IASLonline

Weitgespannte Extreme

Eine Längsschnittuntersuchung von
Kleist bis Reinold Goetz

  • Uwe Schütte: Die Poetik des Extremen. Ausschreitungen einer Sprache des Radikalen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 451 S. Gebunden. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 978-3-525-20845-8.
[1] 

Uwe Schütte ist mit seinem second book ein interessantes Buch gelungen: Seine Untersuchung der Poetik des Extremen hält sich nicht – wie oft andere Untersuchungen – nur bei einem Autor auf oder konzentriert sich nur auf eine, überdies meist schon mehr als befriedigend erschlossene Werkphase, sondern nimmt sich im Anschluss an eine einführende Vorbemerkung im ersten Abschnitt Teile des Werks von Heinrich von Kleist unter dem Titel »Die Geburt aus dem Geist der Revolution« vor, untersucht im zweiten Teil unter der Überschrift »Die Revolution frißt ihre Kinder« Werke von Friedrich Hölderlin und Georg Büchner, leitet im dritten Teil »Nach dem Krieg ist vor dem Krieg« über zu Betrachtungen zu »Drogen & Rausch zwischen den Weltkriegen« (dort zu Gottfried Benn, Klaus Mann, Ernst Jünger und Walter Benjamin) sowie zu Untersuchungen besonders des Pastor Ephraim Magnus von Hans Henny Jahnn und endet im vierten Teil unter der Überschrift »Das Zeitalter der Extreme« mit Betrachtungen zu Ernst Herbeck (dem schizophrenen Dichter aus Leo Navratils Künstlerkolonie in Wien) und Rainald Goetz.

[2] 

Die Forschung, so konstatiert Schütte mit Recht, habe oft zu »isoliert gearbeitet und verabsäumt, diachrone Verbindungslinien durch die Literaturgeschichte zu ziehen«. Schütte begibt sich entsprechend auf die Suche nach einer »Ästhetik des zerspritzten Hirns«, sucht »Ansätze einer Katharsis durch Ekel, das Motiv der entfesselten Macht der Musik, eine Poetik des Messers«, sucht nach der literarischen »Reflexion des Ausnahmezustandes«, nach der »Sicht der Gegenwart als Hölle«, dem »Prinzip des radikalen Experiments und apokalyptische[n] Denken[s]« (S. 9). Bei seinen Untersuchungen geht Schütte dabei nicht vom Begriff des Radikalen, sondern von dem des »Extremismus« aus: Dieser sei ein relativ junger Begriff, der, datiert auf die 1950er Jahre, »als Gegenbegriff zum pluralistischen, liberal-demokratischen Staat« und als Fortschreibung des Begriffs des Radikalen zu verstehen sei (S. 14). Die Tatsache, dass in seiner Untersuchung eine Vielzahl von Texten keine Berücksichtung finden konnte, kann keineswegs erstaunen (Schütte selbst nennt Grabbe, den frühen Hauptmann, Bronnen, Kafka, Heiner Müller oder Marianne Fitz, doch wäre diese Liste leicht erweiterbar).

[3] 

Der Titel der Arbeit bleibt zumindest missverständlich, da sich eine Definition oder auch nur eine Annäherung an eine Poetologie des Extremen wenn überhaupt, dann nur andeutungsweise und verstreut finden lässt.

[4] 

Der besondere Wert der Untersuchung zeigt sich demgegenüber besonders in zwei Momenten: Zum einen hat Schütte die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte griffig und originell auf den Punkt zu bringen (die folgenden Beispiele stehen exemplarisch). Zusammenfassend bemerkt er etwa im Hölderlin-Kapitel (S. 157):

[5] 
Vor dem Horizont der Verknüpfung von Literatur und Leben, Wort und Tat wird erst verständlich, daß ›Zorn‹ bei Hölderlin nicht nur eine poetische Chiffre darstellt, sondern ihm als psychisch konkreter Affekt die Möglichkeit bot, durch dessen Literarisierung die im ›hic et nunc‹ erlebte Verbindung mit dem Aorgischen – man könnte wohl auch sagen: das entgrenzende Anbranden des Wahnsinns – poetisch zu gestalten.
[6] 

Seine Charakterisierung des armen Woyzeck als eines »Vorläufer[s] der ›working poor‹ des 21. Jahrhunderts mit mehreren Teilzeit- und Minijobs« (S. 224) könnte allein schon als Grundlage für eine interessante Bühnen-Inszenierung dienen. Und seine entfremdende Anleihe bei einem Buchtitel von Rolf Dieter Brinkmann enttarnt Walter Benjamins doch eher betuliche Drogenexperimente in Zusammenhang mit seiner politischen Abstinenz »als ›pharmakologische Erkundigungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand‹« (S. 280).

