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Europa mon amour

  • Claude D. Conter: Jenseits der Nation - Das vergessene Europa des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte der Inszenierungen und Visionen Europas in Literatur, Geschichte und Politik. Bielefeld: Aisthesis 2004. 780 S. Zahlr. Abb. Gebunden. EUR (D) 50,00.
    ISBN: 3-89528-428-9.
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Als ich im Seminar versuchte, die politische Dichtung des Vormärz zu erklären, habe ich besonders auf Hoffmann von Fallerslebens Lied der Deutschen aufmerksam gemacht. Da amerikanische Studenten selten eine Vorstellung davon mitbringen, wo die Maas und die Memel, die Etsch und der Belt eigentlich liegen, legte ich ihnen eine historische Landkarte vor, auf der ich versucht habe, die impliziten Grenzen Hoffmanns mit Bleistift zu zeichnen. Da wird sofort zweierlei klar: daß der Philologe Hoffmann, der die Nationalität mit der Sprache identifizierte, versucht, die Grenzen der deutschen Sprache zu ziehen, und daß es innerhalb des Hoffmannschen Vierecks auch eine Menge anderer Sprachen, also anderer Völker, gibt. Da springen die Aporien der groß- bzw. kleindeutschen Lösung gleich in die Augen. Etwas anderes muß aber den Studenten extra erklärt werden: daß das Gedicht seinerzeit ein subversives gewesen ist, das von Julius Campe zusammen mit der Haydnschen Melodie gleichsam als Samisdat vertrieben werden mußte, und überall verboten wurde, so daß der Erstdruck heute zu einer antiquarischen Seltenheit geworden ist. Durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ist der Nationalismus derart indiskutabel geworden, daß die Studenten manchmal überrascht sind, zu erfahren, er habe einst oppositionell oder quasirevolutionär wirken können. Unsere heutigen Überzeugungen haben in gewohnter Weise den Diskurs der Vergangenheit so sehr bemächtigt, daß der Nationalismus zu einem Tabu geworden ist. So hat z.B. mein gelegentlicher Vorschlag, Heines aggressiver Antinationalismus sei für einen Schriftsteller, dessen Absicht es war, das breite Publikum zu überzeugen, eine fragwürdige Strategie gewesen, keine Fortüne gehabt, weil sein Standpunkt uns heute fraglos richtig erscheint.

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Mit einer auf einer Bamberger Dissertationen basierenden, außerordentlich weitreichenden und in jeder Hinsicht interdisziplinären Untersuchung will Claude D. Conter der Diskussion dadurch neue Impulse geben, indem er den Europabegriff im deutschen öffentlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts im Geiste der Foucaultschen Archäologie freilegt, wobei er der »Sichtweise der borussischen Geschichtsschreibung« (S. 673) entgegenwirken will. »Der geschichtsphilosophische Anspruch Europas, Träger des politischen und zivilisatorischen Fortschritts zu sein« sei »unschwer zu erkennen« (S. 5). Dabei zeigt sich, daß sich der Europadiskurs nicht nur als Alternative oder Gegensatz zum Nationalismus zeitigt, sondern ihm manchmal parallel läuft oder mit ihm verzahnt wird. In der dissertationsmäßig dichten theoretischen Einführung werden nach Luhmann »Literarische Texte nun als diskursive Gebilde, als spezifische Reaktionen auf die Wirklichkeit oder als ›konstruktive[r] Verstehensentwurf‹, nicht aber als Abbild der Wirklichkeit verstanden« (S. 29). Erfreulich ist, daß »aus der Rekonstruktion des Europadiskurses zwischen 1815 und 1871 keine aktualisierenden Schlüsse auf den gegenwärtigen Europadiskurs gezogen werden [sollen]« (S. 35).

