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Poetologien der Zerstörung

Ein neuer Sammelband zu W.G. Sebald

  • Claudia Öhlschläger / Michael Niehaus (Hg.): W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei. (Philologische Studien und Quellen 196) Berlin: Erich Schmidt 2006. 275 S. 16 Abb. Hardback. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 3-503-07966-1.
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W.G. Sebald betreibt, so schlägt es der Titel des von Michael Niehaus und Claudia Öhlschläger herausgegebenen Sammelbandes vor, politische Archäologie und melancholische Bastelei. Schon mit dieser Titelformulierung artikulieren die Herausgeber ihr Forschungsanliegen: Nicht die Inhalte, sondern die Verfahren von Sebalds literarischem Projekt sollen im Zentrum der Untersuchungen stehen.

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Mit den komplementär angelegten Begriffen von archéologie (mit implizitem Bezug auf Foucault) und bricolage (in expliziter Anlehnung an Lévi-Strauss) umschreiben Niehaus und Öhlschläger das Ensemble von Sebalds literarischen Techniken. Der Bastler ist ein Archäologe: Indem er seine Fundstücke neu montiert, eröffnet er den Blick in zuvor verschüttete historische Schichten. Der Archäologe ist ein Bastler: Insofern er sein Wissen aus fragmentarischen Fundstücken neu zusammensetzt, eignet seiner Arbeit ein konstruktivistischer Zug.

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Politisch ist Sebalds Archäologie, insofern sie mit dem historischen Wissen immer zugleich die Bedingungen für dessen Produktion freilegt. Damit stellt sie jede Geschichtserzählung – auch die eigene – unter den Vorbehalt, dass in ihr Fiktionalität, Konstruktion und Poiesis am Werk sind. Melancholisch ist Sebalds Bastelei, insofern sie das von ihr Festgehaltene immer zugleich als unrettbar verloren erkennt. Damit stellt sie jede Geschichtserzählung – auch die eigene – unter den Vorbehalt der Vergeblichkeit. Doch trotz dieser Vorbehalte sind Archäologie und Bastelei produktive Verfahren, aus denen Texte und so unzählige wie »unkontrollierbare Lektüre-Effekte« (S. 9) hervorgehen.

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Sebalds Literatur ist mithin von einer fundamentalen Ambivalenz durchzogen: Sie ist in einem Zuge zersetzend und aufbauend, destruktiv und produktiv, skeptisch und optimistisch; in ihr liegen, wie Claudia Albes in ihrem Beitrag vermerkt, »Zerstörung und Zeugung in unmittelbarer Nachbarschaft« (S. 68).

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Metaphorische Poetologie

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Die analytische Aufmerksamkeit gilt also vor allem der Form. Einer solcherart eingestellten Aufmerksamkeit zeigt sich zunächst die poetologische Metaphorik, die alle Texte Sebalds selbstreferentiell durchsetzt. Denn immer wieder lässt sich das, was Sebald über die Welt schreibt, zugleich als Kommentar über das eigene Schreiben lesen. Entsprechend sieht Albes in der Eingangspassage von Nach der Natur einen »autoreflexiven Textkommentar« (S. 57, vgl. auch S. 70), beschreibt Anne Fuchs Sebalds »selbstreflexive Ruinenästhetik« (S. 98), bezeichnet Niehaus den ersten Satz von Austerlitz als »nahezu programmatisch« (S. 183) für die Grundlosigkeit der melancholischen Stimmung des Erzählens und versteht Öhlschläger mit Blick auf Die Ringe des Saturn die Beschreibung der unordentlichen Ordnung der Romanistikdozentin Dakyns als eine Aussage mit »programmatischem Charakter« (S. 195) sowie die Seidenraupen als »Metaphern des melancholischen Schreibprozesses«, die »für die poetische Produktion« (S. 202) stehen.

