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Was ist ein Weltbürger?

Kosmopolitismus in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800

  • Andrea Albrecht: Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800. (Spectrum Literaturwissenschaft 1) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005. IX, 442 S. 1 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 108,00.
    ISBN: 978-3-11-018198-2.
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›Kosmopolitismus‹ ist seit den 1990er Jahren wieder zu einem intensiv diskutierten Thema geworden – zweifellos eine Begleiterscheinung jener ökonomischen, sozialen und politischen Prozesse, die unter dem vieldeutigen Begriff der »Globalisierung« subsumiert werden können. Die zahlreichen, dezidiert als »kosmopolitisch« bezeichneten Positionen in der Debatte über mögliche künftige Weltordnungen, die Chancen eines Weltbürgerrechts oder gar eines Weltstaats, über den Universalismus der Informationsgesellschaft, die politischen Implikationen der postulierten Universalität der Menschenrechte und vieles mehr sind aber kaum auf einen Nenner zu bringen. Den Kosmopolitismus der Gegenwart gibt es nicht. Zugleich fällt auf, dass viele der aktuell vertretenen Kosmopolitismen den Anschluss an die Zeit des späten 18. Jahrhunderts suchen, in der ›Kosmopolitismus‹ bzw. ›Weltbürgertum‹ europaweit, besonders aber in Deutschland intensiv diskutiert wurden.

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Problematisch an dieser Rückbindung ist jedoch, dass hier zumeist von einem weitgehend homogenen, aufklärerisch geprägten Kosmopolitismus ausgegangen und häufig ohne historische Kontextualisierung aktualisiert wird. An dieser Stelle setzt die Studie von Andrea Albrecht an, die zum einen davon ausgeht, dass Kosmopolitismus kein »homogenes, in unterschiedlichen historischen Formationen immer wieder in gleicher Weise aufgenommenes Argumentationsmuster grenzüberschreitender Universalisierung« ist. Zum anderen spricht sie auch schon für das 18. Jahrhundert von »einem grundsätzlich pluralistischen Modell unterschiedlicher Kosmopolitismen« (S. 56).

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Kosmopolitismen um 1800

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Der Nachweis dieser weltbürgerlichen Vielstimmigkeit unter deutschen Autoren um 1800 ist Albrecht überzeugend gelungen. Bei ihrer Auswahl der zugrunde gelegten Texte beschränkte sie sich nicht auf die großen Namen der Literatur- und Philosophiegeschichte, auch wenn ihre Diskussion der in je spezifischer Weise kosmopolitisch konnotierten Vorstellungen etwa Wielands, Schillers, insbesondere Jean Pauls und Eichendorffs oder aber Kants und Fichtes größeren Raum einnimmt. Darüber hinaus jedoch bezog Albrecht auch weniger bekannte und teils heute vergessene Autoren der politischen Publizistik mit ein. Dadurch erhält sie die Möglichkeit, ihre Annahme einer Vielzahl deutscher »Kosmopolitismen« zwischen den 1780er Jahren und der zweiten Dekade des 19. Jahrhunderts nicht nur an der literarischen und philosophischen Höhenkammliteratur aufzuzeigen, sondern an Texten aller Ebenen materialreich zu belegen und begriffsgeschichtlich, im groben Rahmen auch allgemeinhistorisch, zu kontextualisieren. Gemeinsam war den meisten Kosmopolitismus-Konzepten ein pädagogischer Zug, weil sie ausgehend von Gegenwartsbefunden namens des Kosmopolitismus Bilder einer zukünftigen Entwicklung und mögliche Wege dorthin aufzeigen wollten. Gemeinsam war ihnen zudem ein zumeist auch explizit formulierter elitärer Zug: Immer dann, wenn versucht wurde, das Kosmopolitische individuell zu bestimmen, wird klar, dass es kaum als Massenphänomen gedacht war, sondern als ein Distinktionskriterium fungierte.

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Der Weltbürger in der Literatur:
vielfältige Funktionen

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Besonderen Wert legt Albrecht auf die Analyse weltbürgerlicher Vorstellungen in literarischen Werken. Weil der Kosmopolitismus-Begriff in jeder seiner inhaltlichen Ausprägungen auf ein Handlungsmodell verweise (weshalb man auch Individuen als »Kosmopoliten« bezeichnen kann), seien gerade fiktionale Texte geeignet, das Handlungsmodell bzw. den handelnden Kosmopoliten zu thematisieren und in verschiedenen Konstellationen zu problematisieren. Diesen Experimentierraum des Fiktionalen nutzten nicht wenige Autoren. Albrecht zeigt dies vor allem an Knigge, Jean Paul und Eichendorff. Unbeantwortet bleibt jedoch die – u. U. auch gar nicht beantwortbare – Frage, inwieweit damit nicht auch eine Ästhetisierung weltbürgerlicher Ideen einherging, die eine Rückwirkung auf die politischen Debatten erschwerte oder ausschloss. Auffällig ist jedenfalls, dass ausgerechnet die Position Kants, der seine Idee von Weltbürgerlichkeit geschichtsphilosophisch auf die Gattungsgeschichte ausrichtete und mit dem Weltbürgerrechtskonzept im Grunde völlig von individuellen Implikationen löste, bis heute rezipiert und in Vernachlässigung anderer zeitgenössischer Positionen häufig als die Kosmopolitismus-Vorstellung der späten Aufklärungszeit aufgefasst wird.