[7] 

Zum anderen gelingt es ihm, in der Längsschnittbetrachtung des untersuchten Materials verblüffende Verbindungen aufzuzeigen, etwa von Kleists bühnensprengenden Versuchen bis zu Jahnns Monomanie in seinem Ugorino, 1 in Bemerkungen über die hinter einem Suizid stehende mögliche Wirkungsabsicht von Kleist beziehungsweise seiner Figur Michael Kohlhaas bis zu einigen Mitgliedern der RAF in Rainald Goetz’ Text (S. 413) oder etwa über die Wirkung von Musik von Kleists Die heilige Cäcilie über den Stellenwert der Musik in den Werken des Orgelbauers Hans Henny Jahnn bis zu der Schilderung eines Konzertes der Gruppe »spacemen 3« in Goetz’ Roman Kontrolliert.

[8] 

Solche Linien finden sich in diesem Buch zuhauf. Doch wird es dem Leser nicht leicht gemacht, eben diese Linien auch auf eigene Faust zu verfolgen oder sogar neue Verbindungen zu schlagen: Kritisch zu bemerken ist, dass die Lektorierung des Bandes (vorausgesetzt, der Band wurde vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht überhaupt in irgend einer Form begleitet) wenig zuverlässig erfolgte: Dabei mag es zu verschmerzen sein, dass sich gehäuft Rechtschreib- und Kasusfehler finden, denn es gibt bekanntlich kein fehlerfreies Buch. Viel unangenehmer ist, dass dem Band weder ein Personen- noch ein Sachregister zugestanden wurde.

[9] 

Schütte verfährt in seinen Interpretationen meist »hermeneutisch« (S. 11) und führt vor allem Theoretiker wie Benjamin, Bataille, Girard, Foucault, Baudrillard oder Deleuze / Guattari an. Dies mag auf den ersten Blick verwundern, haben doch diese Theoretiker wenig zu den behandelten Texten mitgeteilt und ist doch die einsinnige Interpretation der Hermeneutik gerade in der Verpflichtung auf die Rekonstruktion des einen Sinns (wenn oft auch nur in Annäherung beziehungsweise asymptotisch) nun gerade weder typisch für die in Schüttes Sinne extremen Texte noch für die genannten Theoretiker.

[10] 

Französische Tradition

[11] 

Entsprechend provoziert die Beschränkung auf solche im weitesten Sinne kulturphilosophischen theoretischen Ansätze einige Schwierigkeiten. Ein Dreisprung über Bataille und de Sade zu Kleists Penthesilea ist durchaus überzeugend (S. 81). Aber ein ähnlicher Dreisprung über Deleuze / Guattari und Franz Kafka zum schizophrenen Dichter Ernst Herbeck als typischen Verfasser minoritärer Literatur ist zumindest diskussionswürdig. Die Anführung von veralteter Schizophrenie-Theorie 2 verführt in diesem Zusammenhang dann auch zum einen simplifizierend dazu, von einem fest umrissenen, ahistorisch gültigen Krankheitsbild Schizophrenie auszugehen, 3 zum anderen etwa Ernst Herbeck zu unterstellen, sich bestimmte Stilmittel bewusst gewählt zu haben. Schütte führt aus (S. 368):

[12] 
War dieser [Kafka] aber zu einem letztlich produktiven Umgang mit seinem als Zwangslage 4 empfunden Leben fähig, so ist Herbeck ein Zerstörter, der die ihm aufgenötigten Konventionen, den Konsens zerstört. Indem er sich freiwillig deklassierend unter das Niveau der approbierten Kultur begibt, das Fundament der Logik durchstößt, um abzutauchen ins [sic] das in den Untergrund Verdrängte, von der er Fragmente an die Oberfläche holt, ist Herbeck ein genuiner ›Ur-heber‹ versunkener Sprachschätze.
[13] 