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Zwei Fälle einer solchen selbstreflexiven metaphorischen Poetologie untersuchen die Beiträge von Anja K. Maier und Holger Steinmann. Maier (»›Der panische Halsknick‹. Organisches und Anorganisches in W.G. Sebalds Prosa«) beschreibt vier somatische Phänomene einer verschobenen Wahrnehmung, die in Sebalds Texten nicht nur als Erzählanlass zu finden sind, sondern zudem auch als »Strukturprinzip« (S. 113), als »typisches Erzählverfahren« (S. 114, vgl. auch S. 116), als »poetisches Prinzip« (S. 114) der Texte gelesen werden können: den körperlichen Schmerz, die Wahrnehmungsstörungen, den Schwindel und die Lähmung. So werde etwa »der körperliche Schmerz gefasst als Ursprung der melancholischen Disposition des Ich«. Der Schmerz wird damit zum »Ausgangspunkt«, zu »Ziel und Motor des sebaldschen Schreibprojekts« (S. 117). Wie in fast allen poetologischen Metaphern Sebalds sind auch in diesen Bildern der organischen Störung Destruktivität und Produktivität untrennbar miteinander verbunden: Der zerstörerische »Schmerz (als Schrumpfung)« erscheint als materielles Apriori für die Produktion des »Text[es] (als Ausdehnung)« (S. 116).

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In einer ähnlichen Argumentationsfigur verbindet Steinmann (»Zitatruinen unterm Hundsstern. W.G. Sebalds Ansichten von der Nachtseite der Philologie«) die katastrophalen und kriegerischen Zerstörungen, wie Sebald sie thematisch verhandelt, mit der literarischen Technik des ruinösen Zitats. Die zitierten Texte sind in ihrer zusammengebastelten Form bei Sebald oft, so kann Steinmann nachweisen, in keinem besseren Zustand als das, wovon sie berichten. So setzen Sebalds Erzählungen von Zerstörungen auf textueller Ebene eine »analoge Zerstörung« (S. 151) in Szene. Indes kippt auch hier die Zerstörung in Zeugung um: Aus dem Ruinösen ergibt sich ein produktiver Text- und Erinnerungseffekt. Gedächtnistheoretisch gesprochen: Das Vergessen ist nicht Gegenteil, sondern Möglichkeitsbedingung des Erinnerns. Mit Steinmann formuliert: »Ruine und Gedächtnis stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis, das in den Texten Sebalds latent und manifest zur Darstellung kommt.« (S. 154)

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Das Ruinöse des Zitats macht sichtbar, dass etwas nicht überdauert hat und dass genau deshalb nun etwas Neues entstehen kann: »mit dem Verlust einer bestimmten Referenz wird die Schrift […] freigestellt, die Möglichkeit neuer Referenzen unterstellbar zu machen.« (S. 155) In Sebalds Techniken der Dereferentialisierung steckt also das Potential zu einer Rereferentialisierung, zu einem »resignifizierenden« Umgang (so die Herausgeber unter Verweis auf Butler in ihrer Einleitung, S. 9) mit dem vorgefundenen Material. Gedächtnis und Erinnerung werden damit, wie auch im Beitrag von Jan-Henrik Witthaus (»Fehlleistung und Fiktion. Sebaldsche Gedächtnismodelle zwischen Freud und Borges«), konstruktivistisch gewendet; das Vergessen und die Fiktion (vgl. S. 164) erscheinen als Konstitutionsbedingungen individueller wie kollektiver Memorialkultur.

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Bild und Text

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In einem Band, der die literarischen Verfahren Sebalds in sein Zentrum stellen will, darf die Frage nach dem Verhältnis von Text und Bild nicht fehlen. Den Status der Bilder – Photographien, Gemälde, Zeichnungen, Pläne – und deren Beschreibungen in Sebalds Texten thematisiert der Beitrag von Alexandra Tischel über Austerlitz unter dem Titel »Aus der Dunkelkammer der Geschichte« und der Beitrag von Claudia Albes über Nach der Natur unter dem Titel »Portrait ohne Modell«.

