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Auto/Biographie

Eine neue Perspektive auf Goethes
autobiographische Unternehmungen

  • Carsten Rohde: Spiegeln und Schweben. Goethes autobiographisches Schreiben. Göttingen: Wallstein 2006. 444 S. 11 s/w Abb. Kartoniert.
    ISBN: 3-8353-0016-4.
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Als »Höhepunkt innerhalb der autobiographischen Gattung«, 1 als deren »klassische[s] Modell« 2 ist Goethes Dichtung und Wahrheit über lange Zeit apostrophiert worden. Insofern lag der Fokus vielfach auf diesem wichtigsten autobiographischen Werk Goethes, obwohl es nur das Zentrum eines ganzen Komplexes von Schriften bildet, in denen der Autor Lebensabschnitte oder ‑ereignisse darstellt und als deren bedeutsamste zumindest noch die Italienische Reise und die Campagne in Frankreich zu nennen sind. Carsten Rohde kommt mit seinem Buch (zugleich Diss. Technische Universität Berlin 2004) über »Goethes autobiographisches Schreiben« (Untertitel) nun das Verdienst zu, die vielfache Beschränkung auf die einzelnen autobiographischen Texte nicht nur in Hinblick auf deren Zusammenhang aufgehoben, sondern zugleich eine folgenreiche Textsortenerweiterung bzw. ‑überschreitung vorgenommen zu haben.

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Panorama des Auto/Biographischen

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In den Blick geraten nicht nur die autobiographischen Großtexte, sondern neben den Tag- und Jahresheften insbesondere weitere Reise-Texte wie Kunst und Alterthum an Rhein und Mayn, Sanct Rochus-Fest zu Bingen, aber auch Autobiographisches in Goethes Zeitschriften Zur Morphologie und Zur Naturwissenschaft überhaupt. Darüber hinaus wird das Betrachtungsfeld des Autobiographischen ergänzt um Goethes biographische Arbeiten zu Cellini, Winckelmann und Hackert sowie zur Farbenlehre. Von hier aus geht Rohde zu den dichterischen Texten über. Die Figuren Wilhelm Meister und Faust werden als »lebenslange[ ] stellvertretende[ ] Lebensläufe« (S. 3) verstanden und somit dem biographischen Darstellungsverfahren zugeschlagen. Dadurch entsteht eine neue Perspektive auf Goethes Umgang mit dem Lebenslauf des Individuums. Goethes Bemühen um autobiographische Darstellung findet sich integriert in ein weitreichendes Interesse des Autors an biographischen Zugriffen, seien sie zuvorderst künstlerisch bzw. kunstgeschichtlich (Cellini, Winckelmann, Hackert) oder naturwissenschaftlich (Farbenlehre) orientiert. Eine solche erweiterte Kategorisierung des Zugriffs auf den ›Lebenslauf‹ ließe sich schon mit der vielzitierten Bemerkung Goethes aus dem Vorwort zu Dichtung und Wahrheit begründen, in der er als die »Hauptaufgabe der Biographie« – also gerade nicht allein der Autobiographie – erklärt, »den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen«. 3 Wenn dieses Interesse zudem in Konzeption und Figurenzeichnung der fiktionalen Texte sichtbar wird, nämlich in Hinblick auf exemplarische Soziogenesen des modernen Individuums (Wilhelm Meister, Faust), erfährt das Konzept des ›Lebenslaufs‹ die Kraft einer prägenden Strukturierung für Goethes Texte.

