IASLonline

Verwandlungen

Die Metamorphose-Konzeption in Goethes Naturforschung, Dichtung und Erkenntnislehre

  • Olaf Breidbach: Goethes Metamorphosenlehre. München: Wilhelm Fink 2006. 334 S. 44 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 3-7705-4197-9.
[1] 

»Ereignis Weimar–Jena«

[2] 

In dem 1998 gegründeten Sonderforschungsbereich 482 »Ereignis Weimar–Jena. Kultur um 1800« stellen sich Wissenschaftler der Universität Jena in Zusammenarbeit u.a. mit der Klassik-Stiftung Weimar die Aufgabe, die geistige Gesamtkonstellation der ›Doppelstadt Weimar–Jena‹ zwischen 1772 und 1832 zu erschließen. Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaftler untersuchen in derzeit neunzehn Forschungsvorhaben disziplinenübergreifend und ohne Einschränkung durch gängige Epocheneinteilungen die Voraussetzungen, treibenden Kräfte und Auswirkungen dieses historisch bedeutsamen Phänomens einer epochalen ›Kultursynthese‹. Dabei hat sich das Projekt das Ziel gesetzt, seine Arbeit weder durch die Bindung an die Perspektive einzelner Fächer einengen zu lassen noch der drohenden Gefahr für interdisziplinäre Unternehmungen zu erliegen und in eine disparate Ansammlung isolierter Untersuchungen zu Einzelthemen zu zersplittern. Vielmehr soll eine Bündelung und Verknüpfung verschiedener Methoden und Ansätze dem vielschichtigen Forschungsgegenstand gerecht werden und zu neuen Erkenntnissen führen. 1

[3] 

Konzeption und Aufbau

[4] 

Olaf Breidbachs Monographie über Goethes Metamorphosenlehre gehört zu den bislang rund achtzig selbständigen Publikationen dieses Sonderforschungsbereichs. Aufbauend auf den älteren Arbeiten von Adolph Hansen 2 und Dorothea Kuhn 3 , unternimmt die breit angelegte Studie eine Standortbestimmung der Metamorphosekonzeption vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Naturforschung und Naturphilosophie und geht darüber hinaus Goethes spezifischer Auffassung von Natur und Naturerfahrung nach. Die – vielfach wiederholte und variierend umkreiste – These des Jenaer Wissenschaftshistorikers lautet, dass die Bedeutung der Goetheschen Metamorphosenlehre über die einer speziellen Naturlehre hinausreicht und die Grundlage seiner Ästhetik und Erkenntnislehre darstellt (S. 14). Gemäß Goethes Auffassung von der Einheit der Natur ist im einzelnen Naturgegenstand das Ganze der Natur zu erfassen, die sich als Prozess konstituiert. Da auch der Betrachter Teil des Naturganzen ist, kommt Goethes Konzeption der Rang einer umfassenden, auch auf die Kultur anwendbaren Erfahrungslehre zu.

[5] 

Der Verfasser zeichnet zunächst die Genese des Metamorphosegedankens im Verlauf von Goethes ausgedehnten Naturstudien nach und skizziert seine Tragweite. Anschließend stellt der erste der beiden Hauptteile (»Metamorphose der Natur«, S. 65–203) Goethes Versuch einer Ordnung der Naturphänomene in den Kontext von Natur- und Wissenssystematiken von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert und interpretiert für die Metamorphosenlehre relevante Goethetexte. Der zweite Hauptteil (»Morphologie«, S. 207–304) untersucht die Bezüge zwischen Goethes Gestaltlehre und der zeitgenössischen Jenaer Naturphilosophie sowie die naturwissenschaftliche Rezeption der Goetheschen Morphologie und geht schließlich der ästhetischen Umsetzung der Metamorphosenlehre in Faust II nach.

[6] 

Genese und Grundzüge
der Metamorphosekonzeption

[7] 

In seinen frühen anatomischen und botanischen Arbeiten versuchte Goethe, ein Schema zu konstruieren, das ihm ermöglichte, die Vielfalt der Naturformen zu ordnen. Dabei diente ihm zunächst der menschliche Körperbau, der nach zeitgenössischer Auffassung das vollkommenste Werk der göttlichen Schöpfung darstellte, als Maß für die Beschreibung der tierischen Anatomie. Die Überwindung dieser anthropozentrisch-teleologischen Betrachtungsweise zeichnete sich ab, als Goethe bei seinen Bemühungen, den menschlichen Zwischenkieferknochen nachzuweisen, einen einheitlichen Bauplan der Wirbeltiere – einschließlich des Menschen – annahm. Als Pendant im Bereich der Botanik entwickelte Goethe die Vorstellung einer Urpflanze, an der »sich die Möglichkeiten der pflanzlichen Natur demonstrieren lassen« (S. 25). Die Beobachtung, dass Ähnlichkeiten im Bau einzelner Formen eine Reihenbildung nahe legen, besonders aber die Fülle von Eindrücken seiner Italienreise veranlassten Goethe, seinen typologischen Ansatz zu modifizieren und durch das komplementäre dynamische Modell der Metamorphose zu ergänzen.

