IASLonline

Licht ins Dunkel der Gattungsgeschichte

Unterwegs zwischen Sangspruch und Meisterlied

  • Michael Baldzuhn: Vom Sangspruch zum Meisterlied. Untersuchungen zu einem literarischen Traditionszusammenhang auf der Grundlage der Kolmarer Liederhandschrift. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 120) Tübingen: Max Niemeyer 2002. XII, 551 S. EUR (D) 64,00.
    ISBN: 3-484-89120-3.
[1] 

Ausgangslage, Zielsetzung der Arbeit

[2] 

Der Übergang von der Sangspruchdichtung zu ihrer Nachfolgegattung, dem Meistersang, lag bisher weitgehend im Dunkeln. Das Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder (RSM) 1 erfasst jetzt den Bestand und die Überlieferung beider Gattungen vollständig. Die umfassende Materialheuristik macht auch die historischen Sammelschwerpunkte deutlich sichtbar: Da sind zum einen die großen Archivierungsunternehmungen der Sammelhandschriften des ausgehenden 13. und frühen 14. Jahrhunderts (die berühmten Lyrikhandschriften A, B, C und J 2 bis hin zum älteren Teil D des Heidelberger Cod. Pal. Germ. 350), die der Tradition der noch auf die Einzelstrophe konzentrierten höfischen Sangspruchdichtung verpflichtet sind; zum anderen die im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts einsetzende Meisterliedüberlieferung, die deutlich auf mehrstrophige Liedeinheiten (›Bare‹) mit ausgeprägter Fremdtonverwendung fokussiert sind.

[3] 

Dazwischen, circa 1350 bis 1430, klafft eine Überlieferungslücke (begleitet von einer entsprechenden Erkenntnislücke), innerhalb derer sich die wichtigsten Veränderungen innerhalb der Gattung vom Sangspruch zum Meisterlied vollzogen haben. In dieses Dunkel will Baldzuhns Untersuchung – sie wurde1996 als Dissertation in Münster vorgelegt – durch einen neuen Untersuchungsansatz Licht bringen. Im Fokus stehen die Prozesse, die sich im Übergang von der prinzipiellen Einstrophigkeit des Sangspruchs hin zum institutionalisierten Meistersang mit geregelter Mehrstrophigkeit abgespielt haben müssen.

[4] 

Die richtigen Fragen

[5] 

Herrschte bislang eher Skepsis darüber, dass man in der Bestandsschichtung des Spätüberlieferten überhaupt weitergehende Erkenntnisse erlangen könne, entlarvt Baldzuhn zunächst die Unzulänglichkeit des Erkenntnisinteresses, mit dem die ältere Forschung an die Überlieferung herangegangen ist. Die Frage nämlich, ob eine erst spät überlieferte Strophe in Bezug auf die Kategorie ›Autor‹ als ›echt‹ oder (ex negativo als Abweichungen gegenüber den Kriterien für ›Echtheit‹) ›unecht‹ zu bestimmen ist, ist im Hinblick auf die Gattungsgeschichte viel zu wenig differenziert. Bisherige chronologische Ordnungsversuche griffen zu kurz, wenn sie nur die produktive Seite eines Textes berücksichtigten, nicht aber seine Wiederverwendung in Aufführung und Schrift: »Überall dort nämlich, wo ältere Texte an neue Gebrauchssituationen nachträglich angepasst werden, verläuft die Grenze zwischen älterem und jüngerem Bestand nicht zwischen den Texten, sondern mitten durch sie hindurch« (S. 17). Es ist genauer zwischen der Produktion eines Textes und den verschiedenen Stufen seiner Reproduktion in Aufführung und (zur Wiederaufführung oder in archivierender Absicht angefertigten) schriftlicher Überlieferung zu differenzieren. Unter dieser Prämisse geht Baldzuhn das (häufig als unlösbar betrachtete) ›Schichtenproblem‹ erstmals in einer monographischen Studie an, und zwar ausgehend von der Kolmarer Liederhandschrift (k). 3

[6] 