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Insoweit verzahnen sich Goethes autobiographische Unternehmungen nun mit dem Gesamtœuvre und erhalten aus dieser Warte eine neue Relevanz. In dem weit gezogenen Panorama wird das Auto/Biographische als ein Zentrum von Goethes literarischem Interesse sichtbar, ein Interesse, das sich folglich an verschiedensten Stellen seines Werks kristallisiert. Aus dieser Perspektive ergibt sich die Anlage der Arbeit als »eine Art Werkdurchlauf unter autobiographischen Vorzeichen«, wobei sich eine »Grundfrage« stellt, »nämlich jene nach Goethes literarisch verspiegeltem Verständnis des menschlichen Lebens. Seine autobiographischen Texte darf man als Versuche einer Antwort auf diese Frage lesen« (S. 15). Diesen Zugriff versieht Rohde ausdrücklich nicht mit dem Anspruch, »den Stein der Weisen neu zu erfinden«, sondern versteht ihn »schlicht und einfach« als »Neubeschreibung«, aufgrund deren letztlich aber doch eine weiterreichende Perspektive intendiert ist: »Das Ganze ist als Vorschlag zu verstehen, Goethe neu zu lesen« (S. 14 f.).

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Historische Längsschnitte

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Die Arbeit ist in vier Großkapitel gegliedert, die in historischen Längsschnitten nach Goethes Lebens- und Produktionsphasen auf Goethes autobiographisches Schreiben zugreifen. »Symbolisches Dasein (1775–1788)« 4 ist das eröffnende Großkapitel überschrieben, das das erste Weimarer Jahrzehnt und die Italienreise umfaßt. Rohde sieht diese Phase durch die »esoterisch-religiöse Dimension« der »autobiographischen Kunst« (S. 72) gekennzeichnet, die sich vorwiegend in Briefen und Tagebüchern findet. Dort – im Brief an Charlotte von Stein vom 10. Dezember 1777 – steht jenes Wort von den »befestigungs Zeichen«, 5 das Rohde als Chiffre für »die unfaßbar esoterische und (privat-)religiöse Grundierung dieses symbolischen Daseins« (S. 67) benutzt. Goethes Reisen in den Harz 1777, in die Schweiz 1779 und nach Italien 1786–1788 und die sie begleitenden – auch poetischen – Texte erscheinen als »autobiographische[ ] Wallfahrten zur Versicherung seiner Identität als Dichter, Künstler, Mensch« (S. 102). Fruchtbar für diesen Ansatz kann Rohde noch die Gestaltung des Ilmparks machen: »auch die in Stein gehauenen bzw. in die Landschaft postierten Denkmäler waren privatsymbolische Manifestationen seiner autobiographischen Kunst« (S. 63).

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Das folgende Großkapitel »Stellvertretende Lebensläufe (1788–1811)« darf von seinem Ansatz her als das innovativste Kapitel des Bandes bezeichnet werden, weil es jene Perspektivenerweiterung von den autobiographischen zu den biographischen und den fiktionalen Texten leistet. Zwar mag es zunächst überraschend erscheinen, wenn Rohde Wilhelm Meisters Lehrjahre zu einem »unabdingbare[n] Bestandteil einer Arbeit, die sich mit Goethes autobiographischem Schreiben beschäftigt« (S. 112), erklärt. Doch begründet er dies damit, daß »in der fiktiven Biographie von Wilhelm Meister Goethes Verständnis des menschlichen Lebens(laufes) in einer wichtigen Epoche seines Schaffens Ausdruck findet« (S. 111 f.). Damit ist jene das gesamte Buch tragende Frage aufgenommen, die nach Rohde den Kristallisationspunkt von Goethes genuinem Interesse ausmacht und die dann den Meister-Abschnitt einleitet: »Was war das wahre Leben von modernen Individuen?« (S. 107).

