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Hauptwort der Moderne

  • Susanne Knaller / Harro Müller (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs. München: Wilhelm Fink 2006. 332 S. 13 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 3-7705-4227-4.
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»Authentizität« ist Alessandro Ferrara zufolge das »Hauptwort der Moderne« und vor allem in den letzten fünfzehn Jahren ist es – nach einem ersten Höhepunkt in der Debatte, angeregt durch Adornos Ästhetische Schriften (1970) und Lionel Trillings Das Ende der Aufrichtigkeit (1972) in den 1970er Jahren – auch zu einem Hauptwort der Kulturwissenschaften geworden. Besonders im medien- und kulturwissenschaftlichen Kontext erschienen seit 1990 und heute zahlreiche Veröffentlichungen, die sich dem Thema Authentizität unter den verschiedensten Blickwinkeln näherten. 1 Der Paderborner Wilhelm-Fink-Verlag hat nun einen Sammelband herausgebracht, dessen Beiträge einen konzisen Überblick über die verschiedenen Diskussionen zum Authentizitätsbegriff geben. Schon ein Blick in das Inhaltsverzeichnis verrät, dass die Authentizitätsforschung vielfältige Perspektiven besitzt. Die 15 Autorinnen und Autoren nähern sich dem Phänomen begriffsgeschichtlich, kulturhistorisch, medien- oder literaturwissenschaftlich, methodologisch und erkenntnistheoretisch / ontologisch.

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Mediale Authentizität

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Da die Diskussion um Authentizität neben der Ethnologie vor allem in der Kunst geführt wurde und wird, verhandeln etliche der Beiträge medien- und literaturwissenschaftliche Fragestellungen: Jochen Mecke diskutiert den Authentizitätsbegriff als »zentrale […] Kategorie moderner Literatur« (S. 82) – vornehmlich an französischen Texten (Rousseaus) wie auch Barbara Kuhn, die sich den autobiografischen Schriften Robbe-Grillets widmet. Jürgen Fohrmann weitet seine bisherigen Untersuchungen zur medialen Verarbeitung des Holocaust in seinem Beitrag zu einem Dokumentarfilm über den Eichmann-Prozess aus und kontrastiert den »Arbeitsethos« Eichmanns mit den Theorien Max Webers und Kants Aufklärungsbegriff, quasi im Trialog. Sein Bonner Kollege Michael Wetzel, der bereits Mitte der 1980er Jahre zum Authentizitätsbegriff in der Philosophie und Literatur der Aufklärung und Frühromantik gearbeitet hat, 2 stellt Überlegungen zum Verhältnis von Autorschaft und Authentizität an: Er konstatiert eine Verlagerung des Kunstbegriffs vom Material auf den Autor des Werks. Wetzel bezieht hierzu medienwissenschaftliche Theorien von Derrida und Didi-Huberman mit ein und entwickelt einen Authentizitätsbegriff, der das Medium schließlich als »Zeugen« für die darin abgebildete Wirklichkeit entlastet.

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Wetzels Text, der zweite des Bandes nach einer systematischen und genealogischen Einführung der Mitherausgeberin Susanne Knaller, schlägt schon gleich eine Brücke zwischen den eher am Gegenstand orientierten und den methodologisch ausgerichteten Beiträgen zur Authentizitätsforschung. Knaller, die mit dem Mitherausgeber Harro Müller im letzten Jahr bereits dem Supplementband des Lexikons Ästhetische Grundbegriffe 3 den Beitrag »Authentisch / Authentizität« beigesteuert hat, bietet in ihrem Artikel eine umfassende Genealogie des Begriffs und versucht diesen schließlich in einen nicht normativen Begriff zu überführen – geleitet an den »Wirklichkeitsfotografien« von Jean-Christoph Ammann, Beat Streuli und Hal Foster. (S. 32 ff.) Ihr Fazit stellt den in der Medienwissenschaft aktuellen Diskussionsstand des Konzeptes dar:

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Authentizität ist im 20. Jh. kein Zustand, der aus dem einen, wahren, guten, richtigen, schönen Bestimmungsgrund resultiert, sondern Ergebnis eines an einem Ort und zu einer bestimmten Zeit stattfindenden Beglaubigungsprozesses, der garantielos immer wieder einsetzen kann. [...] Ein solcher nicht-normativer ästhetischer Authentizitätsbegriff wäre demnach ein an Raum und Zeit gebundener Begriff, der konstruktiv Medialität reflektiert. (S. 32 f.)
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Echtheit als Konstruktion

