] 

• Bettine Menke: Der Witz, den die Lettern und den die Löcher machen, .... (S. 203–215)

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Details

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Dieter Mersch unternimmt selbstbewusst und ironisch den Versuch, dekonstruktive Praxen einer weiteren Stufe der ›Dekonstruktion‹ zu unterziehen: als »Selbstreflexion, wohl wissend, dass sie als solche allein ihre theoretische [sic] Bestimmungen trifft, nicht ihre Praxis« (S. 21), zugleich als Versuch, unhinterfragte Implikationen und Voraussetzungen aufzuzeigen (S. 22). Mersch nimmt die von Derrida konstatierte »genuine[  Skripturalität von Wahrnehmung und Erfahrung« (S. 23) zu seinem Ausgangspunkt und verschränkt damit Zeichen- und Schrifttheorie (S. 26 f.), um über die Möglichkeiten dekonstruktiven Denkens zu reflektieren. Er liest Dekonstruktion hinsichtlich des Zeichen- und des Strukturbegriffs neu. Die »genuine Bestimmtheit« des Zeichens »als Graphem« (S. 27) dient als wohlfundierter Beweisgrund – unter den Argumenten dafür sei der Hinweis auf die lange unbeachtet gebliebenen Anagrammstudien Saussures hervorgehoben – für eine Sprachkritik, die immer schon Schriftkritik sei. Deren Einsatzort findet Mersch dann performativ bei den kanonischen Schriften der Dekonstruktion, wenn er an einem Nebenschauplatz argumentiert, »dass […] die Plausibilität der gesamten Derrida’schen Kritik der Präsenzmetaphysik sich einem Präsenzbegriff verdankt, der selbst dem Rahmen der Präsenzmetaphysik entstammt und damit im Hof seiner Präjudiz bleibt.« (S. 32) In Merschs Beitrag zeichnen sich Wege ab, Jacques Derridas Werk bis zum Spätwerk – das »um die Begriffe der ›Gabe‹, der ›Gerechtigkeit‹, der ›Gastfreundschaft‹ und der ›Alterität‹ kreist« (S. 33) –»wie eine einheitliche Schnur« (S. 36) lesbar zu machen: Ihr tertium comparationis ist gleichermaßen das »Motiv der Singularität« wie die »Figur der Paradoxalität« (S. 34 ff.).

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Annette Gilbert setzt in ihrem Beitrag zu ephemeren Schriften an transitorischen Schriftepiphanien und deren künstlerischer Inszenierung an. Der Anschluss an den vorangegangenen Aufsatz ist durch die Ereignishaftigkeit solcher Schriftphänomene und die Frage nach Präsenz und Absenz von flüchtigen Schriften im Aufbau des Bandes gewährleistet. Gilbert behandelt Schrift, die sich »auf flüchtige Materialien wie Licht, Feuer, Luft, Rauch als Schriftträger stützt, weswegen sie sich nur als performatives und nicht materialisierbares energetisches Phänomen fassen lässt« (S. 41). Ob auch flüchtigste Materialien in ihrer performativ-energetischen Verfasstheit gleich nicht materialisierbar seien, sei dahingestellt, dennoch leuchtet anhand der gewählten Beispiele die Rede von Performanz und Energie ein: Gilbert beschreibt zunächst Tanz als wichtiges Phänomen künstlerischer Äußerung um 1900 – Loïe Fullers »Tanzschrift« als »ununterbrochenen Metamorphosen unterworfene[ ] Textur bzw. Schrift aus Stoff und Licht« (S. 44) ist nicht nur Schrift in einem weiteren Sinne, sondern führt ihrerseits zu Schriften im engeren Sinne (Gilbert erwähnt hier jene Baudelaires, 4 Mallarmés, Julius Meier-Graefes und Paul Valérys) und zu vielfachen poetischen und poetologischen Reflexionen eines »erstarrten tanzes« (Stefan George), eines ephemeren augenblickhaften Erscheinens. Daran schließt die Verfasserin historische Beispiele von ebenso programmatisch flüchtigen Licht- und Flammenschriften aus der Werbung, aber auch aus der Bildenden Kunst (Cerith Wyn Evans, S. 48 ff.) bzw. als Beleg für eine »Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Symbolischen zum Performativen« Skywriting (Marinus Boezem, Dominick Capobianco, Vik Muniz, S. 51 ff.) an. Alle diese flüchtigen Schrift-Ereignisse werden – auch das eine der Pointen – mithilfe anderer Aufzeichnungsmedien (Fotographie, Videoaufzeichnung) dokumentiert.

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Historisch weiter holt Karin Gludovatz mit ihrem Beitrag zu Maerten van Heemskercks Venus und Amor aus. Das Phänomen der Signatur als Einschreibung einer »Spur des Künstlerkörpers« (S. 60) auf der Leinwand, »ihre im Verhältnis zu den malerischen Figurationen divergierende semiotische Qualität eröffnet einen semantischen Artikulationsraum, der Schrift und Bild nicht gegeneinander ausspielt, sondern ihr Verhältnis in seiner Differenz produktiv macht« (S. 61). In unterschiedlichen realen und vorgeblichen Materialisationen tritt sie vor Augen, dies ist für Gludovatz der Ausgangspunkt, um anhand des Heemskerck-Gemäldes einen »vielschichtigen Umgang mit Schrift in der Malerei, der die Sichtbarkeit des geschriebenen Wortes zur Bedingung hat, zugleich aber auch um die Möglichkeit ihrer Auflösung weiß und das Verhältnis der unterschiedlichen Medien sehr genau abzuwägen versteht« (S. 62) zu diagnostizieren. Das Gemälde bietet Anlass, unterschiedliche mythologische, bildkompositorische, flächenorganisierende Schichtungen zu extrapolieren und mit den Zeitschichtungen und Zeitschichten des Bildes in einer produktiven Differenz von Text und Bild gegenzulesen. Gludovatz zeigt auf, wie Schriftzeichen in Heemskercks Gemälde (mit dem Titel des Aufsatzes gelesen: »Auf, in, vor und hinter dem Bild«) vielfach und in vielerlei Gestalt vorhanden sind – ironischerweise auch solche, die als sichtbar-unsichtbare heute nur mehr mithilfe von Röntgenapparaten gelesen werden können.