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Photographien, darauf verweist schon Helmut Lethen mit Blick auf Die Ringe des Saturn, eignet in Sebalds Texten ein »unsicherer Status zwischen Spur und Konstruktion« (S. 26). Um diese Doppelsinnigkeit der Photographien interpretatorisch in den Griff zu bekommen, schlägt Tischel vor, die »fiktionsinterne Thematisierung von Photographie« und die »fiktionsexternen Dimensionen der Photographie« (S. 32) voneinander zu unterscheiden. Fiktionsintern, so Tischel, lässt sich in Austerlitz ein skeptischer Umgang mit Photographien nachzeichnen. Das photographische Bild erscheint zwar immer wieder als Anlass für die Suche nach verschütteten Erinnerungen; diese Suche scheitert jedoch immer wieder an der Medialität ihres Anlasses, die stets nur negativ auf »Absenz und Tod« (S. 44) verweist. Fiktionsextern hingegen fungieren die Photographien für Tischel – mit Barthes formuliert – als »›Emanation‹ oder Spur des ›Realen‹« (S. 44); sie zeitigen einen »Realitätseffekt« (S. 32), dessen »›Erinnerungsaura‹« (S. 44) nur von der fiktionsinternen Photo-Skepsis relativiert werde.

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Tischels Unterscheidung zwischen fiktionsinterner und -externer Funktion der Photographie leistet zweierlei. Zum einen beschreibt sie die Photographie als einen weiteren Fall der metaphorischen Poetologie Sebalds. Zum anderen führt sie die Möglichkeit einer doppelten Lektüre der Photographien ein, die auf unterschiedlichen analytischen Ebenen gegenläufige Kräfte entwickeln können.

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Nicht ganz unverfänglich ist es indes, mit Blick auf Sebald mit dem Begriff der Fiktion zu arbeiten, produzieren dessen Texte doch gerade eine gezielte Unklarheit über die Grenze zwischen dem Dokumentarischen und dem Fiktiven. Eine terminologische Alternative für den von Tischel anvisierten Sachverhalt läge vielleicht in der narratologischen Differenzierung von histoire und discours. Denn Tischels Frage zielt ja genau auf das Verhältnis zwischen dem, was von den Photographien erzählt wird, und dem, wie vermittels der Photographien erzählt wird.

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Zu bedenken wäre des Weiteren, ob nicht schon auf der Ebene des discours ein skeptischer Reflex, eine reflexive Skepsis in das Schreiben mit Photographien eingebaut ist. Die Photographien haben zwar auf der diskursiven Ebene einen »Realitätseffekt«, verdecken jedoch nicht die medialen Bedingungen seines Zustandekommens, sondern stellen sie thematisch aus. Damit wiederum wird die photographische ›Emanation‹ selbst als Effekt eines spezifischen ästhetischen Text-Bild-Verfahrens kenntlich gemacht. Photographien, so ließe sich auch im Sinne von Doren Wohllebens Analyse des »Effet de flou« (S. 127–143) und Jan Ceuppens’ Blick auf die »Realia« (S. 241–258) zuspitzen, werden bei Sebald nie im Sinne eines naiven, sondern stets in der Form eines reflektierten Realitätseffektes eingesetzt.

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Ähnlich argumentiert auch Albes, die Sebalds Elementargedicht Nach der Natur in die Tradition eines autobiographischen Schreibens stellt, das die Aporien der Selbstrepräsentation immer schon mitreflektiert. In der avancierten Form von Sebald heißt dies: Erst kommt die Schrift, dann das autobiographische Ich. Diese Struktur teilt Sebalds Text mit anderen autobiographischen Texten, etwa Rousseaus Confessions. In der Art und Weise indes, wie »Sebalds Selbstportrait seine Referenzlosigkeit offen zu Schau trägt, geht es über Rousseaus autobiographische Experimente hinaus« (S. 50). Interpretatorisch beizukommen ist einer solcherart reflektierten Autobiographie nach Albes nur, wenn man die Autobiographie mit de Man nicht als Textsorte, sondern als Lese- und Verstehensfigur begreift.