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Jene Interdependenz von dichterischem Werk und Autorleben erfährt einen Höhepunkt in der ersten Werkausgabe 1787–1790. Sie wird damit zu einem Parallelunternehmen zur Italienreise, dieser existentiellen Unternehmung mit dem Ziel, das künstlerische Selbstbewußtsein wiederzugewinnen. Wenn Goethe das Arbeiten für die Werkausgabe auf der Reise als »Summa summarum meines Lebens« oder als »Rekapitulation meines Lebens und meiner Kunst« erscheint, 6 dann ist jene Verschränkung beim Namen genannt. Von hier aus kann Rohde den Blick frei machen für die Textsortenerweiterung, die den fiktionalen Wilhelm Meister wie die biographischen Arbeiten zu Cellini, Winckelmann, Hackert und zur Farbenlehre unter das Dach des auto/biographischen Interesses Goethes führen. Insbesondere der von Goethe herausgegebene Sammelband Winkelmann und sein Jahrhundert (1805) verwendet dabei ein Darstellungsverfahren, das Rohde zu den »frühen Höhepunkten des multiperspektivischen Erzählens« (S. 174) rechnet. Wenn sich Goethe als ›Herausgeber‹ des Cellini- oder des Winckelmann-Bandes bezeichnet, sich für seine Zeitschrift Ueber Kunst und Alterthum als ›Redakteur‹ versteht und den historischen Teil der Farbenlehre nach Ausweis der Einleitung als ›Archiv‹ anlegt (Nachweise S. 163), so fallen damit insbesondere in Goethes biographischen Arbeiten die Schlüsselwörter für jenes Erzählverfahren, das später den Charakter von Wilhelm Meisters Wanderjahren ausmachen sollte. Insofern kann Rohde diese Entwicklung aus der Perspektive des nun erweiterten auto/biographischen Panoramas unter die Stichworte »Vom Genie zum Redakteur, kollektive Werke« (S. 163) stellen. 7

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Unter dem Titel »Dichtung und Wahrheit (1809–1817)« verortet Rohde im dritten Großkapitel jenen Zeitraum, der durch die Konzeptions- und Realisationsphasen der zu Lebzeiten erschienenen Teile von Dichtung und Wahrheit und der ersten beiden Teile der Italienischen Reise geprägt ist. Das leitende Stichwort ist hier »Goethes Zusammenhangsbedürfnis« (S. 214), dessen erster Ausweis für diesen Zeitraum erneut eine Werkausgabe, nämlich die erste Cottaische von 1806–1810, ist. Rohdes rasterartiger Überblick über die Art und Weise von Goethes Kommunikation dieses »höchst komplexe[n] Zusammenhang[s] seines Tuns« nach außen (S. 221) markiert auch die Bedeutung der autobiographischen Schriften für dieses Anliegen. Das Stichwort dieses Verfahrens greift Rohde aus den Vorarbeiten zu Dichtung und Wahrheit: »Der Dichter verwandelt das Leben in ein Bild«, 8 und versteht es als »Grundprinzip Goethescher poiesis« (S. 231).

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Integriert wird das autobiographische Schreiben Goethes in seine gesamte kulturelle Tätigkeit im Alter, indem Goethe als ein »Kulturkonservative[r] in des Wortes genauester Bedeutung« charakterisiert wird, als jemand, der »Kultur aufbewahrte, sammelte, zusammenfaßte, forttrug, weitervermittelte« (S. 322 f.). Den bedeutsamsten Anstoß hierzu sieht Rohde im Jahr 1813: Mit dem »Beginn des Befreiungskrieges auf deutschem Boden im Frühjahr mehren sich die Anzeichen des Stockens im autobiographischen Projekt« (S. 281). Der »Einbruch historischer Kontingenz« (S. 280) wird dann als Erklärung für die Schwierigkeiten, die Autobiographie gezielt zu Ende zu bringen, angeführt. Aber diese Erfahrung erzeugt bzw. verstärkt auch Goethes kulturelles Altersengagement: »In gewisser Weise steht das gesamte Spätwerk Goethes im Zeichen des Bewahrens und Andenkens, und dies in einer Zeit, die im Gegenteil gerade auf permanente Erneuerung und Veränderung aus war« (S. 323). In diesem Kontext deutet Rohde die autobiographischen Schriften der Jahre 1809–1817 als »Fortsetzung« dessen, »was mit den Arbeiten über Winckelmann und Hackert und ihrem Andenken anhob. Durch sie erfuhr das Publikum, was Deutschland auch sei und sein könne, indem es lerne, was es war« (S. 324). Das Unzeitgemäße dieses kulturkonservativen Konzepts macht Rohde dann an der Italienischen Reise von 1816/17 deutlich, indem er die dort dargestellte Welt als ein »nostalgisches Denkmal des Postkutschenzeitalters« gegen die »ungeheure[ ] prometheische[ ] Dynamik des industriellen Zeitalters« hält (S. 325) und zusätzlich anhand des gewandelten Metropolenkonzepts verdeutlicht: »Paris, nicht mehr Rom, war die Hauptstadt der Welt, des 19. Jahrhunderts« (S. 326).