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Das Datum 1871 erscheint hier, weil Conter meint, daß »sich die mit der Reichsgründung Deutschlands die politische Lage grundsätzlich verändert, so dass das nationale Empfinden das bis dato inszenierte Bewusstsein einer europäischen Identität nachhaltig unterdrückt« (S. 6); ich komme an diesen Punkt gegen Ende kurz zurück. Eigentlich läuft sein 19. Jahrhundert »vom Ende der napoleonische Herrschaft mit der politischen Restrukturierung des Kontinents 1814/15 bis zum Krimkrieg 1854–56« (S. 41).

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Andererseits, trotz aller theoretischen Genauigkeit, wird der Kontinent Europa nicht geographisch definiert, und das mit gutem Grund. Gehört England dazu? Gehört Rußland dazu? Soll nicht Metternich einmal gemeint haben, Asien fange schon in Simmering an? Die Heilige Allianz schließt Rußland ein, die ›Pentarchie‹ des postnapoleonischen Gleichgewichtssystems auch England. Im Lauf der Analyse aber zeigt sich, daß ›Europa‹ eine elastische Vokabel, kein definierbarer Weltteil ist. Saint-Simon wollte nach dem Modell des englischen Parlaments Frankreich und England verbinden, daraufhin Deutschland mit einbeziehen. Schon Napoleon aber wollte England »aus Europa verbannen« und betrachtete Rußland »als Bedrohung« (S. 66). Mit der Zeit wird die Türkei von allen Seiten ausgeschlossen, als sich die Vorstellung von Europa als christlicher Bastion verfestigt. Victor Hugo projizierte ein deutsch-französisches Bündnis, das Rußland und England ausschließen sollte, während Moses Heß wenigstens ursprünglich England aber nicht Rußland einbezieht. Das ist auch die Vorstellung von Charles Sealsfield. Harro Harring befürwortet einen Dialog mit allen Nationen mit Ausnahme von Rußland und Österreich.

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Nach Conter spalten die Revolutionen von 1830 den Kontinent: »Da sich der Liberalismus im 19. Jahrhundert als die moderne und erfolgreichere Variante erweist, rückt Österreich-Ungarn in der politischen Geografie immer näher an Russland. […] 1830 verliert Europa seine Mitte und denkt sich stattdessen in Ost- und Westeuropa« (S. 486). Schon nach der griechischen Revolte werde Rußland »immer mehr an die Peripherie gedrängt und im Diskurs von der asiatischen Barbarei verortet« (S. 648); zur Zeit des Krimkriegs ist »Russland zum ›Erbfeind Europas‹ geworden« (S. 487 f.). Heinrich Zschokke schließt Rußland aus und meint, England »gehört schon zu Nordamerika, Konstantinopel zu Asien« (S. 458). Conter sieht richtig, daß Heine »auf eine Vorreiterrolle der deutsch-französischen Freundschaft« (S. 203) hofft, hätte aber hinzufügen können, daß für ihn Europa ausschließlich aus Frankreich und Deutschland bestehen soll; trotz aller weltbürgerlichen Rhetorik haben andere Völker wenig oder nichts bei ihm zu suchen

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Man sieht aus diesem Beispiel, wie kompliziert und facettenreich das Thema Conters ist; im Folgenden können nur Höhepunkte seiner Darstellung gestreift werden.

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Das Napoleonische Vor- bzw. Schreckbild

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Der Europabegriff der Zeit steht im Schatten der Napoleonischen ›Universalmonarchie‹. Trotz seiner diesbezüglichen Rechtfertigungsschriften aus dem Exil ist es damals schwergefallen, europäische Vereinigungsgedanken von den Erinnerungen an Napoleons Tyrannei und Gewaltsamkeit zu trennen. Obwohl das Gleichgewichtssystem des Wiener Kongresses als Antwort auf Napoleon konzipiert wurde, fällt der Schatten Napoleons ironischerweise auf die Heilige Allianz und die ›Pentarchie‹, da der Eindruck entsteht, daß der Zusammenschluß der Staaten gegen die Aspirationen der einzelnen Nationen gerichtet ist. Einerseits tastet der Wiener Kongreß nach europäischen Lösungen, etwa in der Abschaffung des Sklaventums oder der Regulierung der Schiffahrt auf dem Rhein, andererseits versucht Metternich, »eine europäische Zentralstelle der fünf Großmächte gegen die demokratische und liberale Bewegung zu schaffen« (S. 121 f.), mit einer logischen Konsequenz: »Auf die nach dem Zusammenbruch dringlich gewordene Frage nach der politischen Rekonstruktion in Europa antworten die Freiheitskämpfer mit der Option des Nationalstaates« (S. 53).