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Den Anfang des zweiten Abschnitts macht Sybille Krämer, die sich dem Problemfeld Schrift bereits in zahlreichen anderen Beiträgen von unterschiedlichsten Seiten angenähert hat. Ihre pointierten und ebenso dicht vorgetragenen wie erläuterten »Zehn Thesen« sind zugleich ein guter Einstieg in die Forschungsliteratur wie in das umfangreiche Œuvre von Krämer selbst. Sie sind zugespitzt auf Fragen aus dem Spannungsfeld von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit und kreisen um Fragen von Schrift und Bild, Sprache und Schrift; sie fassen die Begriffsvorschläge zusammen, die Krämer andernorts vorgebracht hat und legitimieren die Schriftdebatte philosophiegeschichtlich. Auch Leerstellen und Quantifizierbarkeit im Anschluss an die Begriffe Liste, Kalkül, Zahl werden thematisiert – etwa wenn Krämer am Beispiel der Null das Potenzial der Schrift hervorstreicht, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Sinn und Unsinnliches zugleich zu zeigen und zu verbergen. Die schriftlich sichtbar repräsentierten Begriffe erweisen auch in Krämers Beitrag ihre Problematik, so tritt bspw. das Oxymoron »Binäralphabet« (S. 77 u.ö.) auf, die in These 3 stark gemachte Trennung von (gesprochener) Sprache und Schrift wird durch die Erwähnung der chemischen »Formelsprache« sogleich wieder untergraben usw. Die Selbstreflexivität und elementare Iterativität von Schrift zeigt sich auch anhand eines Selbstzitates auf Seite 81, das im Beitrag von Werner Kogge offen gelegt wird (S. 88, Anm. 13). So führt der thesenhafte Beitrag in seiner Kürze vom Allgemeinen zum Allgemeinen und reproduziert in Abgrenzung zu Schriftstereotypen Schriftstereotype, die noch einer tieferen Analyse bedürften.

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Werner Kogges Aufsatz zeigt nach einer klaren Zusammenfassung der Forschungslage in seinen prinzipiellen Überlegungen zur Materialität von Schrift, dass Schrift resp. »Schriftpraktiken […] eine atomare, rein differentiell konstituierte Ebene mit einer gestalthaften verbindet [sic], die sich allerdings von bildlichen Gestaltungen […] unterscheidet.« (S. 86) Dazu unterzieht der Verfasser zwei »Vorurteile«einer kritischen Revision: jenes von der Dauerhaftigkeit und Transportabilität der schriftlichen Speicherung gesprochener Worte sowie das der grundsätzlichen Linearität von Schrift (S. 88). Kogge schlägt im Vorbeigehen einen materialen und relationalen Medienbegriff vor: »Medien richten dingliche Elemente ein und stimmen sie dergestalt ab, dass durch diese Einrichtung und Abstimmung etwas ausdrückbar oder wahrnehmbar wird.« (S. 95) Die Öffnung dieses Beitrages hin zu einer Standortbestimmung des Mediums Schrift in einem medientheoretischen Überbau erweist sich als Zeichen dafür, wie weiter zu denken wäre:

[30] 
Methodologisch erweist sich die Notwendigkeit, in der Erforschung von Medien von einer naiv-ontologischen oder pseudo-physikalischen Sichtweise konsequent Abschied zu nehmen und Materialität als die Ermöglichungs- und Restriktionsbedingungen zu denken, die sich in der Praxis zeigen. (S. 98)
[31] 

In seinen Überlegungen geht Kogge nicht nur auf Praxen, Praktiken und Funktionalisierungen von Schrift ein, sondern unternimmt einen Anlauf, der unter anderem hinsichtlich design- und typographietheoretischer Problemstellungen anschlussfähig erscheint und einer schriftbewussten Literaturwissenschaft (auch 2006) noch wertvolle Anstöße zu geben vermag.

