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Kalter Krieg in Bibliotheken

Forschung zwischen Wissenschaft und Oral History

  • Peter Vodosek / Wolfgang Schmitz (Hg.): Bibliotheken, Bücher und andere Medien in der Zeit des Kalten Krieges. (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 40) Wiesbaden: Harrassowitz 2005. 216 S. 43 Abb. Gebunden. EUR (D) 59,00.
    ISBN: 3-447-05287-2.
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Hintergrund

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Der Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte (nach der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel genannt, wo ihre Tagungen stattfinden, seit einigen Jahren fusioniert mit dem Wolfenbütteler Arbeitskreis für Buchgeschichte) veranstaltet seit vielen Jahren regelmäßige Konferenzen zu historischen Fragestellungen. Nach dem Vorbild des internationalen Kongresses Livre, Edition, Bibliothèques: Lecture durant la Guerre Froide, der 1999 in Paris stattfand, organisierte der Arbeitskreis 2002 in Wolfenbüttel eine Tagung, deren Vorträge den Kalten Krieg in deutschen Bibliotheken, Archiven und Verlagen beleuchten und damit Facetten ansprechen sollten, die auf der Pariser Tagung kaum behandelt worden sind. Diesen Hintergrund umreißt Peter Vodosek in seiner Einleitung.

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Buch- und Mediengeschichte scheint ein ganz selbstverständliches Forschungsthema der Buch- und Medienwissenschaften zu sein. Dagegen unterlag die Befassung mit Bibliotheksgeschichte einer wechselvollen Geschichte. Als 1893 erstmals in Deutschland die Ausbildung von Bibliothekaren durch einen preußischen Regierungserlass institutionalisiert wurde, nahm Bibliotheksgeschichte einen breiten, ja überdimensionierten Raum im Curriculum ein. Das Studium der Bibliotheksgeschichte sollte vor allem Kenntnisse der historisch gewachsenen Bestände vermitteln. Die lange bestehende segmentäre Differenzierung des Bibliothekssystems hatte nämlich eine Fülle von Sammlungen mit individuellen Erschließungssystemen und nur Insidern bekannten Profilen entstehen lassen, die kennen musste, wer erfolgreich Zugang zur Information erlangen bzw. anderen verschaffen wollte. Die starke Akzentuierung der Bibliotheksgeschichte war auch der Auffassung verpflichtet, dass nur aus der Kenntnis der Vorgeschichte heraus ein Verständnis für gegenwärtige Strukturen zu erlangen sei. Sicher sollten darüber hinaus besonders die historischen Fächer ein gemeinsames Selbstverständnis im gerade entstehenden Berufsstand erzeugen.

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Seit den 1980er-Jahren wird der Anteil historischer Fächer, besonders der Bibliotheksgeschichte, in bibliotheksbezogenen Studiengängen mehr und mehr reduziert, damit für die wachsenden Erfordernisse der EDV-Schulung Platz gewonnen wird. Unabhängig davon begannen eine Reihe von Großprojekten, die die historischen Buchbestände besser zugänglich machen sollten, allen voran das Handbuch der historischen Buchbestände 1 . Was die Literaturarchive angeht, entstand in den 1990er-Jahren ein neuer Dialog zwischen ihnen und der Literaturwissenschaft, die lange Zeit archiv-, bibliotheks- und editionswissenschaftliche Inhalte in der akademischen Lehre vernachlässigt und sich als Interpretationswissenschaft verstanden hatte, ohne der Frage nachzugehen, wie die Texte, die sie nun interpretiert, aus Archivgut konstruiert worden sind 2 . Insgesamt gesehen kann man also nicht sagen, dass bibliotheks- und archivgeschichtliche Fragestellungen vernachlässigt werden; daran hat der Wolfenbütteler Arbeitskreis einen fruchtbaren Anteil.

