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Buchwissenschaft aus Verlegersicht

  • Ludwig Delp (Hg.): Das Buch in der Informationsgesellschaft. Ein buchwissenschaftliches Symposion. (Buchwissenschaftliche Forschungen 6) Wiesbaden: Harrassowitz 2006. VI, 341 S. Paperback. EUR (D) 58,00.
    ISBN: 3-447-05311-9.
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Der Sammelband dokumentiert die Vorträge der von Wolfgang Schmitz (Köln) präsidierten Jahrestagung der Deutschen Buchwissenschaftlichen Gesellschaft im Jahr 2005. Erfreulich ist der nicht sehr große zeitliche Abstand zwischen Tagung und Publikation. Der sorgfältig redigierte Band – ausgestattet mit bio-bibliografischen Angaben zu den Beiträgern – ist herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Ludwig Delp, dem zum Zeitpunkt der Tagung 84-jährigen Doyen der deutschen Buchwissenschaft. In seiner Einführung umreißt Delp die Fragestellungen des Symposions:

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• der gegenwärtige und künftige Standort des Buches als Informationsträger, als Produkt, als Handelsgegenstand,

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• Auswirkungen der Informationsgesellschaft auf die Verlage, besonders die Fachverlage,

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• Erfordernisse eines der voranschreitenden Digitalisierung angemessenen Urheberrechts,

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• Veränderungen des Leserbedarfs und der Lesegewohnheiten.

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Delp weist zu Recht darauf hin, dass in weiten Teilen der wissenschaftlichen und politischen Debatte über das Thema Informationsgesellschaft der nach wie vor nicht virtuelle, sondern höchst virulente Informationsträger Buch zu kurz kommt. Die Tagung sollte hier ansetzen und ergänzen, auch gerade rücken.

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Die Rezension muss sich der Mühe unterziehen, die Beiträge einzeln – ungefähr in der Reihenfolge wie im Buch – zu behandeln, weil sie thematisch teilweise keinerlei Überschneidungen aufweisen, kaum aufeinander eingehen (was bei einer Tagung auch nicht zu erwarten wäre) und andernfalls nicht angemessen gewürdigt werden können.

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Das Buch in der Alltagskultur

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Die Inhaberin der Professur für Buchwissenschaft in Erlangen-Nürnberg, Ursula Rautenberg, wartet mit einem neuen Forschungsansatz auf. Dieser Beitrag erschien ungekürzt kurz vor dem Sammelband an anderer Stelle, worauf die Autorin in Abstimmung mit dem Herausgeber hinweist. Rautenberg begann vor einigen Jahren, Bildmaterial zum zeichenhaften Buchgebrauch in der Alltagskultur zu sammeln und hat inzwischen dieses Material ins Internet gestellt (www.buchwiss.uni-erlangen.de/AllesBuch/Studien.de). Es geht um das Image des Buches, wie es sich in Bildern aus Werbung, Unterhaltungsfilm, Journalismus usw. darstellt. Über die bisherige Erforschung des Buch-Images mittels Befragungen hinaus soll mit diesem Ansatz Fragen nachgegangen werden wie: Warum werden Bücher häufig gemeinsam mit Handtaschen und Schuhen abgebildet? Was bedeutet es, wenn Tiefkühlpizzen in den Handel kommen, deren Verpackung mittelalterlichen Bucheinbänden nachgebildet ist? Das viel versprechende, zwischen Ethnologie und Ikonografie oszillierende Forschungsdesign ist innovativ, originell und fördert Konstanten zutage, die bisher kaum beachtet waren und dokumentiert ein Verständnis von Buchwissenschaft, das traditionelle Ansätze hinter sich lässt. Ergiebig wird die Differenzierung nach regionalen oder nationalen Kulturräumen sein; historisches Bildmaterial zum Thema Lesen wird mancherorts gesammelt, ist aber bisher wenig interpretiert.

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Verlage in der Informationsgesellschaft

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Diesem Thema sind knapp 40 % der Beiträge gewidmet.