Die Gründe, k zum Hauptgegenstand der Untersuchung zu machen, liegen auf der Hand: Die mit über 4600 Strophen (darunter über 500 noch vor 1350 bezeugte) umfangreichste der vorreformatorischen Meisterliederhandschriften stellt ein repräsentatives Untersuchungsmaterial bereit. Frühere Untersuchungen konnten zeigen, dass der Codex allmählich aus der Kompilation vieler kleinerer Einzelsammlungen erwachsen ist. Es steht mithin zu erwarten, dass sich hier die Archivierung einer Vielzahl von Textüberlieferungs- und Textgebrauchssituationen greifen lässt. Außerdem ist zu beobachten, dass k ältere Strophen nicht in so stark einheitlich glättender Bearbeitung darbietet, wie das für viele der jüngeren Meisterliederhandschriften der Fall ist. Diese »insgesamt disparate[ ] Qualität der Texte« (S. 26) begünstigt den Versuch, verschiedene Bearbeitungsschichten zu rekonstruieren.

[7] 

Sichtung des Altbestands

[8] 

Als Grundlage für die Untersuchung des Umgangs von k mit altem Strophenmaterial werden in Kapitel 1 zunächst alle altüberlieferten Strophen aus k in tabellarischer Form aufgelistet (S. 38–47). Die Auswertung liefert erste aufschlussreiche Ergebnisse: In eine Vielzahl von jüngeren Liedeinheiten in k hat mehr als eine altüberlieferte Einzelstrophe Eingang gefunden. Das ist für die weiteren Überlegungen wichtig, denn es erlaubt den Schluss, dass auch in jüngeren Liedern, die nur eine altbezeugte Strophe enthalten, weitere alte Strophen enthalten sein können, für die lediglich ein älterer Überlieferungszeuge fehlt.

[9] 

Vor allem aber ermöglicht der Vergleich auch Aussagen über die Gestalt der Vorlagen von k. Nirgends deckt sich über weite Strecken der Strophenbestand mit den großen Sammlungen. Nicht die älteren Sammelhandschriften des 13./14. Jahrhunderts, die ihrerseits schon vortragsfernen, archivierenden Charakter haben, dienten k als Vorlage, sondern tatsächlich eine Vielzahl verschiedener Vorlagen geringeren Umfangs. Diese könnten für den Gebrauch im Vortrag angefertigte Faszikel gewesen sein, die nicht in Codexform vom Einband geschützt wurden und damit für die Überlieferung verloren gegangen sind.

[10] 

Obwohl diese Theorie – genau wie die ältere Einzelblatttheorie für den Minnesang – schwer belegbar bleibt, weil eben die Überlieferungszeugnisse fehlen (und es mutet seltsam unwahrscheinlich an, dass nicht hier und dort wenigstens Reste eines solchen Faszikels erhalten geblieben sein sollten), ist sie der bislang plausibelste Rekonstruktionsversuch. Die in den Cpg 350 später eingegangenen Teile H und R mit einer beziehungsweise drei Lagen könnten vom ihrem Umfang und von ihrer Konzeption her Abschriften solcher Faszikel sein.

[11] 

›Bar‹ als Vortragsform

[12] 

In Kapitel 2 wird der Prozess der Barbildung untersucht. Es ist dies ein schrittweise vollzogener Institutionalisierungsprozess, der in einer neuen Gattungsnorm mündet, eine neue Vortrags-, Text- und Überlieferungsform, in der gleichsam ›äußere‹ und ›innere‹ Einheit einer Strophengruppe vollzogen ist. Wichtig ist vor allem die Erkenntnis, dass dieser Prozess bereits in der späteren Sangspruchdichtung seit dem 13. Jahrhundert einsetzt. Das Bar ist nicht erst ein sich im städtischen Meistersang durchsetzendes Formideal. Unfeste Mehrstrophigkeit ist schon früh als Vortragsform anzunehmen, denn ein Großteil der in die alten Sammlungen eingegangenen Strophen ist innerhalb mehr oder weniger fester Strophengruppen (›Strophenketten‹ 4 ) überliefert.

[13] 

Ältere Strophen können bereits im 14. Jahrhundert von Fremdtonverwendern, die ihre Vorträge bereits der Barnorm annäherten, für verschiedene Aufführungssituationen mit neu hinzu gedichteten Strophen jeweils zu neuen Liedeinheiten ergänzt und zu neuen Liedeinheiten kombiniert werden. Das zeigen die in wechselnden Strophenbindungen bezeugten alten Einzelstrophen. Da im späteren Meistersang die Wiederverwendung von Strophen als schwerer Regelverstoß gilt, lässt sich daraus folgern, dass auch solche Strophen, die in wechselnder Bindung vorkommen, jedoch nicht altbezeugt sind, mit einiger Wahrscheinlichkeit zumindest in diese Übergangszeit der unfesten Mehrstrophigkeit zurückdatiert werden können.