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In dem Diskurs darüber, wie eine europäische Ordnung aussehen dürfte – der übrigens trotz der Zensur bemerkenswert reichhaltig und weitverbreitet wird – , entwickeln sich gegen die Gleichgewichtstheorien des Metternichschen Systems die zwei Möglichkeiten des Föderalismus und des Konföderalismus, mit anderen Worten des Bundesstaates (manchmal mit etwas ungenauem Hinweis auf die Vereinigten Staaten) und des Staatenbundes, wobei die Begriffe nichts weniger als klar unterschieden werden. Der Föderalismus ist die schwächere Richtung, weil sie im Zeitgefühl mit dem Makel der Napoleonischen ›Universalmonarchie‹ behaftet bleibt. Trotzdem begegnet man immer wieder Vorstellungen von einem Völkerbund oder von Vereinigten Staaten von Europa. Stärker vertreten sind aber die verschiedenen Versionen eines Staatenbundes, der die Individualität und die Interessen der Nationen berücksichtigen sollte. In dieser Diskussion kommen in unzähligen Variationen zwischen Gleichgewichtstheorien und Völkerbundsvorstellungen viele Schriftsteller zu Wort, darunter Fichte, Görres, Rückert, Lenau, Grillparzer, Arndt, Körner, Kleist, E.T.A. Hoffmann, Chamisso, Eichendorff, Wilhelm Müller, Börne, Byron, Goethe, Grabbe, Herwegh, und auch Heine, obwohl sein Denken wie gewöhnlich in eine andere Richtung geht: »die Napoleon idealisierenden Darstellungen […] initiieren keine politische Reflexion mehr über eine europäische Föderation« (S. 75). Mit einer seiner vielen feinen Formulierungen bemerkt Conter: »Die Poesie nimmt im 19. Jahrhundert nicht selten eine politische Avantgardestellung ein, weil sie ein utopisches Reservoir ist, aus dem die politischen Programmatiker schöpfen« (S. 196).

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Conter unterbricht seine breit zusammenfassenden Darstellungen gelegentlich mit detaillierten Charakterisierungen von einzelnen Denkern, darunter Saint-Simon, Alexander Lips, Friedrich Schlegel, Proudhon, Julius Fröbel, Mazzini, Heß. Besonders interessant, weil vielen von uns wohl weniger bekannt, ist der dänische Teilnehmer am Wiener Kongreß, Konrad Schmidt-Phiseldek, der konkrete Vorschläge zu einem europäischen Völkerbund gemacht hat. Er verlangte gegenseitiges Fremdsprachenlernen, den Verzicht aller Nationen auf Krieg, »einen freien Verkehr von Waren und Menschen« (S. 229), ein europäisches Bundesheer zur gemeinsamen Verteidigungsstrategie bei der gleichzeitigen Auflösung der nationalen Streitkräfte und der darausfolgenden Reduzierung der militärischen Kosten, und eine europäische Währung zusammen mit der Tilgung der Staatsschulden durch »eine internationale Lösung, bei der jeder Staat zu einer strengen Haushaltspolitik gezwungen wird. Es ist dann keinem Staat mehr erlaubt, unkontrolliert Defizite zu machen und die Zinsen von Anleihen zu mehren« (S. 234). »Die Zweifel bei der Realisierung versucht Schmidt-Phiseldek immer wieder zu beschwichtigen, indem er auf das Beispiel USA [hinweist]: ›Was wir für Europa’s Zukunft als Ziel der Bestrebungen hingestellt haben, existiert und ist faktisch gegeben in Nord-Amerika‹«(S. 237). Sein »Ziel ist die ›europäische Union‹« (ebd.). Trotz der willkommenen Absage Conters an prophetischen Zuschreibungen kann man sich hier den Eindruck einer echt seherischen Begabung nicht erwehren.