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Aus dieser Perspektive wird über den offen autobiographischen dritten Teil hinaus der gesamte Text als ein großes Selbstportrait lesbar, allerdings als ein fingiertes Portrait, ein »Portrait ohne Modell« (S. 48). Genau in dieser inszenierten Modell- beziehungsweise Referenzlosigkeit, die gleichwohl mit dem Begriff des Fiktiven nicht treffend beschrieben ist, liegt nun die besondere Qualität des Elementargedichts. Hergestellt wird diese Referenzlosigkeit, so kann Albes zeigen, »mittels der in den Text integrierten Bildbeschreibungen«, die stets »Zweifel am referentiellen Bezugspunkt des vom Erzähler Beschriebenen aufkommen« (S. 50) lassen.

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Albes’ abschließende Beobachtung, dass die »erzählerischen Beschreibungen der Bildlandschaften« (vor allem von Altdorfers Alexanderschlacht) psychologisch auf undurchsichtige und unkontrollierbare »Mechanismen der Verdrängung und Wiederholung« (S. 75) im schreibenden Ich verweisen, ließe sich durch die von Tischel angeregte Differenzierung zweier Analyseebenen der Bilder präzisieren. Denn nur auf der Ebene der histoire erscheint das undurchsichtig »Dunkle« (S. 74) als eine konstitutive Voraussetzung für das schreibende Ich. Auf der Ebene des discours jedoch ist dieses Dunkle selbst als Effekt einer ästhetischen Bildstrategie lesbar. Auch hinsichtlich seiner Psyche bleibt das autobiographische Portrait »ohne Modell«.

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Melancholie
als Maskenspiel

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Programmatischen Charakter für das Projekt einer verfahrensorientierten Lektüre Sebalds haben die Beiträge der Herausgeber. Öhlschläger beschreibt unter dem von Benjamin entlehnten Titel »Der Saturnring oder etwas vom Eisenbau« den von Sebald immer wieder verhandelten Zusammenhang von Destruktion und Konstruktion als Prinzip einer »poetischen Zivilisationskritik« (S. 190). Dieser Zusammenhang wird – und auch dies ist ein weiterer Fall von Sebalds metaphorischer Poetologie – von Sebalds Texten auf thematischer Ebene expliziert und zugleich auf formaler Ebene reflektiert. Durch diese doppelte, sowohl thematische als auch formale Verarbeitung gelingt es Sebald, den eigenen Standpunkt genau mit dem zu infizieren, worauf er kritisch Bezug nimmt. So schließt Sebalds poetische Zivilisationskritik eine skeptische Perspektive auf die eigene Literatur mit ein. Denn diese hat in ihren Verfahren unabdingbar »selbst Teil […] an der Dialektik von Konstruktion und Destruktion« (S. 194) der von ihr beschriebenen Geschichte.

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Genau diesem doppelten Anspruch – den Zusammenhang von Zerstörung und Zeugung zu thematisieren und ihn zugleich performativ für den Text selbst nutzbar zu machen – entspricht die ins Literarische gewendete Technik der bricolage. In ihr entfaltet sich die »konstruktive Dimension des Umgangs mit den Trümmern der Geschichte«, der eben »nicht der Konstruktionsarbeit der Ingenieurs, sondern der ars combinatoria des Bastlers« (S. 195) nachempfunden ist.

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Begleitet wird eine solche Bastelei von einer melancholischen Grundstimmung. Ausgehend von dieser Stimmung erarbeitet Niehaus in seinem Beitrag den analytischen Nutzen einer Kategorie, die systematisch wie historisch vor der für Sebald unzureichenden Differenzierung von Dokument und Fiktion liegt: Schillers Kategorie der sentimentalischen Dichtung. »Sentimentalisch ist«, so referiert Niehaus Schiller, »die Erfahrung des verlorenen Objekts, an dem gleichwohl festgehalten wird.« Die naive Dichtung hingegen, so zitiert Niehaus Schiller, zielt auf »die lebendige Gegenwart des Objekts in unserer Einbildungskraft« (S. 174).