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Der Aufsatz Gernot Grubes beschäftigt sich mit einem besonderen Modus von Schriftlichkeit zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, er zeigt nämlich anhand einer sehr detaillierten Lektüre von Alan Turings On Computable Numbers (1937), des Ursprungstexts digitalen Verarbeitens schlechthin, wie unter gewissen Prämissen Turings Aufsatz so lesbar wird, dass dessen universelle Maschine als Schriftmaschine erscheint. Dies betreffe, so der Verfasser, die schriftlichen und nur schriftlich denkbaren Operationen der universalen Maschine. Konsequenz sei die Aufhebung des Zeichenkörpers und seine Ersetzung durch elektrische Signale in einer Mechanisierung des Schriftgebrauchs (S. 114). Drei grundlegende Aspekte werden in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: Schrifthandhabung, ‑sehen und ‑lesen. Das differenzierte Begriffsinventar, das Grube vorschlägt, eignet sich als Klammer über (1) ›alltäglichen‹ Schriftgebrauch, (2) die Operationen von Turings universeller Maschine und (3) ein »ausgewogene[s] Verhältnis« der drei Aspekte in Gottlob Freges »Begriffsschrift« von 1879 (S. 114 f.). Zuletzt unternimmt der Beitrag noch den Versuch, Schrifthandhabung im Horizont des »Mikroship« [sic] mit einer Lockerung der »Bindung zwischen Schrift und Auge« (S. 118) zu erklären und hypertextuelle Links als durch Berührung zu »Schriftbewegung« führende Verweise zu deuten. Dieser Abschlussexkurs nimmt dem Aufsatz allerdings etwas von seiner Eindringlichkeit: Grube reiht ohne einen klar gemachten historischen oder theoretischen Anschluss ein weiteres Schriftphänomen an und öffnet damit die Vielfalt möglicher Objekte einer Schriftlichkeitsforschung bis an die Grenze der Beliebigkeit.

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Die beiden folgenden Beiträge beschäftigen sich mit der Kurve als Form der Schrift und fügen sich so thematisch eng aneinander, in der Herangehensweise weichen sie allerdings stark von einander ab.

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Stefan Riegers Beitrag nimmt zwei Beispiele für eine »Datengeschichte des Lebens« (S. 119) zum Ausgangspunkt seiner Kurvendiskussion. Die »Versprechen der Evidenz« (S. 120) der Kurve führt er anhand der verstärkten positivistischen Datenproduktion ›selbstschreibender‹ Apparate in den Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert ein. Die Klanganalyse Fouriers konfrontiert er mit der Erfindung der Wellensirene durch Rudolph Koenig 1896, welche Töne über wellenförmig geschnittene Blechstreifen erzeugt und damit einen unerhörten Konnex schafft zwischen der Sichtbarkeit der Kurvenform und der Hörbarkeit des erzeugten Klanges. Rieger geht jedoch weiter: In einer gewagten Konstruktion bringt er den Mathematiker Fourier mit den Physikern Werner Heisenberg und Dennis Gabor und unmittelbar mit der Wellensirene und der Kurve in Zusammenhang. Die repräsentative Kausalkette des ›namedropping‹ im aufzählenden Modus (»damit«) reicht alsbald aus, um physikalische Banalitäten der 1820er-Jahre als neuen Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung vorzuführen: »Die Fourieranalyse macht diese Vielschichtigkeit handhabbar. Die Sichtbarkeit der Form wird damit relativ.« (S. 132) Mit dem zweiten Einsatz, der Schallanalyse Eduard Sievers’, kratzt Rieger die Kurve zu einer Fußnote 5 aus der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik der 1930er-Jahre und zurück zu der noch weiter zu befragenden Differenz der Schriftformen »Buchstabe« und »Kurve«. Der Einsatz, den der Verfasser aufbringt, um die Kurve als Leben und Wissen konturierenden Datentyp (S. 138) zu etablieren, ließe sich weiter- und überführen in die Arbeit an einer Wissenschaftsgeschichte, die das Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert mitbedenkt. So könnten Ordnungen des Wissens wohl profunder erklärt werden als mit dem Riegers Beitrag beschließenden missing link zwischen Kurven aus Blech und Draht: »Es scheint, als ob diese Ordnung des Wissens in der Metallverarbeitung ihr Modell gefunden hat.« (S. 138)

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Historisch an dem selben Ort und teilweise auch anhand derselben Beispiele setzt Sven Spiekers Analyse zweier Formen der Registratur – Archiv und kurvenschreibender Apparat – ein. Die bereits bei Rieger angeklungene Frage nach dem Wozu? gesammelter Daten stellt er an beide Registraturen. Hier geht er von einer Geschichte des Archivs aus, dessen Theoretiker (Spieker behandelt Ranke und Droysen) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einforderten, dieses müsse Tatsachen möglichst synchron, unvermittelt und direkt registrieren. Eine ähnliche »Poetik des Anti-Denkmals« stellt Spieker auch bei den Sphygmographen und anderen selbstschreibenden Apparaturen (appareils enregistreur[s]) etwa Étienne-Jules Mareys fest, die er (auch) als Apparate einer Kritik an der phonetischen Schrift versteht, um dem Problem gerecht zu werden, dass »Kurven […] in der Tat wenig mit der traditionellen Schrift zu tun« (S. 151) haben. 6 Soweit vermag man zu folgen. Im Detail fehlt es an Genauigkeit der Registratur Spiekers: Die Behauptung etwa, »Sektretärinnen« (S. 140) wären in den Archiven zeitgleich mit Marey, also in den 1860er-Jahren, registrierend tätig gewesen, hält einer Konfrontation mit der Sozialgeschichte dieses Berufsstandes nicht stand. 7 Dass Bürokratie und Apparat allerdings ›zusammengehen‹, stellt Spieker im Abschlussaufsatz des Blocks zur »Optik und Operationalität der Schrift«, der den Schriftbegriff bereits in Richtung des folgenden thematischen Blocks problematisch weit öffnet, überzeugend dar.