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Europa- bzw. Amerikamüdigkeit

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Daß diese ganze rege Diskussion, die ganzen hochintelligenten Initiativen zu einer progressiven Neugestaltung Europas bzw. zur Befreiung der Nationen zu nichts führten, daß das alles am undurchdringlichen, unerschütterlichen Metternichschen System abprallte, führte zur Frustration und Melancholie, die die Stimmung des Vormärz fühlbar prägten. Europa schien sich in einer Krise zu befinden; es »greift die Meinung um sich, die Alte Welt sterbe« (S. 244). Diese Stimmung erzeugte den Begriff der Europamüdigkeit, die von Heine schon 1828 in den Englischen Fragmenten geprägt wurde, bei Platen, Eichendorff, Immermann und Börne Spuren hinterlassen hat und dann 1838 eine etwas verkorkste Gestalt in Ernst Willkomms Roman fand. Wieder einmal steht im Hintergrunde Goethe mit seinem Amerika-Gedicht und die Auswanderungsepisode am Ende der Wanderjahre. Mit Bezug auf Hegel wird festgestellt, das Amerika in damaliger Perspektive eine europäische Schöpfung gewesen sei. Europa soll wieder belebt werden, indem es in die Neue Welt eingepflanzt wird; Amerika soll ein besseres Europa werden. »Je europamüder die literarischen Helden, desto eurozentrischer ist die Sichtweise der Autoren« (S. 264). Selbstverständlich wird das Amerika-Thema von der schwellenden Auswanderung belebt. Conter ist von diesem Teil des Diskurses wenig beeindruckt; er betrachtet ihn als Modephänomen, »die Literarisierung der europäischen Krise«, »Propagandamaterial der europamüden Marktschreier«, »schick« (S. 262); keiner der Schriftsteller hätte ernstlich daran gedacht, zu emigrieren.

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Conter könnte hierin soweit recht haben, ich finde aber seine Sicht auf die Amerikaliteratur etwas verkürzt. Er bezieht sich größtenteils auf Wynfrid Kriegleders Vorwärts in die Vergangenheit, eine beachtliche Arbeit, die aber hauptsächlich Autoren aus dem späten 18. Jahrhundert behandelt, die meistens ohne unmittelbare Amerikaerfahrung geblieben sind. Conter bezieht sich auf Gerstäckers frühen, düster gegenutopischen Roman Der deutschen Auswanderer Fahrten und Schicksale (1847), wo die Mehrzahl der zerstrittenen, lebensfremden Deutschen ein schlimmes Ende nehmen. Aber seine späteren, von Conter unerwähnten Reiseberichte und Romane, besonders Nach Amerika! (1855), die auch bei Kriegleder nicht vorkommen, sind optimistischer gestimmt. Zwar insistiert Gerstäcker immer wieder darauf, daß die Emigranten kein neues Deutschland in Amerika gründen können, nicht ihre alten Gewohnheiten und Einstellungen mitbringen dürfen, sondern sich amerikanischen Zuständen anpassen müssen.