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Das Sentimentalische wäre mithin eine Kategorie der Distanz, Differenz, Absenz, Reflektion, Vermitteltheit, Medialität und Konstruktivität; das Naive hingegen erscheint als Kategorie der Nähe, Identität, Anwesenheit, Imagination, Unmittelbarkeit, Amedialität, Naturalität. Beschrieben wird mit diesen Kategorien nicht der Charakter eines Werkes, sondern der Status einer Aussage und die durch diese Aussage transportierte »Empfindungsweise« (S. 175). Differenzkriterium zwischen den beiden Dichtungshaltungen ist mithin, ob sich das »Subjekt des ausgesagten Aussagevorgangs« bemerkbar macht (sentimentalisch) oder ob es sich unbemerkt hält (naiv). »Man darf es daher als ausgezeichnetes Kennzeichen des Sentimentalischen auffassen, wenn der Dichter ›ich‹ sagt, um sich als denjenigen zu bezeichnen, der spricht.« (S. 176)

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Wer die Probe aufs Exempel machen will, wie erklärungskräftig die von Niehaus vorgeschlagene Kategorie für Sebalds Texte tatsächlich ist, der lese als Beispiel eines dezidiert nicht sentimentalischen Schreibens Rosas Tochter, den Bericht über eine wiedergefundene Kindheit von Jeremy Josephs und Susi Bechhöfer. Hier gibt Josephs, der Autor des Textes, lediglich im Vorwort zu Protokoll, dass er sich »sowohl für den Holocaust […] als auch für die menschliche Psyche interessiere«, 1 um sich dann in der Nacherzählung von Susi Bechhöfers Geschichte, aus der Sebald einige Details für Austerlitz übernommen hat, als Subjekt des ausgesagten Aussagevorgangs gänzlich unsichtbar zu machen. Das klingt dann so: »Susi lief oft ein Schauder über den Rücken, wenn sie daran dachte, daß sie den Greueln des Holocaust um Haaresbreite entkommen war.« 2 Solche Sätze haben nichts mit der sentimentalischen Sprechhaltung in Sebalds Prosa gemein. Aus ihnen ergibt sich vielmehr ein Sprachklischees anhäufender Text, der in seiner Machart die von ihm verhandelten Sachverhalte gänzlich verfehlt.

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Indem Niehhaus das Sentimentalische als charakteristische Struktur einer Aussage beschreibt, gelingt ihm ein neuer Blick auf das Verwandtschaftsverhältnis zwischen all den »ich« sagenden Figuren der sebaldschen Prosa, etwa in Austerlitz zwischen dem Ich-Erzähler, dem ich-erzählenden Austerlitz und der in Austerlitz’ Erzählung bisweilen ich-erzählenden Vĕra. Alle diese Ichs reden von einer melancholischen Position aus; alle halten sie sprachlich am Verlorenen fest. Diese Identifikation reicht über alle Erzählinstanzen hinweg bis hin zum Autorsubjekt; aus ihr entsteht eine »strukturelle Unfähigkeit zur Fiktion« und ein »Sog auf Referentialität« (S. 184), dessen reflektierte Wahrhaftigkeit, das sei hier am Rande vermerkt, weit über die Realitätsbehauptungen von Josephs unbeholfenem Dokumentartext Rosas Tochter hinausreicht. Dabei bleibt mit Blick auf Sebalds Schreibprojekt zu bedenken, so betont Niehaus, dass hier das Autorsubjekt nur in der sentimentalischen Empfindungsweise, im Ton zu Wort kommt, nicht aber mit Blick »auf das Faktische, auf die Biographie und den Personenstand.« (S. 186)

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Der offensichtlichen, narratologisch beschreibbaren Differenzierung von verschiedenen Erzählebenen (Erzählen, erzähltes Erzählen, erzähltes erzähltes Erzählen) stellt Niehaus also eine gegenläufige, sprechakttheoretisch gefasste Identifizierung entgegen (überall macht sich das Subjekt des ausgesagten Aussagevorgangs bemerkbar). Dieser Analyse wäre – etwa aus der Perspektive des Beitrags von Albes – hinzuzufügen, dass das melancholische Ich in Sebalds Texten nicht die Voraussetzung des Schreibens ist, sondern sich – vermittelt über die narrativen Fügungen der Texte – offen als eines seiner Effekte zu erkennen gibt. In Variation der Überlegungen de Mans zur Autobiographie hat man es bei Sebald mit Melancholie als Maskenspiel zu tun.