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Überblick

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Der vorliegende Sammelband enthält elf der 14 Vorträge der Wolfenbütteler Tagung; sie fand 2002 statt. Man kann nicht erwarten, dass hier die Bilanz einer Forschung zum Thema gezogen wird – diese gab es bisher nur in geringem Umfang. Vielmehr sprechen die Beiträge viele Aspekte erstmals an, präsentieren Ergebnisse aus Archiv- und Literaturstudien oder Erinnerungen von Zeitzeugen. Es handelt sich keineswegs allein um wissenschaftliche Artikel, vielmehr zum Teil um Oral-History-Beiträge, aus denen Details zu erfahren sind, die in keinem Archiv dokumentiert und bisher in keiner Publikation angesprochen wurden. Insofern kommt dem Sammelband selbst ein Stück weit eine Quellenfunktion zu. Dies bedeutet andererseits, dass ein Teil der Beiträge wiederum eine quellenkritische Lektüre erfordert. Es wird lohnend sein, dasselbe Thema in einigen Jahren erneut zu behandeln, wenn – hoffentlich – weitere Abhandlungen, Berichte und Studien vorliegen und vielleicht erstmals eine umfassendere Sicht und eine Bilanz gewagt werden kann. Fragestellungen, über die bereits aktuelle Untersuchungen vorliegen, wurden auf der Tagung nicht erneut behandelt, so z.B. die Zensur 3 oder der vom Verfall der Infrastruktur geprägte Zustand des Bibliothekswesens in der DDR 4 , dessen Entwicklung der Wolfenbütteler Arbeitskreis in früheren Tagungen und Publikationen thematisiert hat 5 . Ähnlich wie bei einem früheren, nicht vom Wolfenbütteler Arbeitskreis veranstalteten Sammelband über Bibliotheken in der DDR nehmen hier Zeitzeugenberichte im Sinn von Oral History einen nennenswerten Raum ein 6 .

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Das Themenspektrum reicht von biografischen Studien über Bibliothekare, deren Berufsweg vom Kalten Krieg durchkreuzt wurde, über Beiträge zur Presse- und Hörfunkgeschichte sowie zur Stellung der Archive in der DDR bis zu Einwirkungen der McCarthy-Ära auf die Amerika-Häuser und ihre Bibliotheken in Deutschland. Der Schwerpunkt liegt bei Bibliotheken. Die Qualität der Beiträge ist außerordentlich verschieden. Während einige Artikel wissenschaftlich exzellente Forschungsergebnisse vorstellen, muss man andere Vorträge als in den ideologischen Grenzen der DDR verharrende persönliche Reminiszenzen einstufen, die ohne quellenkritische Interpretation keinen Wert beanspruchen können. Wolfgang Schmitz stellt den Einzelbeiträgen einen gerafften Überblick über die Rolle der Medien im Kalten Krieg voran (»Medien im Kalten Krieg«, S. 11–15) und betont, dass die Rolle der Bibliotheken und Archive bisher zu wenig untersucht wurde.

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Theoretischer Bezugsrahmen

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Einige Autoren versuchen, sich eines theoretischen Bezugsrahmens für den Begriff ›Kalter Krieg‹ zu vergewissern. Überraschenderweise nehmen sie dabei wiederholt auf Ernst Nolte 7 Bezug; die (schon vor der Tagung erschienenen) Standardwerke von Loth 8 und Junker 9 bleiben bei den meisten Autoren unbeachtet. Lediglich Edgar Lersch beruft sich ausdrücklich auf diese Historiker.