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Universitätsverlage

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Mark W. Rectanus, der an der Iowa State University German Studies mit dem Schwerpunkt Buch und Verlag lehrt, geht dem Wandel der Universitätsverlage in den USA nach. Nicht anders als für die kommerziellen Verlage wird es für sie wirtschaftlich immer schwieriger, kleine Auflagen herauszubringen. Die Gründe sind dieselben: Schrumpfende Bibliotheksetats, wachsende Titelzahl, steigende Kosten. Ihre Funktion als Korrektiv einer kommerziellen Verlagsszene und bedeutende Instanz geisteswissenschaftlicher Publizistik scheint gefährdet. Rectanus diskutiert Lösungsvorschläge und kommt zu dem Ergebnis, dass elektronisches Publizieren in den Geisteswissenschaften keine Lösung sein kann. Worin sie bestehen könnte, dazu will Rectanus keinen Beitrag liefern. Er präsentiert eine Palette soziologischer Theorien (vor allem von Scott Lash), die in kommentarwissenschaftlicher Tradition, kaum empirisch gesichert, die Öffnung geisteswissenschaftlicher Verlage für aktuelle politische Diskussionen als kulturpolitische Demokratisierung deuten. Seine These, Universitätsverlage haben sich zu »hybriden Verlagen« entwickelt, »die sich innerhalb von mehreren Kommunikationssystemen bewegen müssen« (S. 53), nämlich dem wissenschaftlichen und zugleich einem populären, massenmedialen, könnte man aus der Perspektive des Marketing-Ansatzes auch anders formulieren: Die amerikanischen Universitätsverlage haben auf der Suche nach neuen Geschäftsfeldern die strategische Fehlentscheidung getroffen, ihre klare Marktpositionierung aufzugeben.

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Einzug der globalen Wirtschaft

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Dietrich Kerlen und Thomas Keiderling erläutern die wenig überraschende These, dass die deutschen Verlage und Buchhandlungen sich in einer Umbrauchphase bewegen, die ihr traditionelles, primär kulturell geprägtes Selbstverständnis zerstört und zu einer neuen, strikt ökonomisch ausgerichteten Handlungsweise führt. Kerlen war bis zu seinem Tod Professor für Buchwissenschaft und Buchwirtschaft in Leipzig; sein Assistent Keiderling vollendete die übernommene Aufgabe dieses Beitrags, wofür ihm Respekt gebührt. Die These ist gut belegt, differenziert vorgetragen, beleuchtet vielfältige Aspekte – und sieht doch nicht, dass die Ausrichtung der großen Verlagskonzerne und sich ausbreitenden Buchhandelsketten auf wirtschaftlichen Erfolg zugleich eine Ausrichtung der Inhalte auf den Mainstream darstellt und so Chancen für Newcomer und etablierte kleine Unternehmen schafft. Diese schaffen mit bedingungslos individuellem Service und unter Nutzung neuer Online-Publikationsmöglichkeiten Kundenbindungen und bedienen Nischen, die den weltweiten Akteuren nicht zugänglich sind.

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Buch und digitale Welt

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Volker Titel, Akademischer Rat im Fach Buchwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg, liefert den am breitesten angelegten Beitrag. Er schreitet, naturgemäß teilweise thesenartig, teilweise mehr Fragen stellend als Antworten gebend, nahezu das gesamte Themenspektrum im Schnittbereich von Buch und digitaler Welt ab: Der Beitrag beginnt mit klugen theoretischen Erörterungen der Begriffe Buch, Multimedia und Interaktivität, skizziert die kulturellen Implikationen digitaler und (den Terminus verwendet Titel nicht) kollaborativer Textproduktion, erörtert verlegerische Strategien von Print on Demand über hybride Produkte bin zur reinen Online-Publikation, geht dabei auch auf die Aktivitäten von Bibliotheken ein, Wissenschaftlern bei der Online-Publikation Service zu bieten, worin er eine »Kampfansage« an die kommerziellen Verlage (S. 93) erblickt, streift sogar ökologische Fragen der herkömmlichen Buchherstellung (seiner These der Umweltgefährdung durch Papierherstellung und Drucktechnik würden Vertreter dieser Industrien heftig widersprechen), beleuchtet schließlich die Auswirkungen auf den Bucheinzelhandel und geht auch auf Fragen des Urheber- und Verwertungsrechts ein. Mit Ausnahme des Themas Open Archives (s.o.) lässt Titel keinen Aspekt aus, gibt einen exzellenten Überblick, nimmt insgesamt eine Perspektive ein, die der Sicht der Verlage näher als der Sicht wissenschaftlicher Institutionen ist, bewegt sich damit im Rahmen des Ansatzes der Tagung. Besonders hervorgehoben werden soll die Nüchternheit, mit der Titel euphorische Prognosen über die schöne neue, multimediale und interaktive Welt kommentiert: »Von der Akzeptanz für einzelne Buchformen beim Nutzer (der aus Branchensicht möglichst auch Käufer sei) hängt ab, in welchem Maße sich die Verfahrens- und Produktoptionen digitaler Informationstechnologien durchsetzen werden.« (S. 107)