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Das schließende Großkapitel der Studie ist mit »Wiederholte Spiegelungen (1817–1832)« überschrieben. Es setzt damit schon in der Überschrift die in der Goethe-Forschung vielfach erörterte, von Goethe 1823 selbst – in dem von Eckermann Wiederholte Spiegelungen benannten Aufsatz – applizierte Spiegelmetapher zum Grund des »autobiographische[n] Gesamt« (S. 352). Gescheitert war die intendierte große Lebensgeschichte, als die Dichtung und Wahrheit angelegt war, nach Rohde daran, daß Goethe die Beschreibung des ersten Weimarer Jahrzehnts mißlang, weil die »Esoterik und der Aberglaube, die sein Leben bestimmten, das Auf und Ab zwischen heroischen Selbsterziehungsmaßnahmen (Diätetik, Asketik) und tiefster Verzweiflung […] kaum kommunikabel« waren (S. 340 f.). Diesem äußerlichen Grund stellt Rohde nun aber ein strukturelles Argument an die Seite, das die Verbindung mit den erörterten ›stellvertretenden Lebensläufen‹ leistet: Goethes »Aufsplitterung der einen ›großen‹, linearen Erzählung in viele ›kleine‹, weitverzweigte war in gewisser Weise das logische Resultat seines multiperspektivischen Schreibens und seiner Alterspoetik der wiederholten Spiegelungen« (S. 356) – zusammengefaßt unter dem Stichwort »Spiegeln und Schweben statt Linearität und Monumentalität« (S. 352). Das Sammeln und Archivieren des späten Goethe sind dann die Tätigkeiten, die sich zugleich in der Textkomposition der literarischen wie der autobiographischen Werke niederschlagen, von Rohde charakterisiert als eine »Art schwebende[r], weil komplex und verschlungen ineinandergearbeitete[r] Zusammenhang seines Schaffens« (S. 380).

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In diesen Zusammenhang fügt sich Faust, insbesondere der des Zweiten Teils, als ein weiterer »exemplarischer Lebenslauf« ein, »vergleichbar jenem von Wilhelm Meister, weniger von Cellini, Winckelmann und Hackert, denn diese wiesen zurück, waren Reminiszenz an vergangene Ganzheit und Naivität, Faust aber wies auf Kommendes« (S. 419): »Schauplatz seines Strebens war nicht mehr das geruhsame Postkutschenzeitalter, sondern ein gigantoman-veloziferisches Maschinenzeitalter.« Wohl agiert auch Wilhelm Meister in den Wanderjahren vor dem Hintergrund des »modernen Maschinenzeitalters«. Doch unterscheidet sich Fausts Lebenslauf von dem Meisters durch seine divergente Richtung: War Wilhelm den Entwicklungen »eher passiv ausgesetzt«, zeigt Faust die »mit aller Macht und Leidenschaft« »aktiv-handelnde« Seite (S. 420). Insofern kann ihn Rohde als »Prototyp[en] der neuen gesellschaftlichen Ära« charakterisieren (S. 418). 9

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Stil

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Nicht häufig liest man eine wissenschaftliche Arbeit in einem solch eloquenten Stil wie die vorliegende. Hier liegt ein Beispiel vor, wie sperrige und verklausulierte Wissenschaftsprosa vermieden werden kann, ohne ins Unwissenschaftliche zu rutschen. 10 Doch tut es der Arbeit nicht gut, wenn sie sich in einzelnen Ausfällen gegenüber dem als solchem ausgemachten »Fachchinesisch« und »terminologische[n] Wust« (S. 354, Anm. 796) anderer Studien profilieren zu müssen meint.