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Der dritte Teil des Bandes, »Schrift-Schau«, wird zusätzlich durch den Positionswechsel der Kolumnentitel abgesetzt. Susanne Strätling fasst die Problematik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Schrift enger und liefert Lektüren russischer Romane, in denen Szenen des Erscheinens und Verschwindens geradlinig ablesbar sind. Die herangezogenen Texte (Nikolaj Černyševskijs Was tun? Erzählungen aus dem Leben der neuen Menschen, Vladimir Nabokovs Die Gabe und The real life of Sebastian Knight) knüpfen, so Strätlings These, insofern aneinander an, als sie auf einander antwortend unterschiedliche Konzeptionen von Schriftepiphanien liefern. Nah am Text zeigt die Verfasserin unterschiedliche Motivationen von instantanen Schriftereignissen auf, der Rahmen reicht hier von Übernahmen sakraler Schriftinszenierung über spiritistische Rituale der (doppelt medial erscheinenden) Handschrift bis hin zu metaphorischer Überhöhung von flammender und elektrischer Schriftwerdung. Strätling eröffnet ein weites diskursgeschichtliches Feld rund um Spiritismus und Elektromagnetismus, allerdings ohne die beiden Phänomene näher aufeinander zu beziehen. Der einzige Hinweis ist in einer Fußnote verborgen: Bostoner Spiritisten arbeiteten in »Edward Bellamies [sic] Looking Backwards [sic] [2000–1887]« an der Fernübertragung von Musik (S. 164, Anm. 16). Davon ist in Bellamys Roman zwar nicht die Rede, 8 dass die Affinität zwischen beiden allerdings insgesamt sehr groß ist, ließe sich an Beispielen aus der einschlägigen Literatur zeigen. 9

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Georg Wittes Beitrag zum »Gesicht des Gedichts« unternimmt den Versuch, die beiden Horizonte von Schriftwahrnehmung (Lesen und Sehen) bzw. ihre medienwissenschaftlichen Implikationen (»medienvergessene[s], semiotisch konzentrierte[s] Konzept der Literarizität« und »zu medienmaterialistische[s] Konzept des Lettrismus«, S. 182) zusammenzudenken. Als Scharnier zwischen beiden setzt er in Abgrenzung zu einer totalen Selbstermächtigung des Lesers das »Gesicht« des poetischen Textes, das auch »ohne die schriftbildlichen Schaustellungen, ohne diese visuell-poetischen Nachhilfen in Sachen Schriftsehen schon gegenwärtig« (S. 173) sei. Witte unternimmt also nichts Geringeres als den Versuch, eine »phänomenale Eigenwertigkeit« (S. 174) des einzelnen Textes (er schränkt sich in seinem Beitrag auf den des einzelnen Gedichts ein) festzumachen, und dies in einer Doppelung des »Was wir sehen, blickt uns an« in Anlehnung an Georges Didi-Huberman. Das »Gesicht« wird mit großem theoretischem Aufwand eingeführt, aber in den Gedichtlektüren nur an einem Beispiel, wo der Begriff auch genannt wird, behandelt. Dies ist allerdings nur teilweise als Rücknahme des eigenen Ansatzes zu verstehen: Witte zeigt – zum Teil versteckt in komplizierten Formulierungen – beispielhaft Poetiken von vier Gedichten als mögliche Elemente einer Literaturgeschichte des geschriebenen Zeichens auf. Jeweils ein Gedicht Velimir Chlebnikovs, Marina Cvetaevas, Evgenij Kropivnickijs und Jan Satunovskijs dienen ihm als (überzeugende) Belege für grafische und über das Grafische hinaus sich zeigende und ihre »Literalität« (S. 182 ff.) ausstellende Texte, die produktiv zurückblicken. Ob das von Witte vorgeschlagene Konzept auch auf andere (etwa nicht lyrische) Texte anwendbar ist, wäre allerdings noch zu überprüfen.

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Aspekte umfangreicherer Texte berücksichtigt Aleida Assmann in dem Beitrag »Wenn Buchstaben zu Bildern werden«. Nach einem kurzen und leider nicht zu Ende gedachten Exkurs zur Ikonografie der Werbetypographie und einer Einleitung, die Bezug nimmt auf aktuelle Sichtbarkeiten von Schrift und in digitalen Schriftformaten, 10 untersucht Assmanns Hauptstück Reinhard Jirgls Roman Die Unvollendeten und die dort gepflogene Schriftverwendung. Damit schließt der Beitrag eine Lücke, die die bisherigen Lektüren des Bandes unberücksichtigt gelassen hatten: es geht darin nicht um die kleine Form, bei der unterschiedliche Modi von Schriftsichtbarkeiten übersichtlich und offen zutage liegen, sondern darum, dieselben Auffälligkeiten auch darüber hinaus sichtbar und interpretationswürdig zu machen. Jirgl verwendet für den Roman orthographische, typographische, quasi-mündliche und – nach Assmann – ikonische Besonderheiten von Schrift. Letzteres interessiert insofern, als die Verfasserin hierfür die Verwendung der Formel »O im schwarzen Wort TOD« (S. 200, zit. Jirgl S. 172) anführt, um festzustellen, dass der Buchstabe O »in Jirgls Text verschiedene Erscheinungsformen« (S. 201) hat: »Er ist ein aus dem Wort ›Tod‹ herausgeklaubter Buchstabe, der die Bedeutung eines ganzen Wortes sowohl metaphorisch darstellt als auch metonymisch verkörpert. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass dieser Buchstabe in allen von Peirce identifizierten Zeichentypen auftritt als ikonisches, symbolisches und indexikalisches Zeichen.« (S. 201 f.) Das O werde indexikalisch zur 0 (Null): »In diesem Sinne wird das O 11 zum Loch im Abguß, durch das die Zeichen mit einem letzten Wirbel für immer verschwinden. In der Form des Lochs ist der Buchstabe O kein Bild mehr […] und keine Ziffer […], sondern lediglich eine Markierung auf dem Papier.« (S. 202)