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Biografische Ansätze: Rudolf Hoecker

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Drei Aufsätze gehen von biografischen Fragestellungen aus. Friedhilde Krause (»Der Kalte Krieg und die Öffentliche Wissenschaftliche Bibliothek zu Berlin unter dem Direktorat von Rudolf Hoecker«, S. 61–72) würdigt Rudolf Hoecker, der von 1945 bis 1950 Direktor der Berliner Staatsbibliothek war. Man erfährt, dass Hoecker, ein ausgezeichneter Fachmann, wegen seiner distanzierten Haltung zum Naziregime beruflich kaltgestellt, dann im Mai 1945 als Direktor der Staatsbibliothek eingesetzt worden war und schließlich auf Betreiben der SED entlassen wurde, in die einzutreten er sich stets geweigert hatte. Krause geht es um eine Würdigung der Person, deren Entlassung – wenn sie schon unvermeidlich gewesen sei – doch in Ehren hätte geschehen sollen, statt dass Hoecker »mit Schimpf und Schande davongejagt« (S. 72) wurde. Das ist menschlich mitfühlend gemeint, doch wo Krause den Vorgang zeitgeschichtlich hätte einordnen sollen, übernimmt sie die offizielle Sicht der DDR, nach der Funktionsträger der DDR durch die angeblich vom Westen provozierte Blockade, durch die einseitige Einführung der D-Mark, durch die Unmöglichkeit, im Westteil Berlins zu wohnen und im Ostteil ein hohes Amt zu bekleiden, zu größtem Misstrauen gegenüber Personen aus dem Westen wie Hoecker gezwungen worden seien. Das verdreht die historischen Zusammenhänge; insofern schreibt Krause nicht über den Kalten Krieg, sondern setzt ihn aus DDR-Perspektive fort, indem sie in den ideologischen Befangenheiten des SED-Staats befangen bleibt und nicht einmal die Frage stellt, ob es sich bei der Entlassung Hoeckers um Unrecht handelte.

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Biografische Ansätze: Hintergründe und Zwänge

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Hintergründe und Zwänge macht dagegen Alexandra Habermann deutlich, die Kurzbiografien von zehn Bibliothekaren darstellt (»Wanderer zwischen zwei Welten – Über die innere Zerrissenheit von Menschen im Kalten Krieg«, S. 81–113). Sie sind teils aus der Literatur, teils aus Archiven kenntnisreich rekonstruiert. Hier wird deutlich, dass der seltene Wechsel von West nach Ost bei manchen Bibliothekaren durch ungeahnte Karrieresprünge motiviert war, die die Personen mit politischer Loyalität honorierten (Horst Kunze, der nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft zunächst in Darmstadt arbeitslos war, bis ihm 1947 der Direktorenposten der Universitäts- und Landesbibliothek Halle angeboten wurde; Kurt Brückmann, der nach seinem Wechsel in die DDR vom Leiter einer Stadtbibliothek rasch zum stellvertretenden Generaldirektor der Deutschen Bücherei Leipzig aufstieg), bei anderen Personen – und teils auch denselben, was wiederum zugleich für Kunze und Brückmann gilt – durch den Glauben an einen guten Sozialismus, der durch die Erfahrung in der sowjetischen Zone bzw. der jungen DDR nicht getrübt wurde. Irritierenderweise übernimmt auch Habermann aus der DDR-Literatur unreflektiert und undistanziert Formulierungen wie »Man kann ihn als Wegbereiter sozialistischer Bibliotheksarbeit bezeichnen…« (S. 93). Gleichwohl hebt Habermann anhand von Zahlen hervor, welche riesigen Wanderungsbewegungen von Ost nach West den wenigen Wechseln in die sowjetische Zone bzw. in die DDR gegenüberstanden, Wanderungsbewegungen, die insbesondere von Hochqualifizierten und darunter auch vielen Bibliothekaren getragen wurden. Und sie zeichnet anhand von Lebensläufen nach, welchen repressiven Vorlauf der Wechsel in den Westen meistens hatte, so bei Luise von Schwarzkoppen, die sich als Leiterin der Tauschstelle der Berliner Staatsbibliothek allein durch ihre kraft Amtes erforderlichen Auslandsbeziehungen in den Augen der SED verdächtig machte.