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Rohdes Arbeit selber entgeht gelegentlich dann doch nicht dem Abgleiten ins Essayistische, insbesondere da, wo anhand bestimmter Goethescher Problemkonstanten plötzlich allgemeine (oder Rohdesche) Lebensweisheiten präsentiert werden, so z.B. in einer Erörterung von Goethes Ordnungsdenken: »Und ohne Richtung / Ordnung / Zusammenhang geht’s ja nicht, ist es noch nie gegangen. Trotz aller Rede von der Beliebigkeit in den permissiv-liberalen Gesellschaften des Westens, die ja im geographischen und historischen Vergleich nur zu berechtigt ist – erstaunlich viele, ja die meisten Dinge im Leben eines Menschen sind nach wie vor ganz und gar nicht beliebig. Das Leben steckt voller Ordnungen« usw. (S. 410). Auch die subtile Inbeschlagnahme des Lesers durch Rohde, der in eingeflochtenen kulturkritischen Bestandsaufnahmen der Gegenwart sein Verfasser-Ich im Text gerne zum ›Wir‹ ausweitet und damit den »denkenden Teil der Nation« (S. 259) meint, bleibt nicht unproblematisch.

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Zudem machen einzelne, im Argumentationskontext völlig unnötige Ausfälle wie der gegen den »letztlich bornierten Literaturbegriff einer demonstrativ linkskritischen Germanistik der siebziger und achtziger Jahre« (S. 270) den Leser eher etwas ratlos angesichts dieser überschießenden Verve, in deren Fortführung konterkarierend dann wieder der »Möglichkeitsmodus des Poetischen, de[r] semantische[ ] Pfeil der Utopie« (S. 271) in den autobiographischen Schriften betont wird, um sie gar noch für den ›Heimat‹-Begriff Ernst Blochs zu retten (S. 272). Wie eine privatmythologische Eskapade wirkt schließlich die völlig textfremde Abbildung 6, das Foto eines aus der Untersicht aufgenommenen und oberhalb der Augen abgeschnittenen, nach oben schauenden Frauengesichts (wohl der Fotografin der meisten der anderen Abbildungen im Band), das mit einer unspezifizierten Legende zum Wesensmerkmal von Kunst in Hinblick auf eine »bestimmte, tiefe Wahrheit eines Menschen« versehen ist (S. 253).

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Probleme und Fragen

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Die genannten stilistischen Probleme schwächen die luzide Studie aber nur peripher. Der insgesamt klare und schwungvolle Duktus nimmt den Leser mit auf eine ausladende Reise durch Goethes auto/biographische Unternehmungen. Die Studie formuliert ihre Thesen und Ergebnisse dabei so eingängig, daß man geneigt sein kann, über problematische Stellen hinwegzugleiten. Wenn im folgenden dann einige andersartige Überlegungen angerissen werden, möge dies als Ergänzung für eine durch die Studie erfreulich intensivierte Forschung zu Goethes autobiographischen Texten verstanden werden, als die Fortsetzung einer Diskussion, nicht als ›Korrektur‹ von Rohdes Ergebnissen.