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Mit Löchern in Papier und anderen Körpern befasst sich im Anschluss daran der letzte Beitrag des Bandes, allerdings mit weit reichenden Konsequenzen. Anhand zweier kurzer Texte Heinrichs von Kleist, Der Griffel Gottes und die Anekdote aus dem letzten Kriege, beide erstmals im Oktober 1810 in den Berliner Abendblättern erschienen, führt Bettine Menke einen explizit als Witz bezeichneten und einen gewitzten Text als zugleich Schrift verhandelnd und nur im schriftlichen Modus möglich vor. Das Loch, die Leerstelle, der Statthalter oder Platzhalter in seiner »litteralen Ausführung« (S. 212) wird – so Menke – an beiden Texten sinnfällig und produktiv. In der ersten Geschichte wird ein Schriftkörper durch Blitzeinschlag – titelgebend der »Griffel Gottes« – neu geordnet bzw. ausgelöscht, sodass die Möglichkeiten anagrammatischer Schriftoperation in Analogie zur Handhabung metallener Lettern auffällt. Der zweite in extenso behandelte Text Kleists bespricht die darin als der »ungeheuerste[ ] Witz, der vielleicht, so lange die Erde steht, über Menschenlippen gekommen ist«, 12 bezeichnete Aufführung des von den Franzosen gefangen genommenen preußischen Tambours. Er bittet vor seiner Hinrichtung, »sie mögten ihn in den .... schießen, damit das F kein L bekäme« (ebd.). Dass »....« resp. »« der Schriftlichkeit bedürfen und daraus ihren spezifisch schriftlichen Witz (im Horizont der Un-/sichtbarkeit der Schrift ebenso wie in der von der Verfasserin aus Jean Pauls Vorschule der Ästhetik übernommenen zeitgenössischen Definition des Witzes) beziehen, leuchtet ein. Menke liest dann die Auslassungspunkte auch als Löcher im Text und im Papier, die auf die Profession des (rhythmisch punktierenden) Tambours hinauswiesen. Die rhetorische Ornamentik scheint fallweise über die eigentlichen Befunde etwas hinaus zu schießen, der Beitrag ist aber dennoch überzeugend – und witzig – zu lesen.

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Typographie

[41] 

Nimmt man die (teils impliziten, teils expliziten) Aufforderungen der in diesem Band versammelten Beiträge ernst, Schrift nicht als bloßes, in seiner Form sinnindifferentes Übertragungsmedium zu begreifen und auf ihre Materialität in der Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit besonderes Augenmerk zu legen, so bietet der Band reichlich Ansätze zu Kritik. Fatalerweise gibt es nämlich »keine Metaschrift über die oder über der Schrift, man ist immer schon in der Schrift, die sich auf keine geschlossene gegenständliche Form beschränken läßt.« 13 Das eingeforderte verstärkte Bewusstsein für die Schrift wäre also auch für den eigenen Text zu fordern, die Setzungen und Schreibungen als solche auch zu thematisieren. Das Leitmotiv von Schrift zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit schlägt hier insofern zurück, als die Schrift genau dort vordergründig und opak wird, wo Fehler (nicht orthographischen, typographischen Konventionen folgende Schriftverwendung) vorliegen. Jean Paul, dessen Überlegungen zum Witz im letzten Beitrag des Bandes thematisiert werden, gab bekanntlich ein Ergänzblatt zur Levana. Zweite verbesserte und mit neuen Druckfehlern vermehrte Auflage heraus. Ein solches wäre fast notwendig, um die zahlreichen Druck- und Satzfehler wiederzugeben, die für die meisten Texte eben nicht produktiv sind. 14

[42] 

Gerade an den mikrotypographischen Details an der Grenze zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zeigt sich, dass die Grundthese des Bandes ins Schwarze der ›Schwarzen Kunst‹ trifft: In mehreren Beiträgen (Krämer, Grube, Assmann, Menke) geht es um Leerstellen und Auslassungen bzw. konkreter um Auslassungspunkte von Signifikanz. Dennoch kommt erst auf Seite 212 von 215 ein ›typographisches Auslassungszeichen‹ (»«, nicht drei Punkte »...«) zur Anwendung, allerdings wiederum gleich doppelt falsch: erstens wird der im Frakturdruck um 1800 durchaus übliche Einsatz von vier gleich weit spationierten Punkten hier wiedergegeben mit dem Auslassungszeichen und einem darauf folgenden Punkt (».«), zweitens weist die Stelle aus Kleists Berliner Abendblättern, die Bettine Menke behandelt, im – drei Seiten später faksimilierten – Originaldruck nicht vier, sondern lediglich drei Punkte auf. 15

[43] 

Noch unsichtbarer und nichts desto weniger falsch gesetzt werden die anscheinend automatisiert verwendeten Ligaturen: So geraten auf der Ebene einer ›Syntax der Druckplatten‹ harmlose Sätze in den Umkreis der Blasphemie, wenn Nabokov »sich in der Au-fladung rhetorischer Rede zur Sichtbarkeitsrede der Hand Gottes« bedient. Gleichviel, wer in den Regelkreisen des Typographeums für dergleichen Lapsus ursächlich verantwortlich ist 16 – eine derart auffällige Häufung von Fehlern stört den Lesefluss und lässt den Inhalt vor der (damit allzu sichtbar gewordenen) Form zurückfallen. Letztendlich tut sich kein Verlag etwas Gutes, wenn er Texte übereilt und ungesehen/unbesehen (auch das eine Form unsichtbarer Schrift) zum Druck befördert. 17

[44] 

Fazit

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Im Gesamten ergibt sich durch die vielseitigen und – im Zusammenhang einer interdisziplinären Tagung – erwartbar disparaten Zugänge, die der vorliegende Band aufzeigt, ein facettenreiches Bild.