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Biografische Ansätze: Apologetik

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Reiner Oschmann, ehemaliger Auslandskorrespondent der SED-Zeitung Neues Deutschland, präsentiert in der Sache wenig ergiebige Erinnerungen und Kommentare eines Journalisten, der sich statt der Gängelung durch die SED Gorbatschows Glasnost gewünscht hätte (»Medien im Kalten Krieg: Ost und West im Clinch – und ein DDR-Korrespondent mittendrin«, S. 145–152). Immerhin erfährt man, dass er als Journalist nicht nur für das Neue Deutschland schrieb, sondern – wie auch seine DDR-Kollegen in anderen Ländern – zugleich politische Lageeinschätzungen an die Stasi lieferte. Und, so meint er nach journalistischen Erfahrungen in Ost und West bilanzieren zu können, herrschten heute in westlichen Medien – so zum Beispiel bei der FAZ, oder dem ZDF –»Anpassungsdruck und Konformismuszwang zwar in modifizierter Form, aber keineswegs weniger entschieden als zu DDR-Zeiten« (S. 150). Diese am Gegenstand vorbei gehende Behauptung, die das hier zu thematisierende Verhältnis von innerer zu äußerer Pressefreiheit (Begriffe, die der Autor nicht verwendet) gar nicht in den Blick nimmt, gehört zu dem mehrere Beiträge des Buches kennzeichnenden Zeitzeugen-Charakter, der die Lektüre ebenso spannend wie aufwändig macht und die analytische Arbeit auf den Leser verlagert.

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Massenmedien im Kalten Krieg: Karikaturen

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Mit Kaltem Krieg und Deutscher Frage im Spiegel der politischen Karikatur befasst sich Wolfgang Marienfeld (»Kalter Krieg und Deutsche Frage im Spiegel der politischen Karikatur«, S. 17–46). Anhand ausgewählter Karikaturen aus West- und Ostzeitungen von 1945 bis 1990 skizziert der Autor die bekannten historischen Tatsachen von der Jaltakonferenz bis zur deutschen Wiedervereinigung. Erstaunlicherweise bricht der Autor immer da ab, wo die interessanten Fragen beginnen könnten: Ist der zeichnerische Einfall des Karikaturisten der politischen Aussage angemessen? In welcher ästhetischen Tradition innerhalb der Gattung Karikatur steht das vorliegende Beispiel? Karikatur will zuspitzen und wirken – ist das gelungen? Oder wenigstens: Welche Wirkungspotenziale lagen vor?

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Eva Welsch trägt eine kleine, saubere, detailreiche Studie zum Kalten Krieg im Zusammenhang mit den hessischen Lizenzzeitungen bei (»Der Kalte Krieg im Spiegel der hessischen Lizenzzeitungen«, S. 133–143). Die amerikanische Besatzungsmacht vergab anfangs Lizenzen ausschließlich an Personen, die nicht nur keine Nazi-Belastung haben durften, sondern überhaupt während des Nationalsozialismus nicht als Zeitungsverleger tätig waren. Die Amerikaner meinten, die einzelne Zeitung müsse das ganze Spektrum politischer Meinungen repräsentieren und legten deshalb Wert darauf, dass an einem Redaktionstisch Mitglieder bzw. ehemalige Mitglieder der KPD, SPD und des Zentrums saßen. Das konnte nicht gut gehen, weil die KPD-Mitglieder sich bedingungslos den Weisungen ihrer Partei statt eines journalistischen Berufsethos verpflichtet fühlten. 1947 änderten die Amerikaner ihre Politik und drängten die Kommunisten aus den Redaktionen, zumal sich besonders in Städten wie Frankfurt am Main mit einer liberal-bürgerlichen Tradition laufend Leser über die »Frankfurter Prawda«, wie sie die Frankfurter Rundschau einstuften, beschwerten. Umgekehrt schloss die KPD ihren Mann in der Redaktion der Frankfurter Rundschau aus der Partei aus, nachdem dieser zu einer ordentlichen journalistischen Arbeit übergegangen war.