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Book on Demand, Print on Demand

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Ernst-Peter Biesalski, Professor an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig, behandelt differenziert, nüchtern und umfassend das Thema Print on Demand, bei dem die Publikation in digitaler Form vorgehalten wird, aber nicht zur Nutzung über das Internet, sondern um im Fall einer Bestellung ein Exemplar oder eine ganz kleine Auflage herzustellen. Er klärt Begriffe, stellt die technische Grundlage des heutigen Print on Demand dar (die Impact-Druckverfahren, die wie ein Computerdrucker ohne Druckform arbeiten) und präsentiert die Einsatzmöglichkeiten, vor allem den tatsächlichen Einsatz. Chancen gibt er dem Book on Demand als dem Warenzeichen, unter dem das deutsche Barsortiment Libri sein Print-on-Demand-Angebot schützt, nur im Special-Interest-Bereich. Auch auf Anwendungen individualisierter Buchdrucke mittels Non-Impact-Verfahren (hauptsächlich bei technischen Dokumentationen und in der Werbewirtschaft) geht Biesalski ein. Das ist klärend, detailliert und enthält zahlreiche Einzelheiten, die man bisher nicht nachlesen konnte.

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Wolfram Göbel illustriert diesen Überblick aus seiner Praxis heraus. Er ist Inhaber der Buch&media GmbH, die hauptsächlich über mehrere Imprints auf Basis des Book-on-Demand-Gedankens als Verlag für Autoren fungiert, die andernfalls keinen Verlag finden. Er betont unter Hinweis darauf, dass Kafka heute nur noch in solch einem Verlag eine Chance hätte gedruckt zu werden, die kulturelle Bedeutung des Ansatzes. Insofern trägt Göbel hier aus Sicht der Autoren den Nischen-Gedanken vor, der bei Dietrich Kerlen und Thomas Keiderling zu kurz kam (s.o.). Seine Vision, dass es bei digitaler Vorhaltung keine vergriffenen Bücher mehr geben müsse, übersieht freilich, dass das Problem der digitalen Langzeitarchivierung keineswegs trivial ist und privatwirtschaftliche Instanzen – womöglich noch kleine Unternehmen – wenig geeignet sind, zu seiner Lösung beizutragen. Nicht ganz klar ist bei Göbel, warum in so kleinen Nischen überhaupt noch auf Papier publiziert und nicht die Dateien selbst verbreitet werden sollen. Die Beiträge von Rectanus und Titel haben hierauf Hinweise gegeben.

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Rechtsfragen

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Rechtsfragen nehmen neben der Rolle der Verlage in der Informationsgesellschaft ebenfalls einen sehr breiten Raum im Sammelband ein.

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Buchpreisbindung

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Dieter Wallenfels, Rechtsanwalt und Preisbindungstreuhänder der deutschen Verlage, erörtert nach einem Rückblick auf frühere Verfahren der Buchpreisbindung das seit 2002 geltende Buchpreisbindungsgesetz und insbesondere seine mögliche Zukunft. Im Detail nicht neu, führt der Beitrag in Gestalt eines griffigen Überblicks die Argumente für die Buchpreisbindung an und wägt sie differenziert gegen die Gegenargumente ab, argumentiert dabei auch ökonomisch, referiert die Urteile zum Buchpreisbindungsgesetz, die in einigen Spezialfragen Klarheit gebracht haben (zum Beispiel Nichtzulässigkeit von Preisrabatten in Gestalt von Gutscheinen, die die Buchhändler ausstellen, Begrenzung der erlaubten Zugaben auf 2 % des Warenwerts im Einzelfall). In einem internationalen Rundblick stellt er fest, dass die Zahl der Länder mit Buchpreisbindung steigt. Seine Prognose zur Zukunft der Preisbindung ist aus Sicht der Befürworter bzw. der geschützten Sortimentsbuchhandlungen und Verlage ausgesprochen positiv – gekoppelt an die Prognose, dass die digitale Direktverbreitung von Texten ohne Zwischenhandel an den Leser bis auf Weiteres nicht das dominante Geschäftsmodell werde. Gefährdungen der Preisbindung, allerdings noch keine gravierenden, sieht Wallenfalls bei den erstarkenden Handelsketten im Bucheinzelhandel. All das kann man nur als nüchterne, klare, realistische, überzeugend begründete Sicht, sauber und konzise vorgetragen, einschätzen.