[46] 

Der nicht eindeutige Schriftbegriff – von sehr weit (selbstschreibende Kurve, Tanzschrift oder Universalschrift elektrischer Impulse) bis relativ eng (bei Strätling, Witte, Assmann oder Menke) reicht das Spektrum – kann positiv im Sinne einer erweiterten Aufmerksamkeit für ganz unterschiedliche Schriftfunktionen vermerkt werden. Wenig zufriedenstellend sind andere inkonsistente Verwendungen an sich längst geklärter Begriffe: So bezeichnet »Letter« einmal die Bleiletter, das andere Mal ihren Abdruck, der landläufig eher als Buchstabe bekannt ist usw.

[47] 

Weitere Anschlussmöglichkeiten für die in dem reich bebilderten Tagungsband vertretenen Disziplinen hätte die tatsächlich heute gebräuchlichste Form von Schrift eröffnet: Typographie auf der Basis von Computersatz und Offsetdruck. Hier fehlen in der bisherigen Forschung zu Schrift und Schriftlichkeit wesentliche Analyseinstrumentarien zeitgenössischen ›Schrift-Schaffens‹ und konnotativer Semantisierungen der Form der gedruckten Schriftzeichen an sich. 18

[48] 

Eine solche Analyse ist in der Einleitung angedeutet, wo die angenommene »Indifferenz der Schrift hinsichtlich ihrer Materialisierungsformen und Erscheinungsweisen« (S. 15) problematisiert wird. Die Aufmerksamkeit für Formen der Schrift wird über den gesamten Band hinweg durchaus geschärft und einer Revision unterzogen. Ein (notwendig selbstreflexiver) Akt der Analyse kleinteiliger »Materialisierungsformen und Erscheinungsweisen«, etwa nach der Forderung Werner Kogges, steht allerdings weiterhin aus:

[49] 
Dazu wird es erforderlich sein, in Bezug auf die Materialität von Schrift nicht nur die Gestalt des Einzelzeichens zu thematisieren, sondern insbesondere diejenige der überschaubaren Konfiguration, denn die Möglichkeit, Zeichen in wechselnden und veränderlichen Gruppierungen als Ganze zu betrachten und handzuhaben, dieser physiognomische Aspekt, wird sich als der charakteristische Zug des Mediums Schrift erweisen. (S. 88)
[50] 

Wenn durch die Möglichkeiten von Personal Computing und Desktop-Publishing jede und jeder prinzipiell dazu befähigt wird, mit etwas Aufwand Druckerzeugnisse herzustellen, die allerdings in vielen Fällen (auch hier) basalen Regeln des Satzes nicht entsprechen, so sollten insbesondere wissenschaftliche Verlage die Aufgaben von Lektorat und Korrektorat übernehmen und dadurch für lesbare Texte sorgen – gerade dann, wenn diese Texte von Sichtbarkeit und Lesbarkeit von Schrift handeln. Denn auch Fehler provozieren ihre eigenen Sichtbarkeiten und »kein sinnstabiles Lesen, sondern ein Aufmerksamwerden für die widerständigen, selbstevidenten Fakturen der Graphie« (S. 7). Die offensichtliche Abhängigkeit wissenschaftlicher Textproduktion von (teils fehlerhaften) Algorithmen in Microsoft Word zieht auch ein notwendiges Schrift(selbst)bewusstsein nach sich, eine Verantwortung, die die universale Ermöglichungsmaschine mit sich bringt. Durch diese Problematik bringt der Band allerdings einen Einstieg ins eigene Thema unmittelbar zur Anschauung und hat dadurch in seiner Schriftlichkeit einen Mehrwert gegenüber der Tagung.

[51] 

Im Rahmen der Tagung wurde über das im Band letztendlich zugänglich Gemachte hinaus diskutiert, auch haben dort die nicht in den Band aufgenommenen Beiträge von Florian Cramer (zu Computerpoesie), Tomáš Glanc (zu einzelnen an ihre Visualität gebundenen Texten) und Monika Schmitz-Emans (zur Notation von Lautgedichten bei Ernst Jandl) das Feld noch vervollständigt. Die Gelegenheit zur wechselseitigen Kritik wurde auch produktiv genutzt, zumindest einige Beiträge wurden in der zweijährigen Vor- bzw. Nachbereitungszeit für den Band modifiziert.

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Methodisch wie in den gewählten Themen deckt Die Sichtbarkeit der Schrift ein breites Spektrum an Zugängen ab. Die notwendig heterogenen Beiträge, die der Band versammelt, können so zusammengenommen als Einstieg in aktuellere Schriftlichkeitsforschung und als Anreiz zu weiteren Überlegungen gelesen werden – ohne die beinahe schon obligatorischen Erzählungen von Zaubertinte oder Wunderblock wieder einmal serviert zu bekommen. Dass dabei Bodenhaftung und Genauigkeit schon einmal verloren gehen können, scheint im aktuellen Wissenschaftsbetrieb durchaus in Kauf genommen zu werden. Im engeren Bereich der Schriftlichkeitsforschung ist das vordringliche inhaltliche und methodische Desiderat eine Rekonstruktion historischer Schriftpraktiken und ihrer Bedingungen. Daran hat auch das ›Erscheinen‹ der Sichtbarkeit der Schrift nichts geändert.