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Massenmedien im Kalten Krieg: Hörfunk

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Edgar Lerschs Abhandlung über den Kalten Krieg im Hörfunk beider deutscher Staaten bis 1970 gehört zu den herausragenden Teilen des Sammelbandes (»›Aus der Zone für die Zone‹ – Streiflichter zum Kalten Krieg im Hörfunk der beiden deutschen Staaten 1945–1970«, S. 153–172). Lersch skizziert die Forschungslage mit vielen Literaturangaben, benennt offene Fragen und Themen und platziert seine Aussagen vorsichtig und differenziert auf diesem Hintergrund. Er entfaltet thesenartig einen theoretischen und – bei seinem Thema besonders wichtig – medientheoretischen Bezugsrahmen. Sein Thema siedelt er auf der institutionellen Ebene, auf der Ebene der Programminhalte und -schemata und auf der Ebene der Einschaltquoten an, auch auf der Ebene des Personals. Es handelte sich, wie Lersch detailliert aufzeigt, um eine komplizierte Gemengelage, in der Positionen im Ost-West-Konflikt und Auseinandersetzungen zwischen dem Bund einerseits und den Bundesländern sowie den Landesrundfunkanstalten andererseits über die Kompetenzen für die Gestaltung des Rundfunkwesens durcheinander gingen. Besser kann man es methodisch nicht machen.

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Arbeit in Bibliotheken und Archiven:
Krieg um Wörter

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Otto-Rudolf Rothbart (»Kalter Krieg in den bibliothekarischen Besprechungsdiensten«, S. 47–59) beleuchtet Reflexe des Kalten Krieges in den (gleichnamigen!) bibliothekarischen Besprechungsdiensten, die es in beiden deutschen Staaten gab und die wöchentlich oder monatlich von Bibliothekaren verfasste Kurzrezensionen von Neuerscheinungen als Grundlage der Erwerbungsentscheidungen in Bibliotheken brachten. Der Beitrag macht an Beispielen deutlich, in welchem Maß die Rezensionen des Besprechungsdienstes in der DDR ideologisch gleichgeschaltet waren und sich als Instrument einer zentral gelenkten Literaturpropaganda verstanden, während der bundesdeutsche Besprechungsdienst nicht nur Werke aus der DDR, die in der Bundesrepublik in Lizenz erschienen, sondern auch DDR-Publikationen würdigte, im besten Sinn liberal war, ohne freiheitliche Werte aufzugeben. Rothbart zitiert wunderbare Beispiele, etwa die bibliothekarische Rezension in der DDR über Christa Wolfs Nachdenken über Christa T., die vier (!) Jahre nach Erscheinen des Buches veröffentlicht wurde – so lange brauchte man, um eine Formulierung zu finden, die die Autorin als Kandidatin des Zentralkomitees der SED würdigte und gleichzeitig ihr Buch in Frage stellte. Rothbarts Beitrag argumentiert positivistisch, anekdotisch, nachdenklich, untheoretisch, unvoreingenommen.

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Arbeit in Bibliotheken und Archiven:
Krieg um Zugänge

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Mit Nutzungsbeschränkungen in Bibliotheken und Archiven der DDR befasst sich Claudia-Eleonore Täschner (»Persönliche Erfahrungen bei der Nutzung und der Präsentation von Literatur mit Nutzungsbeschränkungen in Bibliotheken und Archiven der DDR«, S. 73–80). Würde sie den Argumentationsmustern einer Friedhilde Krause oder eines Reiner Oschmann, wie sie in diesem Buch vorliegen, folgen, käme heraus: Nutzungsbeschränkungen gibt es überall, in der DDR mussten sie den Vorgaben des vom Westen aufgezwungenen Kalten Krieges als Selbstverteidigung folgen. Das tut Täschner nicht. Sie erinnert sich, wie wechselnde Direktiven in der DDR bestimmte Archivbestände, Bücher und Themen von der Benutzung ausschlossen, je nach politischer Lage, und wie – teilweise gegen die Anweisungen der parteitreuen Abteilungsleiter – das Personal bestimmte Materialien doch zur Lektüre im Lesesaal herausgab, obwohl die geforderten Nachweise der »Notwendigkeit der Einsichtnahme« nicht vorlagen oder bei engstirniger Auffassung hätten abgelehnt werden können. Es sollte noch viele derartige Berichte von Zeitzeugen geben, die quellenkritisch auszuwerten wären, damit die Forschung ein gesichertes Bild der einschlägigen Praxis erstellen kann.