[14] 

Verschriftlichung der Barnorm

[15] 

Kapitel 3 rekonstruiert im Blick auf die Rubrizierungspraxis aller greifbaren Überlieferungszeugen vom 13. bis ins 15. Jahrhundert die einzelnen Phasen der Herausbildung des Meisterlieds als Überlieferungsform. Die alten Sammlungen ordnen nach dem Autorprinzip, und innerhalb der Autorcorpora nach Tönen. Hier gilt noch durchweg das Prinzip Tonautor = Textautor. Durch Beischriften wird lediglich der »nicht vorgesehene Sonderfall der Nichtübereinstimmung von Text- und Tonautor« (S. 79) gekennzeichnet. Mit zunehmender Fremdtonverwendung, das heißt mit der Auflösung der Gleichung von Text- und Tonautor, wächst seit dem 14. Jahrhundert die Verwendung von klärenden Rubriken mit präziser Benennung der einzelnen Instanzen (zum Beispiel um 1350 im ›Hausbuch‹ des Michael de Leone 5 : … hot Luppolt hornburg von Rotenburg. geticht vnd ins Marners lange wis gesungen. dise her noch gescriben lider). Häufig finden sich nun Rubriken mit Angaben zu Textautor, Tonautor und Tonname; sind auch die ersten beiden häufig noch deckungsgleich, zeigt der systematische Ansatz zur Differenzierung bereits, dass prinzipiell mit der Möglichkeit der Fremdtonverwendung gerechnet wird.

[16] 

In dieser Phase des Übergangs von der Einstrophigkeit zur Mehrstrophigkeit kann man eine gewisse Unsicherheit der Schreiber im Umgang mit der neuen Norm beobachten. So kommt es vor, dass mehrstrophige Einheiten angekündigt werden, dann aber doch jede Strophe mit einer Einzelstrophenrubrik versehen ist: Auch in der Zusammenstellung von Strophengruppen bleibt zunächst noch das ältere Prinzip der Einzelstrophe sichtbar.

[17] 

Wenig aussagekräftig sind die spärlichen Rubriken aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die ganz in die Überlieferungslücke fällt: Die aus dieser Zeit überlieferten Strophen entstammen zumeist Streuüberlieferungen, die nicht aus Interesse an der Gattung, sondern aus (zum Beispiel wissenschaftlichem) Interesse an den Inhalten niedergeschrieben wurden, worauf sich dann auch die Rubrizierungen beziehen.

[18] 

Im 15. Jahrhundert sind systematische neue Entwicklungen zu verzeichnen. Mit den ab circa 1430 einsetzenden Meisterliedersammlungen wird auch ein neuer Rubrizierungstyp etabliert. Die im Vortrag schon seit Mitte des 14. Jahrhunderts dominierende Mehrstrophigkeit wird nun auch in der Schrift konsequent mit Barrubriken dargestellt. Spätestens in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist dieser neue Überlieferungstypus des Meisterlieds (wie in k) durchgesetzt.

[19] 

Besonders auffallend ist, dass in den vorreformatorischen Sammelhandschriften in aller Regel die Textautoren nicht namentlich genannt werden. Solche produktive Fremdtonverwendung ohne Nennung der Textautoren lässt einen scheinbar einfachen Schluss zu, der jedoch nach einer Erklärung verlangt: Die Schreiber kannten schlicht die Namen der Textautoren nicht. Das bedeutet, dass es aktive Liedpflege in ihrem Umfeld nicht gegeben hat, was wiederum auf die Überlieferungsbedingungen in der Zeit der Überlieferungslücke zurückführt und die Annahmen über die Vorlagen präzisiert: Diese waren für die Vortragspraxis innerhalb eines lebendigen Literaturbetriebs konzipiert. Den Sängern waren die Namen bekannt, sie brauchten sie in ihren für den Vortrag bestimmten Faszikeln (s. o.) nicht eigens niederzuschreiben. Den späteren Sammlern fehlte diese Unmittelbarkeit, die Leerstelle des Textautoren konnten sie nicht mehr ausfüllen.