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Verlegerinteressen und Urheberrechtsreform

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Enttäuschend sind die Ausführungen Bernhard von Beckers, Lektoratsleiters des Verlags C.H. Beck, über die Verlagswirtschaft in der Informationsgesellschaft. Hier erfährt man, abgesehen von anschaulichen Beispielen, etwa der Preisstrategie der Billig-Buchreihen der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, nichts, was Titel nicht schon erörtert hätte. Von Beckers Beitrag artikuliert zum wiederholten Male die bekannten Forderungen der Verleger hinsichtlich der Urheberrechtsreform, und er legt ein gediegenes verlegerisches Selbstverständnis als – bei allem Erfordernis wirtschaftlichen Erfolgs – Kulturförderer dar. Überraschenderweise waren etliche seiner Aussagen bereits zum Zeitpunkt der Tagung (Mai 2005) überholt; beispielsweise erwähnt er, dass Verlage planen, Hörbücher auch auf DVD herauszubringen (S. 125) – Hörbücher auf DVD erscheinen in Deutschland seit 2003.

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Der Beitrag von Martin Schippan, Rechtsanwalt mit dem Schwerpunkt Urheber- und Medienrecht, ist reiner Lobbyismus, darum ja nicht niveaulos. Schippan erläutert und kommentiert die seit 2001 erfolgten oder geplanten Urheberrechtsänderungen betreffend Einräumung umfassender Nutzungsrechte seitens der Urheber gegenüber den Verlagen (§ 31a UrhG), Nutzung, insbesondere öffentliche Zugänglichmachung für Unterricht und Forschung (§§ 52a, 46 und 95b UrhG), Kopierschutz (§ 95a-c UrhG), Versand von digitalen Kopien (§§ 53 und 53a UrhG) sowie elektronische Pressespiegel (§ 49 UrhG). Er argumentiert mit Verve für die Interessen der Verleger und formuliert entsprechende Forderungen an den Gesetzgeber zur Ausgestaltung des Zweiten Korbs der Urheberrechtsreform, in Teilen auch zur Überarbeitung des Ersten Korbs. Mindestens hätte man erwarten können, das Vertreter der »Schrankenbegünstigten«, etwa Juristen der Max-Planck-Gesellschaft oder der Bibliotheksverbände, die Anforderungen an einen Interessenausgleich kraft Gesetzgebung aus Sicht ihrer Einrichtungen bzw. ihrer Nutzer ebenfalls dargelegt hätten.

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Marcel Schulze, Leiter der Rechtsabteilung der GEMA, referiert den Sachstand bei internationalen Abkommen zum Urheberrecht: Trade Related Intellectual Property Rights (TRIPS-Übereinkommen), WIPO-Urheberrechtsvertrag, Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (Info-Richtlinie) u.a. Er stellt dar, wie diese Vorgaben in nationales Recht umgesetzt wurden, wo noch Harmonisierungsbedarf besteht bzw. welche Konsequenzen die fehlende Vereinheitlichung hat. Das ist präzise, sachkundig, nicht unkompliziert.