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Dass Authentizität nicht eine Eigenschaft des Kunstwerks darstellt, sondern ein Effekt ist, evoziert in dessen Betrachter, mithin sogar durch »authentisierende Ästhetiken«, also ästhetische Verfahren wie Para- und Intertextualität, Somatisierung, provozierte double binds usw. erst erzeugt wird, ist eine Position, die erst im Anschluss an den Poststrukturalismus entstanden ist. Waren die Authentizitätsbegriffe von Trilling und Adorno als normative noch im Wesentlichen »ethische Begriffe«, so hat sich dieses Verständnis vor allem mit den Theorien Derridas und später Baudrillards verschoben. Harro Müller referiert und kritisiert daher in seinem Beitrag Adornos Authentizitätsverständnis als zu eng: Adorno nutze dieses auf je unterschiedliche Weise zur Kritik an Heideggers »Jargon der Eigentlichkeit« und Benjamins Aura-Begriff, kontrastiert mit »Authentizität« aber im Sinne seiner Kulturkritik im Wesentlichen mit dem »inauthentischen« Kitsch und der »Kulturindustrie« und stellt damit Forderungen an »authentische Kunst«, die wiederum Harro Müller als unerfüllbar, verkürzt und normativ bewertet:

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Adorno überschätzt die Wirkungsmöglichkeiten von Kunst und unterschätzt die Eigenkomplexität anderer Teilsysteme [...]. Seine Leitdifferenz authentisch / inauthentisch mit ihrem Fortschrittsannahmen und massiven Ausschließungsverfahren wird man kaum einfach fortschreiben können, ihre Nähe zum religiösen Code immanent / transzendent auch in säkularisierter Form ist problematisch. [...] Ob Adorno die normativen Voraussetzungen seiner Theorie hinreichend expliziert hat, scheint mir zweifelhaft zu sein, ebenfalls mag er das performative Element bei seinen theoretischen Überlegungen nicht hinreichend bedacht haben. (S. 66 f.)
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Volker Wortmann, der bereits in seiner Dissertation (vgl. Anm. 1) auf einen nicht-normativen, konstruktivistischen Authentizitätsbegriff rekurriert, verdeutlicht, welche Vorteile diese Sichtweise im Gegensatz zu der Adornos bietet, indem er die Ikonografie des Fotografischen untersucht (eines Mediums, das – in seiner prä-digitalen Ära – wegen seines indexikalischen Charakters oft als das »authentische Medium an sich« gegolten hat). Fotografie ist Roland Barthes zufolge »eine Beglaubigung von Präsenz«, 4 ohne jedoch in einen handfesten »Bilderstreit« zu geraten, wenn sie aus der Alltagswelt in einen Kunstdiskurs überführt wird. Wortmann stellt das Phänomen der Bildbeschriftung medienhistorisch als wichtiges Authentisierungsverfahren vor, mit dem die »Beglaubigung von Präsenz« bereits im 8. Jahrhundert konstruiert wurde. Seine Untersuchung beginnt beim Bilderstreit des zweiten Konzils von Nizäa und führt über die Frage der Authentizität einer Reliquie wie dem Turiner Grabtuch zur Fotografie und zum Film einschließlich deren digitaler Erweiterungen. Gerade anhand letzterer macht Wortmann die Brisanz der Authentizitätsfrage deutlich, wenn es um die (überraschend selten gestellte!) Frage von Echtheit bei den Folterbildern aus Abu Ghraib geht – Bilder, die den »Nimbus des Fotografischen«, hier: ihren subversiven Gebrauch als Enthüllungsdokumente, »nicht verloren« haben. (S. 184) »Authentizität in den Bildmedien kann nicht medienontologisch, es muß vielmehr als Effekt eines kulturellen Handlungsmusters begriffen werden, das nicht notwendig an Technizität gebunden ist« (S. 184), schließt Wortmann. Diese Handlungsmuster perpetuieren sich seit demfrühen Mittelalter, ihre technischen Verfahren lösen einander nicht ab, sondern ergänzen sich.

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Authentizität als Kunstform

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Die Beiträge von Hans Ulrich Reck, Rosalind Kraus und Andrea Zapp beschäftigen sich mit Kunstformen und -gattungen, die mit dem Gestus des Authentischen spielen. Es ist nämlich eine Besonderheit selbstreflexiver Kunst seit der Romantik, dass sie ihre Konstruktionsbedingungen immer mitinszeniert. Vollends ins Zentrum der Werke ist dies in der postmodernen Kunst, im Pop-Art und im Camp gerückt. Recks umfangreicher Text widmet sich diesen Kunstwerken mit kritischer Distanz. Dabei benutzt er einen Authentizitätsbegriff, welcher – wie derjenige Adornos – normativ aufgeladen ist, und konstatiert, »[d]aß das Authentische aus dem Reich der Massenmedien und dem Mainstream der Popmusik in den letzten Jahren restlos verschwunden ist und nicht einmal mehr als Schein vorgespielt wird« (S. 249). Er sieht dies als Konsequenz des konstruktivistischen Authentizitätsverständnisses, jener »Methoden und Praktiken, die nicht mehr auf die körperliche Präsenz des Kunstwerks verweisen, sondern die den Künstler ebenso wie den künstlerischen Prozeß, also Urheberschaft, Werk und Wirkung auf den Rezipienten verschieben« (S. 250) und gibt die Schuld daran einer »Kultivierung der Meta-Ebene« (S. 252), die mit dem Camp und der Pop-Art begonnen habe.