[20] 

liet und bar

[21] 

Kapitel 4 gibt einen Überblick über den historischen Wandel der der Termini liet und bar. Dabei erweist sich die übliche Auffassung von mhd. daz liet für die Einzelstrophe vs. diu liet für eine zusammengehörige Strophengruppe als unzulänglich. Außerhalb von Sangspruch-Sammlungen ist daz liet in der neuen Bedeutung für die Strophengruppe (Lied im nhd. Sinne) spätestens im 15. Jahrhundert durchgesetzt. In den auf die Sangspruchtradition bezogenen Sammlungen hingegen dominiert noch bis weit in das 15. Jahrhundert hinein und noch beim jungen Hans Sachs die alte Verwendung von liet für die Einzelstrophe. Zwar hat sich dafür unterdessen auch der im Meistersang gebräuchliche Terminus gesätz durchgesetzt. Die konservativ ausgerichteten Sammlungen (allen voran k) hingegen verwenden noch die alte Terminologie: Gattungskontinuität wird über traditionalistischen Sprachgebrauch hergestellt. Erst im 16. Jahrhundert ist man um eine einheitliche Sprachregelung bemüht und unterscheidet durchweg zwischen liet und gesätz (Lied und Strophe).

[22] 

Der Begriff bar ist frühestens um 1430 belegt, wurde vermutlich aber schon vorher verwendet, vielleicht ab 1350 (S. 137). Etymologisch ist er herzuleiten aus der Fechtterminologie: barat / parat bezeichnet einen vollkommen gelungenen Schlag. Die Übernahme in die Terminologie der Sänger deutet damit auf zunehmende Agonalität des Sanges hin und weist voraus auf die institutionalisierten Singwettstreite.

[23] 

Durchmarsch durch die Überlieferung

[24] 

Das Herzstück der Untersuchung bildet sodann der umfassende Überlieferungskommentar (Kapitel 5). Im Durchmarsch durch alle Bare aus k können im Vergleich mit allen in Strophenbestand und / oder -reihenfolge abweichenden Parallelüberlieferungen und auf der Grundlage der oben beschriebenen Annahmen bewegliche (»fungible«) Texteinheiten identifiziert werden. Der Bestand an Altüberliefertem kann so um rund 150 vermutlich alte Einzelstrophen und etliche unfeste, das heißt wahrscheinlich ältere Strophengruppen erweitert werden.

[25] 

Die Überlieferung eines jeden dieser Bare wird in einer Formel dargestellt, die zwar zunächst etwas sperrig erscheint, einem aber, hat man sich einmal in ihre Funktionsweise eingefunden, präzise alle wichtigen Informationen auf einen Blick liefert. Neben dem Nachweis von altüberlieferten Strophen wird die Struktur eines Bars mit Parallelstrophen zu k aufgeschlüsselt nach ihren einzelnen Strophen, die kategorisiert werden nach ›alt‹, ›andernorts von alten Strophen begleitet‹, ›andernorts in andere Strophenumgebung eingebettet‹ oder ›einzig hier überliefert‹ (vgl. S. 143). In der Auswertung kann Baldzuhn teilweise mehrere verschiedene Bearbeitungsstufen herausarbeiten. Dabei spielt nicht nur die (Re-)Kombination älterer und jüngerer Strophen eine Rolle, sondern auch die scharfsinnige Interpretation der Texte selbst im Hinblick auf ihre einheitliche Komposition (vgl. zum Beispiel eindrücklich die Interpretation zu Tannhäuser, k 841, S. 254–263). Insgesamt ergibt dieser innovative, differenzierte Blick auf die Überlieferung im 15. Jahrhundert ein komplexes Bild des vom blinden Fleck der Überlieferungslücke überdeckten Teils der Gattungsgeschichte.

[26] 