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Jedenfalls erzeugen die Europamüdigkeit und die Faszination mit Amerika unausbleiblich eine Gegenreaktion, besonders als die Auswanderung oft als Abkehr von Europa wenn nicht als Verrat an der Nation empfunden wird. Zum geflügelten Wort wird Rückerts Zeile aus dem Jahre 1817, »Bleibet im Lande und nähret euch redlich«. Spektakuläres Beispiel ist Ferdinand Kürnbergers Der Amerikamüde, ein Roman, dessen Titel offensichtlich gegen Willkomms Europamüden opponiert. Nach Conter geht es Kürnberger »weniger um die Kritik an den Vereinigten Staaten als vielmehr um eine antagonistische Konstruktion eines amerikanischen und europäischen Imagotyps mit dem Ziel, das kulturelle und gesellschaftliche Modell Europa zu nobilitieren« (S. 361). Das scheint mir soweit richtig zu sein, es ist aber etwas merkwürdig, daß Conter bekundet: »Die Popularität des Romans erklärt sich daher, dass er von Anfang an als Fiktionalisierung von Lenaus Leben gelesen worden ist – eine Lesart [!], der in dieser Arbeit nicht gefolgt wird« (S. 357, Anm. 246). Für meine Begriffe gehört der Bezug auf Lenau zu den Schwächen in der Grundkonzeption des m. E. absurden Romans.

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Conters Bedürfnis, alles an sein Europathema anzugleichen, führt meiner Meinung nach zu einer fragwürdigen Interpretation von Heines Vitzliputzli, wo es heißt, »dass die Neue, und nicht die Alte Welt entgegen der geschichtsphilosophischen Prophezeiungen aus Europa dem Untergang geweiht ist. […] Ohne Europa ist die Neue Welt nur ein Trümmerhaufen« (S. 354). Mir scheint, Vitzliputzli gehört gar nicht in diesen Kontext. Heines Amerika ist hier nicht Nordamerika mit allen politischen und kulturellen Implikationen, sondern das tropische Mittelamerika aus der Vorstellung des 18. Jahrhunderts. Wieso ist das Mexiko des 16. Jahrhunderts »Land des Fortschritts und der Freiheit« (ebd.)? Wohl nur als Äquivokation mit dem Amerika des damaligen Diskurses.

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Darauf wendet sich Conter der Reiseliteratur zu, wo Europa von außen inszeniert wird. Prominentes Beispiel ist Pückler-Muskau, »Semilasso« (d.h., was ich früher nicht gemerkt habe, der »Halbmüde«), der hier etwas nachsichtiger als gewöhnlich behandelt wird, besonders in seiner Zeit. Gänzlich unerwartet kommt dann ein Abschnitt über Stifters Abdias »als kritischer Kommentar auf die europäischen Dislozierungen« (S. 404). Abdias suche trotz seiner europäischen Sehnsüchte ein besseres Afrika in Europa; er assimiliere sich nicht und gebe seiner Tochter keine Schulbildung. Er »scheitert in Europa, weil er den aus europäischer Perspektive afrikanischen Geist nicht ablegen kann« (S. 405). Die judenunfreundliche Färbung der Novelle wird hier nicht thematisiert.

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Revolutionen

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Die Reihe der Aufstände und Revolutionen in den dreißiger und vierziger Jahren bereichert und intensiviert den Diskurs über Europa. Erinnerungen an die Französische Revolution werden wieder wach, und zwar an beiden Enden des politischen Spektrums: während für Metternich die Unruhen nur eine Neuauflage des Jakobinismus bedeuteten, haben andere Inspiration aus den Erinnerungen an liberté, égalité, fraternité gezogen. Damit entsteht die Hoffnung, die Revolution könne eine gesamteuropäische Verbrüderung begründen. Vor allem wurde der griechische Unabhängigkeitskrieg als europäischer Kampf empfunden, der sich als »[l]iterarischer Philhellenismus im Namen Europas« (Kapitelüberschrift, S. 426) seinen Ausdruck fand. Für den besonders engagierten Wilhelm Müller ist der »Griechenaufstand […] ein Freiheitskampf, der in allen Staaten gegen die Legitimitätspolitik ausgefochten werden müsse« (S. 429). Es gehe »um das europäische Kulturerbe« (S. 436). »Diese philhellenische Europavorstellung betrachtet den Kontinent als kulturelle und christliche Festung mit Griechenland als Schutzwall« (S. 444).