Ebenso bedenklich ist an dieser Stelle die Einbeziehung von Levi-Strauss beziehungsweise dessen, was Levi-Strauss »pensée sauvage« nennt, es würden, so Schütte, »in der Schizophrenie menschheitsgeschichtlich überwundene Verhaltensformen reaktiviert werden« (S. 369). Das ist, vorsichtig ausgedrückt, zumindest fraglich. In der Schizophrenie zeigt sich (vermutlich) nicht ein Rückgriff auf alte Strukturen, sondern zeigen sich Schwierigkeiten, Strukturen überhaupt erst zu formen, sodass der Schizophrene in die Lage kommen könnte, sich in der Welt zurechtzufinden, in ihr seinen Platz zu finden und diesen auch noch zu verteidigen. 5 Was sollte aber im Gegenzug dazu eine ausschließlich »philosophische Erkundung des Wahnsinns in der Postmoderne« (S. 344), wie Schütte sie für seine Untersuchung des Herbeckschen Werkes zum Ausgangspunkt nimmt, einbringen?

[14] 

Doch lässt sich zumindest die Heranziehung vor allem der französischen Theoretiker durch eine, wie Schütte zu Recht vermerkt, eigene französische Tradition begründen, die zum Beispiel im Werk des Marquis de Sade ansetzt und entsprechend in Deutschland fehlt. Erstaunlicherweise stehen alle von ihm untersuchten Literaten in irgendeiner engeren Beziehung zu Frankreich (S. 11):

[15] 
Kleist opponierte vehement gegen die französische Besatzung Preußens, Hölderlin hingegen entwich dem Zwang einer Pfarrersexistenz nach Bordeaux und Büchner flüchtete vor politischer Verfolgung ins Elsaß. Benjamin arbeitete im Pariser Exil am unvollendeten Passagenwerk, die Metropole zur Hauptstadt des 19. Jahrhunderts (v)erklärend. Ernst Jünger wiederum komtemplierte [...] das feurige Schauspiel ihrer Bombardierung durch die Luftwaffe, während der Ich-Erzähler in Kontrolliert [einem Text von Goetz] die Nacht des 17. zum 18. Oktober 1977 radiohörend in seinem Mansardenzimmer [in Paris] erlebt.
[16] 

Daraus ergibt sich fast zwangsläufig, dass die Biographie der Autoren in die Untersuchungen mit einbezogen werden muss: Der extrem Schreibende ist meist der, der am Rand der Gesellschaft lebt und keinen festen Ort innerhalb der Gesellschaft finden kann. Zu Recht führt Schütte in diesem Zusammenhang Kleists Begriff des »organischen Fragments« (S. 13) an: So wenig, wie der Schreibende einen festen Ort in der Gesellschaft finden kann, so wenig präsentiert sich sein Werk als abgeschlossen und gerundet.

[17] 

Fazit

[18] 

Die kritischen Anmerkungen schmälern den Wert des Bandes jedoch nicht grundsätzlich: Uwe Schütte ist ein anregendes Buch gelungen. Wie anregend es ist, zeigt sich vor allem daran, wie leicht man während der Lektüre eigene Überlegungen in der von Schütte eingeschlagenen Richtung entwickeln kann (und auf diese Weise die engen Vorgaben der Untersuchung, sich nur auf ausgewählte deutschsprachige Texte zu konzentrieren, umläuft): Kann man die exzessive Beschreibung von Wunden in Vergils Aeneis bereits als ersten Schritt auf dem Wege zu einer Poetik des Extremen werten? Zeigt sich in der Klage, dem zweiten Teil des Nibelungenliedes, bereits eine Poetik des Extremen? Sind Andreas Gryphius’ Kirchhoffsgedanken bereits ernstzunehmende Gehversuche in dieser Richtung (und entdeckten genau aus diesem Grunde einige der Expressionisten die Barockliteratur für sich, nachdem diese so deutlich in Vergessenheit geraten war)? Von der Gegenwart ganz zu schweigen: Inwieweit gelingt es Elfriede Jelinek, eine Sprache in und durch Sprache selbst bis in das Extrem hinein zu dehnen und zu zerbrechen? Und was macht etwa das Extreme in Sarah Kanes Theaterstücken aus?