 
 

Anmerkungen

Zu nennen wären etwa: Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 69) Tübingen: Niemeyer 2000; Erika Greber / Konrad Ehlich / Jan-Dirk Müller (Hg.): Materialität und Medialität von Schrift. Bielefeld: Aisthesis 2002; Erika Greber: Textile Texte: Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie: Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. (Pictura & poësis 9) Köln, Wien: Böhlau 2002; Horst Bredekamp / Sybille Krämer: Bild Schrift Zahl. (Reihe Kulturtechnik) München: Fink 2003; Martin Stingelin / Davide Giuriato / Sandro Zanetti (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München: Fink 2004; Albert Ernst: Wechselwirkung. Textinhalt und typografische Gestaltung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005; Davide Giuriato / Martin Stingelin / Sandro Zanetti (Hg.), »SCHREIBKUGEL IST EIN DING GLEICH MIR: VON EISEN«. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. München: Fink 2005; Gernot Grube / Werner Kogge / Sybille Krämer (Hg.): Kulturtechnik Schrift: Graphé zwischen Bild und Maschine, München: Fink 2005; Inge Münz-Koenen / Justus Fetscher (Hg.): Pictogrammatica. Die visuelle Organisation der Sinne in den Medienavantgarden (1900–1938). (Schrift und Bild in Bewegung 13) Bielefeld: Aisthesis 2006.   zurück
Das Programm, Abstracts zu den Beiträgen und weitere Informationen sind unverändert nachzulesen unter http://www2.hu-berlin.de/slawistik/sichtbarkeit/ (Zugriffsdatum: 4. Juli 2006).   zurück
So die Zusammenfassung auf der Verlagshomepage: Summary: Die Sichtbarkeit der Schrift (o.D.). URL: http://www.fink.de (Zugriffsdatum: 4. Juli 2006).   zurück
Fuller unterläuft der Verfasserin hier als Zuspätgeborene, wenn »deren Tanz um 1880/90 zum Vorbild wurde für das moderne Kunstwerk wie es die Dichter der Moderne von Baudelaire über Mallarmé bis hin zu Valéry entworfen haben« (S. 43): Baudelaire starb 1867, Fuller war zu diesem Zeitpunkt gerade fünf Jahre jung.    zurück
Sievers versuchte anhand von »Personalkurven«, die er nach dem Musikwissenschaftler Gustav Becking als Beschreibungskategorien individueller wie überindividueller Stil- und Epochencharakteristika zu etablieren gedachte, Autorschaft eineindeutig zu erfassen. Zur taktilen Verstärkung des von Sievers im Selbstversuch vorgeführten individuellen Ausdrucks setzte dieser selbst geformte Drahtfiguren ein, die bei der Rezitation von Texten zum Behufe der Schallanalyse in der Hand gehalten werden mussten, sodass Personalkurve, Drahtfigur und Buchstabe als sichtbare Gegenstücke zu der phonographisch aufgezeichneten Kurve zusammentrafen.   zurück
Eine solche Verbindung wäre etwa über die Beschreibung von Glyphen durch kubische Bézierkurven, wie sie etwa die digitalen Postscript- oder die CFF-OpenType-Schriftarten auszeichnet, mit vergleichsweise wenig interpretatorischem Aufwand möglich gewesen.    zurück
Besonders weit muss man nicht blicken, einschlägig im Umfeld der Literaturwissenschaften vgl. etwa die Hinweise bei Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose 1986 oder bei Joseph Vogl / Bernhard Siegert: Europa. Kultur der Sekretäre. Zürich, Berlin: Diaphanes 2003.   zurück
Die Disposition von Bellamys Zeitutopie ist, dass sich der Ich-Erzähler Julian West 1887 von einem Mesmeristen in einen tiefen Schlaf versetzen lässt, aus dem er erst im Jahr 2000 wieder erwacht. In der sozialistischen Gesellschaft, die der Roman im Anschluss schildert, zählt Musik zu den selbstverständlichen Annehmlichkeiten jedes Haushalts, sie wird auf telefonischem Weg aus Konzerthäusern übertragen. Bellamys Roman enthält also sehr wohl beide Felder – Spiritismus und Elektromagnetismus –, allerdings in weiter historischer Abgrenzung voneinander: Der Mesmerismus des düster geschilderten ausgehenden 19. Jahrhunderts ist kontrastiert mit funktionalen technischen Errungenschaften der aufgeklärt sozialistischen Gesellschaft des Jahres 2000, in der Spiritismus sicherlich keinen Platz hat. Vgl. Edward Bellamy: Looking Backward 2000–1887. Ed. by John L. Thomas. Cambridge, Mass.: Belknap Press of Harvard University Press 1967, insbesondere Kap. 3 zu »Bostoner Spiritisten« und Kap. 11 zu »Fernübertragung von Musik«. Als Beleg für eine von Strätling konstatierte »Empfänglichkeit des Spiritismus für die elektromagnetischen Experimente des 19. Jahrhunderts« kann Looking Backward jedenfalls kaum herangezogen werden.    zurück
Vgl. z.B.: Clare R. Goldfarb / Russell M. Goldfarb: Spiritualism and Nineteenth-Century Letters. Rutherford: Fairleigh Dickinson University Press 1978; Janet Oppenheim: The Other World: Spiritualism and Psychical Research in England. New York: Cambridge University Press 1985; Wolfgang Hagen: Der Okkultismus der Avantgarde um 1900. In: Sigrid Schade / Georg Christoph Tholen (Hg.): Konfigurationen: Zwischen Kunst und Medien. München: Fink 1999, S. 338–357.   zurück