Dabei ist allerdings immer auch besondere Vorsicht geboten, nicht in Zirkelschlüsse zu verfallen: Wenn – um nur ein Beispiel zu nennen – auf S. 221 zu k 929 (Harder) festgestellt wird, eine Störung in der Überlieferung sei vermutlich »auf Vorlagen ohne oder mit noch unklarer Barkennzeichnung zurückzuführen«, so muss man sich unbedingt bewusst halten, dass dieser Vorlagentypus in Kapitel 3 erst rekonstruiert wurde und nicht als gesicherter Befund betrachtet werden darf. – Andererseits ist dies ja zugleich die entscheidende Stärke der Untersuchung: Den hermeneutischen Zirkel stets reflektierend stellt sie dort die richtigen Fragen, wo man sonst aufgrund der schlechten Quellenlage keine Aussagen zu treffen wagte. Nur selten begnügt Baldzuhn sich mit einem resignierenden nescio, sondern dringt mit guten Hypothesen auch da noch weiter ins Dunkel der Gattungsgeschichte ein, wo er den Boden sicherer Beweise verlassen muss. Dieser Erkenntnisdrang zeichnet Baldzuhns Arbeitsweise aus. In akribischer Analyse aller Besonderheiten der Überlieferung, dazu in produktiver Auseinandersetzung mit der Forschung, die er oft korrigieren und ergänzen kann, und nicht zu letzt mit erfrischendem Mut zum Querdenken bringt er die Erforschung der Gattung einen guten Schritt voran.

[27] 

Sonderfall Heinrich von Mügeln

[28] 

Einen eigenen Abschnitt (Kapitel 6) verdient abschließend die Betrachtung der Heinrich von Mügeln-Autorsammlung im Göttinger Cod. Philos. 21 (g) im Vergleich mit k. Die Handschrift von 1463 geht auf eine deutlich ältere, noch nahe an die Lebenszeit des Dichters heranreichende Vorlage zurück, mit der der Schreiber offenbar sehr konservativ verfahren ist. So bietet sie einen einzigartigen Einblick in eine Zwischenstufe zwischen der Sangspruchtradition und dem Meistersang. Mügeln dichtete schon ganz überwiegend mehrstrophig (unter anderem durch Kornreim verbundene Dreierbare), Barrubriken gibt es aber in der Handschrift nicht. Mit der Mügeln eigenen thematisch gliedernden Kategorie ›Buch‹ findet sich eher eine Zwischenform zwischen der Handschrift J, in der der Ton die einzig übergeordnete Ordnungskategorie ist, und k, wo innerhalb eines Toncorpus jedes Bar einzeln gekennzeichnet ist.

[29] 

Im Vergleich des Textbestands von g und k zeigt sich, dass beide auf ganz ähnliche Vorlagen zurückgehen. Strophenbestand und -folge bleiben weitgehend unverändert. Es sind aber zwei historisch verschiedene Verfahren der Darbietungsform der neuen Bare zu sehen, einmal der noch nicht geübte Umgang mit der neuen mehrstrophigen Vortragsform um 1400 (g), zwei Generationen später dann die konsequente Rubrizierung der Bare entsprechend der neuen Gattungsnorm (k). So kann man in g einmal die frühe schriftliche Existenzform des Bars in ihrer Diskrepanz zwischen einer bereits durchgesetzten Gattungskonvention und der noch nicht vollendeten Ausarbeitung vortragsäquivalenter Darbietungsformen in der Schrift zu fassen bekommen – und damit etliche der eingangs (Kapitel 2) formulierten Thesen bestätigen.

[30] 

Ausblick:
Ahistorische Meistersänger

[31] 

Am Ende der Auswertung (Kapitel 7), in der alle Ergebnisse nochmals prägnant zusammengefasst werden, folgt ein interessanter Ausblick in den späteren Meistersang. Auf der Grundlage der gattungshistorischen Überlieferungsbefunde kann Baldzuhn die vermeintlich traditionsverhaftete Institution des Meistersangs mit ihrem festen Aufführungsrahmen (Vortrag vor den im ›Gemerk‹ verborgenen ›Merkern‹) als Fiktion entlarven. Die als traditionalistisch ausgegebene Aufführungspraxis kann gerade nicht aus einer bezeugten früheren abgeleitet werden, sondern sie entpuppt sich als aus einem ahistorischen Verständnis älterer meisterlicher Texte erwachsen, in denen sängerische Interaktion vor Publikum und vor merkern fingiert wird. Die neue Gemerk-Interaktion versucht, Kontinuität herzustellen, indem sie die alte meisterkunst als »Aufführung der (vermeintlichen) Aufführung« (S. 491) neu inszeniert.