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Als wichtiges Ergebnis der Studie ist nicht nur die Vielstimmigkeit der Äußerungen über die Möglichkeiten kosmopolitischen Denkens und auch Handelns festzuhalten, sondern auch die Tatsache, dass die Berufung auf kosmopolitische Positionen nicht auf eine diskursive Funktion zu reduzieren ist. So bestätigt Albrecht einmal mehr, dass der Kosmopolitismus nicht einfach als Gegenstück patriotischer Haltungen des späten 18. Jahrhunderts verstanden werden darf. Gerade deutsche Autoren verwendeten viel Mühe darauf, Kosmopolitismus und Patriotismus in Übereinstimmung zu bringen, indem sie nachzuweisen versuchten, dass sich universalistische Moral und partikulare Loyalität nicht zu widersprechen brauchten, etwa wenn sie in aufgeklärt-reformabsolutistischen Vorstellungen durchaus in Einklang zu bringen waren. Diese Argumentation hatte allerdings eine Tradition, deren Anfänge weit vor dem von Albrecht gewählten Untersuchungszeitraum liegen. Ebenso wenig ließ sich nach 1800 der Kosmopolitismus einfach als Widerpart des aufkommenden Nationalismus interpretieren, weil hier, wie etwa im Falle Fichtes »nationalistische Überbetonung des Universalitätsanspruchs« (S. 351), weltbürgerliche und eindeutig nationalistische Positionen eine eigentümliche Melange eingingen, die aber doch wohl im Ergebnis nationalistische Denkweisen eher begünstigten, auch wenn Fichtes Programm einer nationalen Versittlichung immer den weltbürgerlichen Fluchtpunkt einer homogenen Weltordnung kennt.

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Zu diesem in der Forschung neuerdings wieder intensiver diskutierten Problem eines spezifisch »deutschen Universalismus« hätte man im Rahmen dieser Abhandlung gerne noch etwas mehr gelesen, gerade weil sich diese Haltung bei einer großen Anzahl weiterer Autoren nachweisen lässt. Über den vorgestellten Einzelfall hinaus ließe sich hier ein spezieller Diskurs im frühen 19. Jahrhundert aufzeigen, der die kosmopolitischen Debatten beendete. Dieses Ende konstatiert auch Albrecht. Seit der zweiten Dekade des 19. Jahrhunderts geriet jeglicher Kosmopolitismus so stark in die »nationale« Kritik, dass die Begriffe Kosmopolitismus und Weltbürgertum faktisch aus der Debatte verschwanden bzw. zumeist nur noch pejorativ benutzt wurden. Der statt dessen aufkommende Begriff »Internationalismus« akzeptierte schon semantisch die nationalstaatliche Verfestigung der Nationsvorstellungen im 19. Jahrhundert und verzichtete (zunächst) auf das dem Begriff des Kosmopolitismus / Weltbürgertums fast immer innewohnende utopische Moment, dass eine Transzendierung der die Menschheit trennenden Grenzen letztendlich möglich sei.

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Kosmopolitismus-Debatte oder
Kosmopolitismus-Diskurse

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Selbstverständlich ließe sich über die Auswahl der Texte ebenso wie in einigen Fällen über deren historische Kontextualisierung streiten, doch dies würde am positiven Gesamtbefund nichts ändern. Problematisch erscheint etwas anderes: Gerade weil Albrecht so überzeugend die Vielfältigkeit des Kosmopolitismus-Debatte um 1800 aufzeigt, verwundert, wie sie dennoch darauf beharrt, die Erörterung dieser »Diskurse« in ein chronologisches Korsett zu zwängen. Die analytischen Folgen einer allzu starren chronologischen Darstellung der kosmopolitischen Debatten lassen sich etwa an ihrer Darstellung des Einflusses der Französischen Revolution auf die in Deutschland kursierenden weltbürgerlichen Ideen aufzeigen. Dass die Revolution, ihr Erscheinen und ihre Radikalisierung großen Einfluss auf die Formulierung kosmopolitischer Positionen besaßen, ist unbestritten. Doch ist es tatsächlich so, dass Autoren wie etwa K. L. Reinhold nach 1793 »die« kosmopolitische Position »reformulieren« wollten (S. 172), so, als ob es doch darum ginge, die eine weltbürgerliche Idee aus den Wirren der Revolutionszeit zu bergen? Und warum soll sich erst als Folge dieser postrevolutionären Beschäftigung mit dem Kosmopolitismus in den Jahren der Jahrhundertwende die Kosmopolitismus-Debatte dissoziiert haben? Vielmehr zeigt Albrecht selbst, dass etwa Wieland und Kant vor wie nach 1789 über ganz verschiedene Kosmopolitismen sprachen. Die Gemeinsamkeit ist, wenn überhaupt, auf einem so hohen Abstraktionsniveau zu suchen, dass man kaum von der einen Kosmopolitismus-Debatte sprechen kann. Wahrscheinlich sollte man davon ausgehen, dass die verschiedenen, selbstverständlich nicht ganz trennscharf zu scheidenden Kosmopolitismus-Diskurse, die es vor 1789 gab, auch ganz unterschiedlich durch die Erfahrung der Revolution geprägt worden sind und weiterhin nebeneinander bestehen konnten.

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Fazit

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Insgesamt ist Andrea Albrecht eine überzeugende Darstellung des Phänomens Kosmopolitismus im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert gelungen. Ob und inwieweit eine genauere Erinnerung an dieses Weltbürgertum für heutige Bedürfnisse aktualisierbar gemacht werden kann, betrachtet sie selbst zu Recht eher skeptisch. Sicher aber ist, dass eine allzu einfache Rede von dem Kosmopolitismus um 1800 nach dieser profunden Studie nicht mehr möglich ist. Künftige Forschungen haben ein Referenzwerk erhalten, das die Diskussionen anregen wird.