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Die Rolle der Verwertungsgesellschaften

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Ebenfalls lobbyistisch, aber nicht so eng parteilich wie Schippan, argumentiert Ferdinand Melichar, geschäftsführendes Vorstandmitglied der VG Wort. Er stellt dar, welche – aufgrund der Urheberrechtsreformen erweiterte – Rolle die Verwertungsgesellschaften bei der Wahrnehmung der Urheberrechts- und Leistungsschutzrechte der Rechtsinhaber spielen, von pauschalierten Abgaben auf CD-Brenner für private Kopien über Abgaben beim Versand digitaler Kopien und der Herstellung von Retrodigitalisaten bis zur Nutzung digitaler Kopien in Wissenschaft und Unterricht. Selbstverständlich führt Melichar die jeweiligen Rechtsgrundlagen im Einzelnen auf. Und er zeigt anhand offener Fragen, besonders der Frage, ob Digital Rights Management Systems (DRM-Systeme) oder pauschalierte Abgaben an Verwertungsgesellschaften besser praktikabel sind, dass das Modell der Verwertungsgesellschaften die überzeugendere Antwort ist. Bei diesem Modell unterbinden einerseits der Rechtsinhaber – sei es der Verlag, sei es der Autor – nicht den Zugang zu Wissen, besonders in digitaler oder digitalisierter Form, und er kann diesen Zugang auch nicht auf einen allein vom ihm kontrollieren Distributionsweg einengen. Andererseits bekommt der Rechtsinhaber einen gesetzlich verbrieften Anspruch auf Vergütung via Verwertungsgesellschaften.

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Buchnutzung

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Márton Holczer und László Z. Karvalics, Mitarbeiter in Unesco-Projekten zur Informationsgesellschaft und tätig an ungarischen Universitäten, referieren aus der ungarischen Leseforschung. Seit Jahrzehnten knabbert der wachsende Fernsehkonsum am Zeitbudget für das Lesen. Seit dem Ende der Diktatur, unter der Bücher weniger scharf als Zeitungen und Fernsehen zensiert wurden und sprachlich differenzierte und metaphorische Texte kleine Freiheitsräume darstellten, ist die Buchnutzung drastisch zurückgegangen. Anders als in Deutschland korreliert Internetnutzung mit der Buchnutzung negativ. Nicht alle Thesen, die die Autoren vortragen, sind argumentativ stringent belegt; mitunter scheint der Beitrag eine stark geraffte Form längerer Ausführungen darzustellen. Bemerkenswert ist, dass die Autoren den Begriff Informationsgesellschaft anders als üblich definieren wollen: Es komme nicht nur auf die Rolle der Information in Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung an, sondern auch in der Alltagskultur. Nicht ganz klar wird, ob nach diesem Maßstab Ungarn bereits als Informationsgesellschaft bezeichnet werden kann, ja überhaupt, welche Rolle welche Art von Information über welche Kanäle auch im Alltag der Bevölkerungsmehrheit einnehmen muss, damit man von Informationsgesellschaft sprechen kann. Die Autoren geben Büchern auch in Ungarn dann eine Chance, wenn sie im Alltag nützlich sind, einen raschen, direkten Informationszugriff erlauben – Vorbild könnte also der moderne Ratgeber und das Lexikon sein –, wenn sie an bekannte Rezeptionserlebnisse anknüpfen (z.B. Filme) und wenn sie leicht, auch akzidentell, konsumierbar sind. Dieses Rezept entspricht den Erfahrungen aus der deutschen Leseförderung.

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Informations- oder Wissensgesellschaft?

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Hans-Dieter Kübler, Professor an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg, ist gern gesehener Gast auf Tagungen, um den Platz des Querdenkers und Impulsgebers jenseits der fachlichen Details zu belegen. Hier reflektiert er über die Begriffe Informationsgesellschaft und Wissensgesellschaft – nicht etwa mit dem Ziel, die Begriffe zu klären, sondern offene Fragen zu benennen. Sein Tour durch den Begriffswirrwarr (postindustrielle, Kommunikations-, Dienstleistungs-, Wissens-, Informations-, Risiko-, Erlebnisgesellschaft u.a.m.) in Wissenschaft und öffentlicher Rede ist nicht frei von Polemik; immerhin macht Kübler deutlich, in welchem Maß die Termini politisch-ideologisch aufgeladen sind. Freilich wüsste man gerne genauer und nicht nur in teilweise pauschalierenden Etikettierungen (z.B. wenn Kübler von Luhmanns »rabulistischer Argumentation« spricht, S. 312), in welcher Weise die Termini in je verschiedene argumentative Kontexte und Intentionen eingebunden sind. Deshalb trifft nicht zu, wenn Kübler den Terminus »Wissensgesellschaft« als »Leerformel« (S. 327) bezeichnet – vielmehr hat der Terminus, abgesehen von einem unklaren Sprachgebrauch, den es natürlich auch gibt, in verschiedenen Kontexten je spezifische Bedeutungen. Denn das bleibt blass bei Kübler: Die Termini Wissen und Information werden im Diskurs der Soziologie, der Informations- und Kommunikationswissenschaften, der Wirtschaftswissenschaft, der Betriebswirtschaftslehre usw., auch (worauf Kübler nicht eingeht) verschiedener Naturwissenschaften und der Pädagogik verwendet. Sie stehen dort nicht anders als Termini wie Baum, Klasse oder Prozess in verschiedenen Kontexten und haben verschiedene Bedeutungen. Richtig hebt Kübler hervor, dass immer zu fragen ist, »um welches Wissen es sich handelt, wie es verteilt und medial vermittelt wird.« (S. 324). Wenn Kübler einen soziologischen Wissensbegriff dem Begriffswirrwarr entgegenhält, dann plädiert er für einen, freilich nicht in allen Kontexten der Buchwissenschaft tragfähigen, Wissensbegriff.