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Arbeit in Bibliotheken und Archiven:
Krieg um Bücher

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Der Beitrag Louise S. Robbins’ gehört zu den überlegenen und souveränen Forschungsleistungen, die der Band präsentiert (»American Libraries in Germany and The Freedom to read«, S. 115–131). Sie zeigt anhand zeitgenössischer Zeitungsartikel und Fachzeitschriften, vor allem anhand von Archivmaterial (teilweise aus der Foreign Affairs Oral History Collection der Georgetown University Library), wie sich der McCarthyismus vermittels restriktiver Direktiven und einer Schnüffelkommission, die durch Europa reiste, auf die Bibliotheksbestände der Amerika-Häuser auswirkte. Werke von Autoren, die im Verdacht standen, Kommunisten zu sein, wurden entfernt, in elf Fällen sogar im Wortsinn verbrannt. Die American Library Association ALA startete eine Kampagne, in deren Mittelpunkt mit dem Motto »Freedom to Read« ein Motiv aus dem Kernbestand amerikanischer Werte stand. Präsident Eisenhower hielt 1953 eine Rede, in der er ausdrücklich für intellektuelle Freiheit in den Bibliotheken eintrat. Das war der Durchbruch zu einer geänderten Politik; auf diesem Hintergrund konnte ALA eine hoch wirksame Pressekampagne starten, in deren Ergebnis die Amerika-Häuser zu einer liberalen Linie zurückkehrten. Die detailreiche Studie fördert wenig bekannte Fakten zutage.

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Strukturen des Bibliotheks- und Archivwesens:
Fotos im Klassenkampf

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Wolfgang Hesse (»Kontinuitäten und Brüche in den Sammlungen der Deutschen Fotothek«, S. 173–196) analysiert in seinem exzellenten Beitrag, der gemeinsam mit denen von Robbins und Lersch zu den überragenden Leistungen des Sammelbands gehört, wie die SED die Deutsche Fotothek Dresden (heute eine Abteilung der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden) für ihre Propaganda und Ideologie instrumentalisierte, indem sie sie auf Sammelprogramme des »sozialistischen Erbes« festlegen wollte – oder zu instrumentalisieren versuchte, denn die Mitarbeiterschaft sah »wohl mehrheitlich voller Beharrungsvermögen sich den Leitbildern einer als unpolitisch begriffenen bürgerlichen Kultur verpflichtet« (S. 179) und sammelte weiterhin vor allem Fotomaterial zur Kultur- und Architekturgeschichte, erschloss die Fotos mit FDJlern unter wehenden Fahnen – deren Bildästhetik, was Hesse nicht hervorhebt, in ungebrochener Tradition der Nazipropaganda steht – erst mit jahrelanger Verzögerung. Auch richteten sich die Nutzeranforderungen weiterhin vor allem auf das »humanistische Erbe«. Glänzend arbeitet Hesse das Verhältnis von politischen Direktiven, Alltagspraxis der Fotothek, Ausstellungskonzepten, Ansätzen einer Theoriebildung der Fotografie, Gleichschaltung der Presse- und Amateurfotografen über vier Jahrzehnte heraus, ein schwankendes Verhältnis, an dem durchaus widerstreitende Interessen beteiligt waren. Der SED gelang es auch dank des Personals der Fotothek nicht, ihre Linie (besser: ihre Linien, denn von einer in sich konsistenten Kulturpolitik konnte keine Rede sein) bruchlos bis in jeden Regalfachboden der Fotothek durchzustellen.