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Grundsätzlich nicht unproblematisch ist allerdings der unreflektierte Begriff des ›Autobiographischen‹, der der Studie zugrunde liegt. Theorie und Geschichte der Autobiographie bleiben völlig ausgeschlossen, obwohl allein schon neuere Einführungen in den Gegenstand die enorme Spannbreite autobiographischer Schreibmodi veranschaulichen. 11 Die markante Position Goethes für die Autobiographie-Geschichte bleibt nicht nur unerörtert, sondern Rohde argumentiert, daß höchstens Dichtung und Wahrheit in einen solchen Zusammenhang gesetzt werden könne, jedoch »das bunt schillernde Gesamt aller autobiographischen Texte Goethes […] kein Pendant, weder der Form noch dem Inhalt nach«, kenne (S. 14). Daß damit die Kontextualisierung von Goethes autobiographischen Schreibmustern vollständig entfällt, darf durchaus bedauert werden, insbesondere für eine Arbeit, die sich gerade vornimmt zu »kontextualisieren, konfigurieren, problematisieren« (S. 13), allerdings nur in Hinblick auf die Beziehung von Goethes autobiographischen Texten untereinander. 12

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Aus dem Blick gerät dadurch jene merkwürdige Differenz zwischen der maßgeblichen Rolle von Dichtung und Wahrheit für die Geschichte der Autobiographie und der Tatsache, daß Goethe diesen Text nur mit Mühe und nach reichlich Stockungen zu einem vorläufigen, zu Lebzeiten nicht publizierten Ende bringen konnte und dabei gerade einmal bis in sein 27. Lebensjahr vordrang. Den »Einbruch« der »Kontingenz« (S. 280) mit den Befreiungskriegen 1813 macht Rohde für diese Schwierigkeit verantwortlich, die sich im Entwurf für ein Vorwort zum dritten Band von Dichtung und Wahrheit mit der Rücknahme des Metamorphose-Gedankens als strukturierendes Prinzip menschlichen Lebens manifestiert. Dem ist zunächst zuzustimmen. Doch ließe sich gerade in Rohdes Konzept des ›Lebenslaufs‹ einbringen, was in der Studie selber nur marginale Spuren hinterläßt: das Exempel Napoleon. Dabei hätte das Nietzsche-Zitat, das Rohde schon in der Einleitung anführt, aber nur in Hinblick auf die Formulierung »das ganze Problem ›Mensch‹« auswertet, einen Hinweis geben können: »das Ereignis, um dessentwillen er seinen Faust, ja das ganze Problem ›Mensch‹ umgedacht hat, war das Erscheinen Napoleon’s« (zitiert bei Rohde, S. 13, Anm. 6, und S. 291 innerhalb der ganz knappen Auseinandersetzung mit Napoleon). Harald Schnur hat 1990 in einem Aufsatz, der in Rohdes Studie leider nicht rezipiert ist, den Konzeptionsbruch von Dichtung und Wahrheit in der Niederlage Napoleons in Rußland vor dem Hintergrund der Bedeutung Napoleons für Goethe namhaft gemacht. 13 U.a. daran anschließend, hat der Rezensent das Scheitern des ursprünglichen autobiographischen Gesamtprojekts und dessen Zerfall in verschiedene chronikalisch unzusammenhängende autobiographische Einzeltexte untersucht. 14

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Aus dieser Sicht bleiben daher Vorbehalte gegen die letztlich doch zu harmonisierende Auflösung von Goethes Autobiographie-Problematik am Ende des Buches in den Metaphern vom »Spiegeln und Schweben« (Haupttitel). Dem Rezensenten scheint hier die Darstellungsnot, die den Abbruch der Arbeit am autobiographischen Gesamtprojekt bedingte, in eine Bildlichkeit gebannt, die sich Goethescher Begrifflichkeit bedient und damit Gefahr droht, Goethes Eigenperspektive zu erliegen, statt aus distanzierter Außenperspektive diese als Bewältigungsmodell der Darstellungsnot kritisch zu hinterfragen. Daß im Gegensatz zum Spiegeln-Begriff der Schweben-Begriff zuvorderst aus der Konfiguration beider Begriffe in Friedrich Schlegels 116. Athenäums-Fragment gewonnen wird (S. 394, 396), stärkt den von Rohde vorgeschlagenen Ansatz ausdrücklich nicht, auch wenn Rohde die Differenz von Goethes Begrifflichkeit zu der der Frühromantiker deutlich macht. Dagegen ließe sich ein Zitat aus den Wanderjahren halten, in dem man die Darstellungsnot auch des Autobiographen erkennen mag, wenn der Erzähler formuliert: »Hiemit wäre alles für den Augenblick berichtet; was nicht entschieden werden kann bleibt im Schweben.« 15 Das Nicht-Entschiedene bleibt im Schweben und kann darum nicht erzählt werden. In Hinblick auf Goethes autobiographisches Schreiben hatte Rohde gefragt: »Was war das wahre Leben von modernen Individuen?« (S. 107). Eine gegenüber der vorliegenden Studie andere Antwort wäre daher die neue Problemkonstante: Es läßt sich als konsistente Geschichte des Ich vom Ich nicht erzählen.