[32] 

Die für den Meistersang konstitutive Traditionsbindung definiert sich zuallererst über die (vermeintliche) Kontinuität der Aufführungspraxis. Daraus resultiert auch eine anfängliche Zurückhaltung dieser Gattung gegenüber dem neuen Medium des Buchdrucks. Allerorten ist der ›Traditionalismus‹ der Gattung erkennbar, nicht nur an dem ambivalenten Verhältnis zu den medialen Neuerungen; Meistersang begreift sich selbst als konservative Gattung, auch wenn sich diese Rückwärtsgewandtheit aus der historischen Distanz als Fiktion erkennen lässt (hier wäre wohl auch besonders auf den Mythos der zwölf alten Meister hinzuweisen).

[33] 

Fazit

[34] 

Vorweg seien einige wenige kritische Anmerkungen und Ergänzungen erlaubt. Vor allem Baldzuhns sprachlich sperriger Stil macht eine flüssige Lektüre oft schwierig. Bei der Fülle von Handschriften und zugehörigen Siglen, mit der er jongliert, ist es zudem nicht leicht, den Überblick zu behalten. Eine übersichtliche Aufstellung der Meisterliederhandschriften nach ihren Siglen (und mit Datierung) zu Beginn des Katalogteils (oder dem ausführlichen Handschriftenregister vorangestellt) wäre sehr hilfreich gewesen. Stattdessen muss man sich mit einer abgelegenen unvollständigen Auflistung (S. 6, Anm. 15) behelfen und ergänzend die Liste etwa bei Schanze 6 sowie die Datierungen etwa aus dem RSM benutzen.

[35] 

Verständlich ist die Vernachlässigung der eine literaturgeschichtliche Sonderstellung einnehmenden ›Erzähltöne‹: Winsbeke, Tirol und Fridebrant, Wartburgkrieg. Gleichwohl ist es für die Untersuchung geradezu sträflich, letzteren ganz außen vor zu lassen. Denn gerade der Wartburgkrieg ist in vielerlei Hinsicht prägend für das Selbstverständnis der Meistersänger. Besonders die agonalen Konstellationen sind hier vorgeprägt (k 745 etwa, das ›Kreuzbaumrätsel‹, inszeniert eine Aufführung vor Publikum und merkern). Hier hätte sich eine weitere Absicherung für die Beobachtungen des »Ausblicks« gewinnen lassen.

[36] 

Solche Unterlassungen können indes nicht Qualität und Nutzen der immens fleißigen, material- wie auch erkenntnisreichen Studie verringern. Jede Untersuchung zum Sangspruch und zum meisterlichen Lied wird künftig Baldzuhns Buch berücksichtigen müssen. Besonders Sangspruch-Editionen, die dem schon vor Jahrzehnten von Burghart Wachinger formulierten Anspruch, immer auch die Spätüberlieferung zu berücksichtigen, 7 gerecht werden wollen, werden die differenzierten Erkenntnisse über die Bestandsschichtung mit Gewinn aufnehmen. Sogar das bislang geradezu unmöglich scheinende Großprojekt der nach wie vor fehlenden Regenbogen-Ausgabe erscheint damit bereits in günstigerem Licht.

 
 

Anmerkungen

Horst Brunner / Burghart Wachinger (Hg.): Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. 16 Bände. Tübingen 1986 ff. Der noch fehlende Bd. 2 (Tönekatalog und Melodien) wird in Kürze erscheinen.   zurück
A: Kleine Heidelberger Liederhandschrift, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 357; B: Weingärtner Liederhandschrift, Stuttgart, Landesbibliothek, HB XIII 1; C: Große Heidelberger Liederhandschrift, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 848; J: Jenaer Liederhandschrift, Jena, Universitätsbibliothek, Ms. El. f. 101.   zurück
München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 4997.   zurück
Vgl. dazu Helmut Tervooren: Einzelstrophe oder Strophenbindung? Untersuchungen zur Lyrik der Jenaer Handschrift. Diss. Bonn 1966, bes. S. 69–83.   zurück
München, Universitätsbibliothek, 2° Cod. ms. 731.   zurück
Frieder Schanze: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs. Bd. 1: Untersuchungen. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 82) München 1983, S. 410.   zurück
Burghart Wachinger: Die Bedeutung der Meistersingerhandschriften des 15. Jahrhunderts für die Edition der Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts. In Hugo Kuhn / Karl Stackmann / Dieter Wuttke (Hg.): Kolloquium über Probleme altgermanistischer Editionen. Marbach am Neckar, 26. und 27. April 1966. Referate und Diskussionsbeiträge. Wiesbaden 1968, S. 114–122, hier S. 121.   zurück