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Strukturen des Bibliotheks- und Archivwesens:
Akten im Klassenkampf

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Karlheinz Blaschke steuert Erinnerungen bei, keine wissenschaftlich fundierte Abhandlung, vorgetragen im Gestus archivarischer Bescheidenheit, die sich dennoch ihrer Überlegenheit gewiss sein kann (»Die Stellung des Archivwesens im Herrschaftssystem der DDR«, S. 197–212). Umso lobenswerter ist die Qualität dieser Erinnerungen. Sie schöpfen aus breiter und tiefer Kenntnis des Archivwesens der DDR und umreißen konsistent, detailreich und äußerst umsichtig die Stellung des Archivwesens im Herrschaftssystem der DDR. Der Autor wechselte vom staatlichen in den kirchlichen Archivdienst, um sich dem Konformitätsdruck zu entziehen. Er begreift die DDR, ohne theoretischen Rekurs auf Nolte 10 , Arendt 11 , Bracher 12 oder Linz 13 , als totalitäres Regime und stützt sich dabei auf eigene Erfahrungen: Die SED habe das gleiche Ziel wie Hitler zu erreichen gesucht, »indem sie die Individualität des Menschen abbaute und ihn durch Mitgliedschaft in möglichst vielen Organisationen kollektivierte. Die Mitarbeiter eines DDR-Archivs waren nicht nur Menschen, die mit ihrer Arbeitskraft zur fachlichen Gesamtleistung beitrugen, sie sollten auch eine soziale Einheit als Baustein des sozialistischen Systems darstellen« (S. 209). Als Beleg führt er Erlebnisse aus Sitzungen an, bei denen ein Archivdirektor, der sich nicht äußert, hören muss: »›Wenn Sie nichts sagen, dann sieht das aus, als ob Sie dagegen wären‹.« (S. 210); er erwähnt, dass den Mitarbeitern der Archive jegliche persönliche Beziehung einschließlich des Briefverkehrs zu Personen im nicht-sozialistischen Währungsgebiet untersagt war, selbst wenn es sich um Verwandte handelte.

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Blaschke argumentiert differenziert auf verschiedenen Ebenen: Organisation des Archivwesens und Einordnung in den Aufbau der Verwaltung (Unterstellung unter das Innen-, nicht das Kulturministerium, Zerschlagung der historisch gewachsenen territorialen Zuständigkeiten), Personal (Einsetzung von Mitarbeitern aus dem Militär- und Polizeidienst als Archivleiter ohne archivische Ausbildung, permanente politische Schulungen), Erschließung (folgend dem marxistischen Epochenschema: Feudalismus – Kapitalismus – Sozialismus), Benutzung (teilweise Sperrung von Beständen; systematische Auswertung von Archivbeständen zur Denunziation von bundesdeutschen Politikern bei gleichzeitig restriktivsten Nutzungsbedingungen für Personen aus dem nicht-sozialistischen Ausland). Und er stellt all dies in historischer Dimension dar: Bis um 1960 waren die Archive von der SED kaum beachtete Einrichtungen, in denen sich unpolitische Bildungsbürger ein Nischendasein schaffen konnten. Erst danach setzte, auch durch Personalwechsel, die Gleichschaltung und Instrumentalisierung ein. Interessant für eine Totalitarismus-Diskussion ist gerade, dass die Archive in der stalinistischen Phase der DDR vergleichsweise unbehelligt blieben und erst nach dem Mauerbau, als in anderen Bereichen teilweise flexiblere Herrschaftsformen an die Stelle offener Repression traten, totalitär durchdrungen wurden. Gleichwohl, so Blaschkes Bilanz, blieben der fachliche Kern der archivischen Arbeit und vor allem die Bestände erhalten – Blaschke zollt nüchtern und ohne Anbiederung den gelernten Archivaren in der DDR, deren überliefertes Berufsethos dem totalitären Zugriff Grenzen setzte, Anerkennung.