10 
Als Beispiel für »maschinelle[ ] Strukturschriften bzw. […] technische[n] Zeichenschrott« (S. 192) dient – ohne dass dies ausgewiesen wäre – ein Stück RTF-Code. Das Rich Text Format ist eine Markup-Sprache, die von Microsoft 1987 eingeführt wurde und deren Spezifikationen offen liegen (siehe http://msdn.microsoft.com/library/en-us/dnrtfspec/html/rtfspec.asp). RTF ist vergleichsweise weit verbreitet, da Texteditoren unterschiedlicher Betriebssysteme und »Encodings« damit umgehen können.    zurück
11 
Im Text ist an dieser Stelle ein Ist-Gleich-Zeichen zu finden, anzunehmen ist, dass hier auf dem Weg durch die Korrekturkreise des Typographeums wohl irrtümlich statt des großen O eine große Null verwendet wurde – die Umschalt-Taste macht daraus gnadenlos ein »=«, auch wenn Differenzen der indexikalischen Zeichen 0 und = noch einer weiter reichenden Analyse harren …   zurück
12 
Heinrich von Kleist, Brandenburger [1988–1991: Berliner] Ausgabe. Kritische Edition sämtlicher Texte nach Wortlaut, Orthographie, Zeichensetzung aller erhaltenen Handschriften und Drucke. Hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Basel, Frankfurt/M. 1988 ff., Bd. II/7, Berliner Abendblätter 1, S. 96.   zurück
13 
Wetzel, Michael: Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift. Von den literarischen zu den technischen Medien. Weinheim: VCH, Acta Humaniora 1991. S. IX.   zurück
14 
Der fiktive Herausgeber der Lebens-Ansichten des Katers Murr bestätigt spöttisch das Gegenteil: »Wahr ist endlich, daß Autoren ihre kühnsten Gedanken […] oft ihren gütigen Setzern verdanken, die dem Aufschwunge der Ideen nachhelfen durch sogenannte Druckfehler.« E. T. A. Hoffmann: Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. Hg. von E. T. A. Hoffmann. Erster Band, Berlin: Dümmler 1820, S. VII. – An dieser Stelle seien neben unzähligen Apostrophen statt einfacher Anführungszeichen: »'« statt »«, verwechselten Binde- und Gedankenstrichen nur einige der unsichtbareren typographischen Lapsus bemüht und die syntagmatischen, orthographischen (Inkohärenzen und »Altneuschreibung«) und lexikalischen (»buchtäblich«, S. 18; »Scrift«, S. 73; »auschlaggebend«, S. 97; »unviversell«, S. 117; »Verstimmmlichung«, S. 189; »Karrikatur«, S. 194 uvm.) übergangen.    zurück
15 
Die Edition von Helmut Sembdner harmonisiert zwar die ausgelassenen vier Buchstaben zu einem dreipunktigen Auslassungszeichen, »F« und »L« weisen jedoch – wie in den Drucken der Berliner Abendblätter – auch dort korrekt drei Punkte auf. Vgl. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. 9., vermehrte und revidierte Aufl. München: Hanser 1993, Bd. 2, S. 268.    zurück
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Im herkömmlichen arbeitsteiligen System der Buchproduktion (etwa nach Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998) gedacht: Autoren machen Fehler, haben nicht unbedingt setzerische Kriterien auch gleich mit zu bedenken. Setzer machen Fehler, da sie nicht notwendig etwas von der Materie verstehen müssen, das Manuskript unleserlich ist usf. Lektorat und Korrektorat greifen hier ein und beseitigen die Fehler vielfältiger Quellen, harmonisieren das Buch und machen die Schrift funktional durchsichtig. Dass auch diese Fehler machen und übersehen, ist mitgedacht und wird durch Rückkoppelung zu eliminieren versucht, wenn die Autoren ihren Text vor dem Druck zur Imprimatur nochmals erhalten. Für all dies trägt der Verlag die Letztverantwortung. — Die technischen Möglichkeiten und der Wandel bzw. Niedergang vieler beteiligter Berufsbilder haben dieses System flexibler gemacht. Um qualitativ hochwertige Bücher zu produzieren, wäre es aber angebracht, zumindest »Expert/innen« (oder wie man sie nennen mag) heranzuziehen.    zurück
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Anmerkung der Redaktion: Da die bei IASLonline standardmäßig verwendete Schriftart keine optische Differenz zwischen einer der f-Ligaturen und den entsprechenden Einzelzeichen-Kombinationen ffi, ffl, fi, fl, ft aufweist, wurde hier ein Font gewählt, mit dem die Unterschiede sichtbar werden.   zurück
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Diese Blindheit gegenüber dem »eigenen Werkzeug« des Schreibens scheint in der Geschichte von Aufzeichnungsmedien allerdings ihre Entsprechungen aufzuweisen: Erst anhand neu hinzugekommener Medientechniken scheinen die bisherigen einer breiteren Revision ihrer Möglichkeiten und Funktionen unterzogen zu werden. Dies lässt sich bspw. zeigen anhand einer Mediendiskursgeschichte wie Albert Kümmel / Leander Scholz / Eckhard Schumacher (Hg.): Einführung in die Geschichte der Medien. (UTB 2488) Paderborn: Fink 2004.   zurück