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Perspektive

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Die aus gründlicher Textkenntnis erwachsene Studie darf als ein nicht unerheblicher Gewinn für die Goethe-Forschung betrachtet werden. Die Kontextualisierung der genuin autobiographischen Texte mit den biographisch angelegten Personen- und Figurendarstellungen leuchtet Zusammenhänge aus, die die kommende Forschung fruchtbar aufgreifen dürfte. Insbesondere dürfte noch genauer herausgearbeitet werden, welche ganz unterschiedlichen Textsorten Goethe aus welchen Gründen und mit welchen ganz unterschiedlichen Zielen innerhalb seines autobiographischen Schreibens und seines ›Lebenslauf‹-Konzeptes einsetzte. Von hier aus müßten nun aber Wege gefunden werden, Rohdes Ergebnisse innerhalb von Theorie und Geschichte der Autobiographie zu kontextualisieren. Dann erst wird sich das über die Goethe-Forschung hinausweisende Gewicht der Untersuchung erweisen. Dann auch erst würde klar, welche Rolle Goethes ›autobiographisches Gesamt‹ innerhalb der Gattung ›Autobiographie‹ einnimmt, die in Dichtung und Wahrheit ja immerhin ihren (deutschsprachigen) »Klassiker« 16 gefunden hatte.

 
 