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Die Pariser Revolution von 1830 zieht Bewegungen in Belgien, Polen und Italien nach sich. In seinen Polen- und Philhellenengedichten »erfasst [Platen] die jeweiligen Unruhen nicht in ihren nationalen Dimensionen, sondern versteht sie als lokale Verortungen eines einzigen Phänomens, des politischen Kampfes für Demokratie und Liberalismus« (S. 467). Auch das politische Bewußtsein Gutzkows wird auf internationale Dimensionen erweitert. Allerdings betrachtet Conter wieder einmal die Polenbegeisterung mit besonderer Skepsis als Modephänomen und »auch für die eigene schriftstellerische Karriere nützlich« (S. 476).

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Der Name Gutzkow bringt uns auf das Junge Deutschland und besonders auf Heinrich Laubes Romantrilogie Das junge Europa. Es liegt in Conters Konzept, das Junge Deutschland mit Mazzinis Bewegung zu identifizieren: »Die Verbindungen zwischen den beiden Jungen Deutschland, dem politischen in der Schweiz und dem literarischen in Deutschland […] lassen sich nachweisen« (S. 502, Anm. 266), obwohl es sich aus den Quellen nur ergibt, daß die Verbindung hauptsächlich in der Einbildungskraft der Demagogenriecher existiert hat; was nicht bedeutet, daß sich keine Parallelen im Mittelstück der Trilogie, Die Krieger, mit Mazzinis Ideen nachweisen lassen. Conter macht eine Reihe von scharfsinnigen Bemerkungen zur Trilogie, wobei er wie andere Beobachter einen »Rückzug in das Private und in das Idyll des Biedermeier« (S. 514) konstatiert. Er zitiert in dieser Hinsicht Benno von Wiese, ohne ganz klar zu machen, daß von Wiese diese Entwicklung in Richtung Stifter als unfreiwillig und durch die Zeitumstände erzwungen begriffen hat. Ich habe nicht ganz verstanden, warum Conter die Ansicht Hartmut Steineckes, es gebe von den Poeten zu den Kriegern eine Entwicklung zur realistischen Literatur hin, als »nicht haltbar« zurückweist (S. 504, Anm. 97). Ich betrachte Die Krieger als den realistischsten jungdeutschen Roman überhaupt; nur Mundts Madonna würde ich daneben setzen. Auch den im Roman dargestellten Fehlschlag der polnischen Revolution sehe ich weniger im Licht einer Enttäuschung über die Aussichten von Europa als eine Analyse der Klassenstruktur, wo die die fehlende Mittelklasse ersetzende jüdische Minorität zwischen den gleichmäßig antisemitischen Adligen und Bauern aufgerieben wird. Andererseits hat Conter recht, Walter Dietzes Diffamierung von Laube als Renegaten und Verräter entschieden abzuweisen.

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Auch beim Hambacher Fest findet Conter eine europäische Dimension: es gab polnische Fahnen und Lieder, mit Frankreich »fraternisiert man« (S. 531). Der deutsche Nationalstaat sollte Teil eines europäischen Völkerbundes sein. Conter macht besonders auf eine Rede Johann Wirths aufmerksam, die die Einheit Deutschlands in den europäischen Kontext stellte. Dem konföderalistischen Gedicht Harro Harrings Die Völker werden mehrere Seiten gewidmet. Allerdings wird erwähnt, daß Harring als Skandinavier aus dem Fest ausgeschlossen wurde; wie das mit der internationalen Offenheit zusammenhängt, wird nicht klar. Die Ereignisse von 1848 und deren Folgen erhalten ein widersprüchliches Gesicht. Conter beschuldigt das Kulturgedächtnis der Bismarckzeit der Unterschlagung des Geistes vom Völkerfrühling, der 1848 anfänglich geherrscht habe. Es entstehen Gedanken über die Verbrüderung der Völker und Pläne für ein föderatives Europa. Im Februar ließ Herwegh die europäische Republik hochleben; im April hat eine republikanische Versammlung in Berlin mit Reden in deutscher, französischer und englischer Sprache stattgefunden, wo zu europäischer Solidarität ermahnt wurde. Aber bekanntlich prallte die revolutionäre Begeisterung auf den eisernen Widerstand der bestehenden Ordnung ab. Schon im November erkannte Karl Marx »das Scheitern des europäischen Völkerfrühlings« und daß die Konterrevolution auch kontinental gewesen ist (S. 561 f.).