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Diesen eher kritischen Analysen schließt sich auch Kraus an. Sie eröffnet ihren Beitrag mit einem Referat von Milan Kunderas Kitsch-Kritik, wie er sie in Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins vertritt und fragt, welche Möglichkeiten Kunst in ihrem »postmedialen Stadium« (S. 283) – dem von Wetzel konstatierten Übergang vom Material auf den Autor – noch besitzt, sich dem Kitsch durch postmodernistische Doppelcodierung zu entziehen. Hierzu führt sie zwei Künstler an, den irischen Fotografen James Coleman und den südafrikanischen Trickfilmer William Kentridge. Ersterer versucht, dem filmischen »suture«-Mechanismus (ein ästhetisches Verfahren, das durch Montagetechniken die Verschmelzung von Zuschauer- und Bildraum suggeriert) zu entgehen, um den Betrachter seiner Bilder vor Äugen zu führen, auf welche Weise die Bildmedien – vor allem der Film – einer »Kultur des Spektakels« (S. 285) verfallen waren / sind. Kentridge wiederum macht auf die Konstruiertheit des Bildes aufmerksam, indem er das Auslöschen und Korrigieren eines Filmkaders – anders als in Mainstream-Zeichentrickfilmen – mit vorführt und damit ebenso reflexive Momente in seine Kunst einführt.

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Am Ende der Authentizität?

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Im Abschlussbeitrag des Bandes stellt Andrea Zapp drei ihrer eigenen Kunstwerke vor, die sich jeweils mit einem Aspekt von Authentizität im Medium Internet befassen. Gerade dieses Medium habe mit seiner Eigenschaft, Bilder ort- und zeit-ungebunden zu präsentieren, einen erheblichen Schub bei den so genannten »Fensterformaten« ausgelöst. Der Alltag und die Privatsphäre sind zum Gegenstand öffentlichen Interesses geworden, ihre Banalität steht oft genug als Garant für ihre Authentizität. Zapp »entlarvt« die Mechanismen, die diese suggerieren, auf intelligente Weise und führt die »Bild- und Informationsverfremdung [...] mit Hilfe des Computers« ihrem Publikum vor Augen: »Authentizität ist seiner anfänglichen Rolle der sowohl ästhetischen wie moralischen Wertbemessung des Bildes bzw. der Informationsvermittlung entwachsen und aufgegangen in genre- und medienspezifischen Subkategorien.« (S. 317)

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Der Sammelband aus dem Fink-Verlag, von dem hier nur einige Autoren und Positionen vorgestellt wurden, vermag einen guten Einblick in den Stand der Diskussion wie auch in die facettenreiche Bedeutungsvielfalt des Authentizitätsbegriffs zu vermitteln. »Authentizität ist ein Begriff, der seine paradoxe Position zwischen subjektiver Legitimierung und objektiver Aussage nicht aufgibt. Er wird in seiner reflexiven Selbstthematisierung als polemischer Gegenbegriff ebenso greifbar wie als legitimierende Größe« (S. 35), schreibt Susanne Knaller. Und dennoch verdeutlichen die einzelnen Beiträge des Bandes mal subtil, mal vordergründig, dass es eine Tendenz im Verständnis des Begriffes gibt, welche sich mehr in eine nicht-normative, konstruktivistisch orientierte Richtung bewegt. Authentizität ist auch deshalb immer noch »Hauptwort«, weil sich an ihr medienontologische Reflexionen und damit Medienkompetenz entwickeln und messen lassen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Charles Taylor: Das Unbehagen an der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991; Manfred Hattendorf: Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung. Konstanz: UVK 1994; Jan Berg / Hans-Otto Hügel / Hajo Kurzenberger (Hg.): Authentizität als Darstellung. Hildesheim 1997; Georg Stauth: Authentizität und kulturelle Globalisierung. Paradoxien kulturübergreifender Gesellschaft. Bielefeld: transcript 1999; Sigrid Lange: Authentisches Medium. Faschismus und Holocaust in ästhetischen Darstellungen der Gegenwart. Bielefeld: Aisthesis 1999; Erika Fischer-Lichte / Isabell Pflug (Hg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen: Francke 2000; Eberhard Ostermann: Die Authentizität des Ästhetischen. Studien zur ästhetischen Transformation der Rhetorik. München: Fink 2002; Jutta Schlich: Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte. Tübingen: Niemeyer 2002; Volker Wortmann: Authentisches Bild und authentisierende Form. Köln: Halem 2003; Thomas Knieper / Marion G. Müller (Hg.): Authentizität und Inszenierung von Bilderwelten. Köln: Halem 2003.   zurück
Klaus Michael Wetzel: Autonomie und Authentizität. Untersuchungen zur Konstruktion und Konfiguration von Subjektivität. Frankfurt/M., Bern, New York: Peter Lang 1985.   zurück
Susanne Knaller / Harro Müller: Authentisch / Authentizität. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 7: Supplemente, Register, hg. von Karlheinz Barck u. a. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 40–65.   zurück
Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 97.   zurück