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Fazit

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Bei allen Qualitätsdifferenzen bietet der Sammelband doch Substanz und Stoff, auf denen weitere Forschung aufbauen kann. Er ist das Ergebnis einer ertragreichen Tagung, die Nachfolger finden sollte, wenn auch eine Forschungsbilanz des Themas noch lange nicht vorgelegt werden kann. Die zunächst überraschende Mischung aus teilweise befangenen Zeitzeugen-Berichten und wissenschaftlichen Beiträgen entfaltet insgesamt doch einen wenn auch mitunter anstrengenden Charme. Auf jeden Fall sollten wiederholte Tagungen und Sammelbände dieser Art weitere Facetten beitragen und Stoff sammeln, um die Quellenbasis zu verbreitern und um Impulse zur Auswertung von Archivmaterial zu geben.

 
 

Anmerkungen

Bernhard Fabian (Hg.): Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Handbuch der historischen Buchbestände in Österreich, Handbuch deutscher historischer Buchbestände in Europa. Hildesheim: Olms 2003. 1 CD-ROM, erschien zunächst in sukzessiven Bänden gedruckt.   zurück
Christoph König / Siegfried Seifert (Hg.): Literaturarchiv und Literaturforschung. München: Saur 1996.   zurück
Vgl. etwa: Ernst Wichner / Herbert Wiesner (Hg.): Zensur in der DDR. Geschichte, Praxis und »Ästhetik« der Behinderung von Literatur. Ausstellungsbuch. (Texte aus dem Literaturhaus Berlin 8) Berlin: Literaturhaus Berlin 1991; Ernst Wichner / Herbert Wiesner (Hg.): Literaturentwicklungsprozesse. Die Zensur der Literatur in der DDR. (Edition Suhrkamp 1782 = N.F. 782) Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993; Gunter Holzweißig: Zensur ohne Zensor. Die SED-Informationsdiktatur. Bonn: Bouvier 1997; Siegfried Bräuer / Clemens Vollnhals (Hg.): In der DDR gibt es keine Zensur. Die evangelische Verlagsanstalt und die Praxis der Druckgenehmigungen bis 1989. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 1995.   zurück
Vgl. Konrad Marwinski: Zur Entwicklung und zum Stand des Bibliothekswesens in der DDR. In: Bibliotheksdienst 24 (1990), S. 890–899.   zurück
Peter Vodosek / Konrad Marwinski (Hg.): Geschichte des Bibliothekswesens in der DDR. (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 31) Wiesbaden: Harrassowitz 1999.   zurück
Helmut Göhler (Hg.): Alltag in öffentlichen Bibliotheken der DDR. Erinnerungen und Analysen. (Bibliothek und Gesellschaft) Bad Honnef: Bock + Herchen 1998.   zurück
Ernst Nolte: Deutschland und der Kalte Krieg. München: Piper 1974.   zurück
Wilfried Loth: Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941–1955. (dtv-Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts 12) München: DTV 2000, zuerst 1985.   zurück
Detlev Junker u.a. (Hg.): Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945–1990. Ein Handbuch. 2. Bde. Stuttgart: Dt. Verlags-Anstalt 2001.   zurück
10 
Ernst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945. Frankfurt/M.: Propyläen-Verlag 1987.   zurück
11 
Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt/M.: Europäische Verlags-Anstalt 1955.   zurück
12 
Karl Dietrich Bracher: Die totalitäre Erfahrung. München: Piper 1987.   zurück
13 
Juan José Linz: Totalitäre und autoritäre Regime. 2. Aufl. Berlin: Berliner Debatte Wissenschafts-Verlag 2003.   zurück