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Conter gibt detaillierte Beispiele von den literarischen Reaktionen, vom Radikalismus Freiligraths und Weerths zu den Satiren des später eher monarchistisch gesinnten Nestroy auf die provinzielle Rhetorik sowie dem Juste-Milieu-Monarchismus Ortlepps. Besondere Aufmerksamkeit wird Wagners Ring gewidmet. Wagner wird zu dieser Zeit als »anarchische[r] Revolutionsdenker« bezeichnet (S. 587); in seinem Essay Die Revolution von 1849 beschreibt er die Revolution »auf der Grundlage anarchistisch-frühsozialistischer Ideen als Kraft […], die den gesamten Kontinent erneuert« (S. 589). In der Götterdämmerung gehe die alte Ordnung unter, wobei das neue Zukunftsmodell allerdings nicht gestaltet wird.

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Das könnte als Vorzeichen der Verdünnung und Verflüchtigung des gesamteuropäischen Elans im sich verstärkenden Nationalismus gedeutet werden. Das läßt sich besonders am Frankfurter Parlament wahrnehmen. Robert Blum erntet nur Spott, als er in der Polendebatte »die Verbrüderung der Völker beschwört«, und Ruges Vorschlag, »Polens Wiederherstellung durch einen europäischen Kongreß anzubahnen«, wird ebenfalls verhöhnt (S. 566). Conter hätte auch auf die gegenseitige Entfremdung der Deutschen und Tschechen in Böhmen hinweisen können, die Schriftsteller wie Alfred Meißner und Moritz Hartmann verstört hat. Conter weist auf das von František Palacký mitverfaßte Manifest an die Völker Europas hin, es war aber eben Palacký, der anläßlich der Frankfurter Ereignisse die übernationale Zusammenarbeit kündigte. Conter berichtet über die Zeitschriften, die Europa im Titel führten, die meistens sehr kurzlebig waren. Dauerhaft war nur August Lewalds Europa, weil sie zu einem konservativen Blatt wurde, das nicht über europäische, sondern über deutsche Literatur, hauptsächlich für Deutsche im Ausland, berichtete. Der Eindruck der Zeit, daß die literarischen Bemühungen wenig Wirkung auf das allgemeine politische Bewußtsein hatten, daß der Weg vom Wort zur Tat nur ein Wunschbild war, wird von Conter bestätigt. »Die Literatur wird dann zum Surrogat der europäischen Revolution«; »der deutsche Michel liest eben lieber über die Revolution und zieht das Buch dem Gewehr vor« (S. 602, 605).

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Zur Feststellung Conters, der Europadiskurs sei im Nachmärz und endgültig nach der Reichsgründung durch den Nationalismus verdrängt worden, möchte ich nur eine Bemerkung wagen. Ich betrachte angeblich plötzliche Einschnitte im kulturellen Leben mit einiger Skepsis (den Realismus gebe es nur nach 1848). Conter zeichnet ein geradezu nostalgisches Bild von der Internationalität der Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von den Modellen aus der französischen und englischen Literatur über solche Initiativen wie die Europäische Bibliothek der neuen belletristischsten Literatur (1200 Bände, 1841–61), die Gesellschaft für in- und ausländische schöne Literatur in Berlin (gegründet 1829), den Bildersaal der Weltliteratur (Johann Scherr, 1848), den Poetischen Hausschatz des Auslandes (O.L.B. Wolff, 1848) zur Übersetzungstätigkeit und der breiten Diskussion über Goethes Begriff der Weltliteratur. Die Behauptung Conters mag für die kanonische Literaturgeschichtsschreibung und die Treitschkesche Historiographie stimmen, aber das eigentliche literarische Leben Deutschlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie wir u.a. aus den Studien Norbert Bachleitners gelernt haben, blieb im regen Austausch mit der europäischen Kultur. Das konnte ich selber bei meinem Studium von Raabe und Spielhagen bestätigen. Ein Beispiel nur wäre der in den vierziger Jahren gegründete englischsprachige Tauchnitz-Verlag, der Jahrzehnte lang florierte.