Anmerkungen

Hans Mayer: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg [zuerst 1973]. In: H. M.: Goethe. Hg. von Inge Jens. Frankfurt/M. 1999, S. 43–215, hier S. 158.   zurück
Vgl. Ingrid Aichinger: Künstlerische Selbstdarstellung. Goethes »Dichtung und Wahrheit« und die Autobiographie der Folgezeit. (Goethezeit 7) Bern, Frankfurt/M., Las Vegas 1977, S. 46.   zurück
Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Historisch-kritische Ausgabe. Bearb. von Siegfried Scheibe. Bd. 1: Text. (Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin) Berlin 1970, S. 11.   zurück
Die Jahreszahlen zu den Überschriften der Großkapitel erscheinen nur im Inhaltsverzeichnis, nicht im Text.   zurück
Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abth. IV: Goethes Briefe. Bd. 3: Weimar 1775–1778. Weimar 1888, S. 199.   zurück
An Carl-August von Sachsen-Weimar, 16.2.1788 und 11.8.1787; Goethes Werke, Abth. IV (Anm. 5), Bd. 8: Italiänische Reise. August 1786 – Juni 1788. Weimar 1890, S. 348 und S. 241; zitiert bei Rohde, S. 90.   zurück
Erweiternd ließe sich in diesem Kontext nach dem Werther fragen. Auch in ihm tritt ja ein Herausgeber auf – und auch Werther ließe sich im übrigen unter die ›stellvertretenden Lebensläufe‹ stellen und dann autobiographisch kontextualisieren, wenn man den biographischen Hintergrund Goethes in Wetzlar und die Reflexionen dazu in Dichtung und Wahrheit mit einbrächte. Das würde die Studie für die Vorweimarer Zeit öffnen, die bei Rohde unbeleuchtet bleibt.   zurück
Im ältesten Schema zu Dichtung und Wahrheit von 1809/10 unter der Jahreszahl 1775; Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Historisch-kritische Ausgabe. Bearb. von Siegfried Scheibe. Bd. 2: Überlieferung, Variantenverzeichnis und Paralipomena. (Hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR) Berlin 1974, S. 462; bei Rohde S. 227.   zurück
Unter der leitenden Frage »Was war das wahre Leben von modernen Individuen?« (S. 107) hätten hier eingebracht werden können die nicht berücksichtigten Arbeiten von Karl Eibl: Goethes Faust als poetisches Spiel von der Bestimmung des Menschen. In: Aufklärung 11, Heft 1 (1999): Die Bestimmung des Menschen. Hg. von Norbert Hinske, S. 49–66, und Karl Eibl: Das monumentale Ich. Wege zu Goethes »Faust«. Frankfurt/M., Leipzig 2000.   zurück
10 
Daß um der »leichteren Formulierbarkeit« und der »flüssigeren Lesbarkeit« willen Flexionsangleichungen in Zitaten ungekennzeichnet erscheinen (S. 430), ist allerdings nicht nachzuvollziehen. Damit wird ein übliches Verfahren wissenschaftlicher Präzision aufgegeben, was einer wissenschaftlichen Arbeit per se nicht zum Vorteil gereichen kann.   zurück
11 
Etwa Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. (Sammlung Metzler 323) Stuttgart, Weimar 2000 oder Michaela Holdenried: Autobiographie. Stuttgart 2000; erstere Arbeit ist bei Rohde en passant erwähnt, letztere gar nicht.   zurück
12 
Zumindest hingewiesen sei darauf, daß auch der ›Schreiben‹-Begriff, den der Untertitel exponiert, nur als das, »was die autobiographischen Schriften oder einzelne von ihnen miteinander verbindet« (S. 14), definiert wird, ohne daß jüngere literaturwissenschaftliche Arbeiten zur Praxis und Semantik des Schreibens dazu in ein Verhältnis gesetzt würden. – Vorsicht wäre insgesamt bei solchen, terminologisch nicht mehr beliebigen Verwendungen angebracht. Ob man etwa in Abgrenzung von den allemal vorwissenschaftlichen Verfahren »Paraphrase und Nacherzählung« zum Ziel der Arbeit »dichte Beschreibung« erheben kann (S. 14), ohne jede weitere Erläuterung und vor allem ohne Bezug zu Geertz’ kulturwissenschaftlichem (Text-)Begriff (vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übers. von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann. Frankfurt/M. 1983), darf fraglich bleiben.   zurück
13 
Harald Schnur: Identität und autobiographische Darstellung in Goethes ›Dichtung und Wahrheit‹. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1990, S. 28–93.   zurück
14 
Rüdiger Nutt-Kofoth: Varianten der Selbstdarstellung und der Torso des Gesamtprojekts Aus meinem Leben: Goethes autobiographische Publikationen. In: Christa Jansohn / Bodo Plachta (Hg.): Varianten – Variants – Variantes. (Beihefte zu editio 22) Tübingen 2005, S. 137–156.   zurück
15 
Wilhelm Meisters Wanderjahre, Buch 3, Kap. 14; Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Bd. 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Maximen und Reflexionen. Hg. von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München 1991, S. 674. – Diese Textstelle wird für den Wanderjahre-Kontext ausgewertet als Verweis »ins Ungewisse hinaus« bei Heinrich Detering: Goethe, »Lenardos Tagebuch«. In: Dietrich Jöns / Dieter Lohmeier (Hg.): Festschrift für Erich Trunz zum 90. Geburtstag. Vierzehn Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 19) Neumünster 1998, S. 115–128, hier S. 127.   zurück
16 
Wagner-Egelhaaf 2000 (Anm. 11), S. 161.   zurück