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Fazit

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Im Ganzen präsentierten die Tagung und mit ihr der Sammelband eine breit angelegte Sicht auf das Themenfeld; darunter kamen gänzlich neue Ansätze, kritische Reflektionen, aber auch lobbyistische Argumentationen zu Wort. Letztlich zeigt sich in Tagung und Sammelband der von Delp geprägte Zuschnitt einer Buchwissenschaft, die der Verlegerperspektive nahe steht. Aber einige Beiträge (Rautenberg, Kübler, auch Titel) gehen darüber hinaus. Die Frage soll offen bleiben, ob dieser Zuschnitt pragmatisch dem Konzept einer aktuellen Tagung geschuldet ist oder doch das keineswegs befriedigend durchdachte Verhältnis von Buch-, Bibliotheks- und Informationswissenschaften widerspiegelt. Die Beiträge des Bandes stehen in ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen oder politischen Diskursen, sind durchweg qualitätsvoll, teilweise exzellent.

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Was bleibt ausgespart?

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Nicht vertieft angesprochen, wenn auch mehrfach gestreift, werden Trends im Bucheinzelhandel und in Bibliotheken, vor allem im Beitrag von Volker Titel; Trends in der massenmedialen Rezeption, soweit die Buchbranche davon betroffen ist, werden nur am Beispiel Ungarn behandelt, dort mit kaum auf andere Länder übertragbaren Erkenntnissen. Differenzierungen innerhalb der Welt des gedruckten Buches nach Gattungen kommen in den Blick, doch hier bleiben nennenswerte Aspekte (Kinder- und Jugendbuch, Belletristik, populäres Sachbuch, Ratgeberliteratur, Nachschlagewerke, Rückwirkungen der Multimediatisierung auf die Gestaltung der Printmedien) ausgespart oder werden nur en passant erwähnt. Freilich darf man an den Sammelband einer Tagung nicht die Erwartungen herantragen, die bei einem umfassenden Handbuch angemessen wären. Erstaunlich ist aber doch, dass das Thema Open Access nur in zwei Beiträgen (Bernhard von Becker und Volker Titel) beleuchtet wird. Es geht dabei um Publikationen von Wissenschaftlern ohne Verlage auf Instituts- oder Hochschulservern, auch in Verlagen: Dabei sind die Publikationen kostenlos erhältlich, weil Serverbetrieb und Reviewing durch die wissenschaftlichen Einrichtungen direkt, nicht durch Verkaufspreise finanziert werden. Angesprochen werden allerdings immer wieder Veränderungen der Publikationskette infolge von Online-Publikation, und Titel bzw. von Becker behandeln das Thema als eines unter vielen Themen naturgemäß knapp. Völlig fehlt im Zusammenhang mit elektronischem Publizieren das Thema Open Archives: Die wissenschaftliche Gemeinschaft definiert Standards der Langzeitarchivierung und der Erschließung durch spezialisierte Suchmaschinen auf Basis der Empfehlungen der Open Archives Initiative (OAI), wodurch eine in der Printwelt nicht erreichte Konsistenz im weltweiten Zugang zu wissenschaftlichem Wissen herbeigeführt werden soll.