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Einige Details und Schlußbemerkungen

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Conter beweist seine Unabhängigkeit von den überlieferten Pietäten der Literaturwissenschaft nicht nur in seinem großen Konzept vom unbeachtet gebliebenen Europadiskurs, sondern auch in einigen lokalen Urteilen. Sehr willkommen ist der Hinweis auf den an Heine gerichteten Kommentar Georg Weerths aus Amerika, der »auf der Idee rassischer Suprematie« basiert; »[e]r konstatiert die Überlegenheit des Europäers gegenüber dem Fremden, der mit der Tierwelt gleichgestellt wird. Schließlich […] bilden die Europäer aufgrund ihrer ausgezeichneten Kulturleistungen den Mittelpunkt der Welt« (S. 216), eine Seite des in neuerer Zeit maßlos überschätzten Weerth, die geflissentlich übersehen wird. Ebenso willkommen ist die Freiheit von versteinerten Konventionen im Diskurs über Heine, wo Conter vom »Heine’schen Kosmopolitismus-Topos« redet (S. 356, Anm. 241) oder Heines Angst vor der Revolution anerkennt, »was nur wenige Heine-Forscher bisher bestätigt haben« (S. 670, Anm. 155).

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Das Buch ist im sehr guten Zustand; die sehr wenigen Druckfehler sind weit verstreut. Ab und zu taucht ein kleiner Lapsus auf, einmal sogar in bezug auf Heine, wo es heißt: »Ausgerechnet zu Beginn des zweiten Buches [von Börne] am Tag eins der drei Revolutionstage, am 1. Juli 1830…« (S. 265); das ist sicher eine augenblickliche Unaufmerksamkeit, denn Conter weiß so gut wie wir, daß der 28. bis zum 30. Juli die drei Revolutionstage waren, die erst gegen Ende vom zweiten Buch vorkommen. Um recht pedantisch zu sein: der Autor einer Arbeit über die Europamüden, Walter Imhoof, erscheint als »Inhoof,« kommt also an die falsche Stelle in der Bibliographie. Mir ist besonders aufgefallen, daß der amerikanische Metternichianer Henry Kissinger, der mehrmals im Text zitiert wird, nicht in der Bibliographie oder im (sowieso selektiven) Register aufgeführt wird. Das sind nur Schönheitsfehler in einer überaus großartigen Leistung, wo Massen von Materialien, oft aus heute wenig bekannten aber damals relevanten Quellen übersichtlich und informativ organisiert sind. Der Wälzer mit seinen fast 1700, teilweise inhaltsreichen Anmerkungen und 29 Abbildungen kann etwas einschüchternd wirken; mir fällt ein, was Samuel Johnson zu Miltons Paradise Lost gesagt hat, daß niemand es länger gewünscht hätte, und es ist möglich, daß die Rekapitulationen und Zusammenfassungen in den letzten Abschnitten etwas breitgetreten sind. Das ist aber ein kleinlicher Einwand bei einer reichhaltigen Leistung, die zum außerordentlichen Grad die Dimensionen des Vor- und Nachmärzdiskurses erweitert hat und lange Zeit als Quelle zu weiteren Forschungen dienen wird.