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Sebald als Theoretiker

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Nicht alle Beiträge des von Niehaus und Öhlschläger herausgegebenen Sammelbandes sind in gleichem Maße dem Projekt einer formbezogenen Analyse von Sebalds Schreibprojekt verpflichtet. Dennoch ergibt sich ein vielfach über die Grenzen der einzelnen Beiträge reichender, schlüssiger und neue Fragestellungen erschließender Zugriff, der in der Analyse sebaldscher Poetologien der Zerstörung konvergiert. Diese Poetologien der Zerstörung, so lässt sich der interpretatorische Gewinn des Sammelbandes resümieren, vollziehen ein zweifaches Widerspiel: Zum einen etablieren sie einen konstitutiven Wechselverweis zwischen Destruktion und Konstruktion; zum anderen verdoppeln sie diesen Wechselverweis, indem sie ihn thematisch verhandeln und zugleich als poetisches Verfahren formal nutzen. So wird der Band von Niehaus und Öhlschläger für die derzeit profilierende Sebaldforschung nicht nur in einzelnen Beiträgen, sondern auch in der von ihm vorgeschlagenen Lektürehaltung zu berücksichtigen sein.

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Ein letzter Effekt dieser Lektürehaltung sei noch erwähnt: In ihr verstärkt sich die für die Sebaldforschung ohnehin schon zu verzeichnende Tendenz, auf die primäre literarische Bastelei mit einer sekundären methodologischen bricolage zu reagieren. So argumentiert zum Beispeil allein Ceuppens’ Beitrag mit Benjamin, Barthes, Riffaterre, de Man, Lacan und Žižek; alle diese Autoren tauchen auch in anderen Beiträgen des Bandes auf, des Weiteren, um nur die Prominentesten zu nennen, Butler, Lévi-Strauss, Krakauer, Foucault (ausführlich der Beitrag von Jonathan J. Long: »Disziplin und Geständnis. Ansätze zu einer Foucaultschen Sebald-Lektüre«), Kristeva und Derrida. Dabei werden diese Theoretiker zumeist als Ausgangspunkt für einen Kommentar zu Sebalds Texten genutzt. Dass dies ein ertragreiches Unternehmen sein kann, zeigt nicht zuletzt der hier rezensierte Band.

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Es wäre nun zu erwägen, ob sich das Verfahren nicht mit gleichem Recht umkehren ließe: Wie stünde es um Ansätze zu einer sebaldschen Foucault-Lektüre? Welchen Kommentar gibt Sebald zu Barthes’ Theorie photographischer Referentialität? Wie beschneidet er – so ließe sich etwa von Niehaus her fragen – de Mans Lektüretelos des stets autopoetologisch organisierten Textes? Inwiefern also bieten die Theorien nicht nur einen Zugang zu Sebald, sondern auch Sebald einen Zugang zu den Theorien?

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Im Sinne der von Niehaus und Öhlschläger vorgeschlagenen Lektürehaltung wären solche Fragen nicht nur »thematisch«, sondern vor allem »poetologisch und verfahrenstechnisch« (S. 8) zu stellen. Denn es zeichnet Sebald als Theoretiker aus, dass dessen literarisch-ästhetische Techniken komplexen Argumenten gleichkommen.



Anmerkungen

Jeremy Josephs / Susi Bechhöfer: Rosas Tochter. Bericht über eine wiedergefundene Kindheit. München, Zürich: Piper 1998, S. 9.   zurück
Ebd., S. 188.   zurück