 
 

Anmerkungen

Schütte unterschätzt hier wie an anderer Stelle jedoch extreme Überdehnungen in Texten der Weimarer Klassik, die er vorschnell nicht in seine Untersuchungen einbezog. Leicht lassen sich Büchners zerrissene Dialoge in Woyzeck gegen Goethes Hermann und Dorothea (S. 232) ausspielen, doch ist mindestens die frühere Fassung des Faust (etwa in der dem späten Goethe kaum noch erträglichen Prosafassung der Kerkerszene) eine angemessenere Vergleichsgröße. Zu denken wäre auch an die alle Dimensionen sprengende Radikalität des Zweiten Teils des Faust (vgl. etwa Ulrich Gaier in dessen »Goethes Traum von einem Faust-Film«, in U. G.: Fausts Modernität. Essays. Stuttgart: Reclam 2000, S. 92–136, hier S. 136: Goethes Auseinandersetzung im Faust II mit der Kraft von Bildern und Abbildungen sei »die höchste, kühnste und geistreichste Stufe« in dessen Auseinandersetzung mit dem Theater, einer Auseinandersetzung, die »die bühnentechnische[n] Möglichkeiten weit übersteigt und die man, abgesehen von der inhaltlichen Bedeutung, als Antizipation des Films in seinen raffiniertsten Techniken bezeichnen« könne). Die Tatsache, dass Goethe, wie Schütte zitiert, über Kleists Penthesilea bemerkte, dass es ihn »immer betrübt und bekümmert, wenn ich junge Männer von Geist und Talent sehe, die auf ein Theater warten, welches da kommen soll« (S. 66), sagt nichts z.B. über die Struktur von Goethes Faust II aus, sondern ist lediglich Beweis für Goethes Versuch, extreme Formen in seinem eigenen Werk zu verschleiern, wie auch – um nur zwei Beispiele zu nennen – seine Überarbeitungen der Prometheus-Ode und des ersten Teils seiner Faust-Tragöde zeigen.   zurück
Zu Bleuler vgl. S. 67, 354, 374 u.ö., zu Kraeplin vgl. S. 213.   zurück
Vgl. etwa S. 213 bzw. ein von Schütte angeführtes Zitat Kraeplins über Büchner, Büchner habe bei der Schilderung von Lenz »bis ins Detail das Krankheitsbild einer schizophrenen Psychose herausgelesen und in klaren, das Wesentliche scharf herausstellenden Zügen aufgezeichnet, so genau, wie es von der [!] Psychiatrie erst sechzig Jahre später definiert [!] wurde«.   zurück
Dass dies alles andere als eine gesicherte Tatsache ist bzw. man im Falle Kafkas anders als Deleuze / Guattari durchaus von einem ihn erfüllenden Leben, das Kafka sich selbst vorzeichnete, ausgehen kann, hat jüngst wieder Oliver Jahraus nachgezeichnet (vgl. dessen: Franz Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate. Reclam: Stuttgart 2006).   zurück
Vgl. z.B. Günter Wienberg (z.B. G. W. (Hg.): Schizophrenie zum Thema machen. Grundlagen und Praxis. Bonn: Psychiatrie-Verlag 1995), der ausführt, dass es sich bei der Schizophrenie allgemein viel mehr um die Schwierigkeit gestörter Informationsverarbeitung handelt: Das Problem bei schizophreniegefährdeten Menschen liege »bei der selektiven Aufmerksamkeit; die gerichtete, kategorial auswählende Aufnahme und Verarbeitung innerer und äußerer Reize ist zeitweise beeinträchtigt« (S. 30). Diese Veranlagung – Wienberg spricht von »Verletzlichkeit« (im Prinzip ist also jeder Mensch graduell schizophreniegefährdet) – kann, muss aber nicht in einer Phase akuter Schizophrenie enden, denn es kommen noch andere, z.B. soziale, Faktoren hinzu. Wienberg versteht Schizophrenie also als eine Störung der Informationsverarbeitung – und gerade nicht als Rückgriff auf archaische Strukturen, sondern vielmehr als die Unfähigkeit, Strukturen welcher Art auch immer überhaupt erst aufzubauen.   zurück