[8] 

In den Jahren nach seiner Rückkehr aus Italien erarbeitete Goethe seine morphologische Methode der Naturbeschreibung, für die der Typus als Bezugsgröße und das prozessuale Moment der Metamorphose zentrale Bedeutung besitzen: Durch schrittweises Vergleichen der gesamten Gestalt lassen sich Ähnlichkeitsreihen aufstellen, in denen Übereinstimmungen und Variationen von Grundformen sichtbar werden und mit deren Hilfe das einzelne Naturphänomen in den Gesamtzusammenhang der Natur eingeordnet werden kann. Grundlegend neu an diesem Verfahren ist, dass die Aufmerksamkeit des Beobachters nicht mehr dem Vergleich statischer Formen, sondern deren Entwicklung gilt; Goethes dynamisches Strukturkonzept zwängt die Naturgegenstände nicht in ein vorgegebenes starres Raster, sondern will die immanente Ordnung der Natur zur Anschauung bringen.

[9] 

Goethes Metamorphosenlehre
im Kontext der zeitgenössischen Naturforschung

[10] 

Bis ins 18. Jahrhundert ging die Naturforschung von einer theologisch begründeten, auf Gott verweisenden Weltordnung aus. Noch Carl von Linné erhob mit seiner Systematik des Pflanzen- und Tierreichs den Anspruch, den göttlichen Schöpfungsplan sichtbar zu machen. Damit steht sein Ordnungsdenken in der Tradition der barocken Universalwissenschaft, die erfahrungsunabhängig mit der Kombination von Begriffen operierte, ein Netz möglichst aller zwischen diesen möglichen Bezüge konstruierte und so dem Denken Gottes nahe zu kommen meinte. Am Ende des Jahrhunderts überforderte die Masse neuer Erkenntnisse und Wissensbereiche zusehends die herkömmlichen Ordnungsschemata der Naturforschung. Linnés Pflanzensystematik, die als einziges taxonomisches Kriterium den Bau der Blüte berücksichtigt, wurde als willkürlich und ›künstlich‹ kritisiert; Antoine Laurent de Jussieu, Auguste Pyrame de Candolle, der in Jena lehrende Johann Georg Carl Batsch und andere Botaniker legten alternative ›natürliche‹ Systematiken vor. Gleichzeitig wird in der zeitgenössischen Naturforschung ein gesteigertes Interesse an Entwicklungsprozessen sichtbar. Caspar Friedrich Wolff und Johann Friedrich Blumenbach stellten fest, dass organische Formierungsprozesse nach immer denselben sich wiederholenden Mustern abliefen, und nahmen eine diese steuernde Grundkraft an, die Blumenbach als Bildungstrieb bezeichnete.

[11] 

Angeregt von der Diskussion um eine natürliche Systematik und in Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Theorien zur Ontogenese entwickelt Goethe sein Konzept der Metamorphose. Wie Batsch betrachtet er nicht einzelne Merkmale oder Merkmalskomplexe, sondern den gesamten Habitus der Pflanze; mit Wolff verbindet ihn die dynamische Auffassung der Natur und der rein naturimmanente Ansatz zur Erklärung organischer Entwicklung. Für Goethe entfaltet sich die Natur in einem kontinuierlichen, sich in jedem Individuum zirkulär wiederholenden und dabei variierenden Prozess zur Vielfalt der Lebensformen. Damit nimmt Goethe jedoch nicht die Evolutionstheorie Charles Darwins vorweg; die Natur strebt für ihn nicht nach Optimierung, sondern nach Realisierung der ihr möglichen Formenvielfalt.

[12] 

Goethetexte zum Thema
Metamorphose und Morphologie

[13] 

Mit seinem Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären legte Goethe 1790 eine am Beispiel der Botanik ausgearbeitete Darstellung seines Konzepts der Naturmorphologie vor. Dabei verfährt er nicht induktiv, sondern versucht, seine Theorie durch konkrete Beispiele zu belegen und zugleich ihre allgemeine Geltung nachzuweisen. In seinem 1817 für die Hefte Zur Morphologie geschriebenen Aufsatz Der Verfasser theilt die Geschichte seiner botanischen Studien mit betont Goethe die Notwendigkeit unmittelbarer Anschauung und persönlicher Erfahrung als Voraussetzungen, um Erkenntnisse über die Natur zu erlangen, und legt einen »Bericht über einen Dialog des Anschauenden mit der Natur« (S. 139) vor. Sein Zugang zur Natur ist nicht der eines Naturforschers, der einzelne Informationen auswertet, sondern der eines Ästheten, der ein lebendiges Individuum zu erfassen sucht. Dennoch versteht Goethe seine Metamorphosenlehre nicht als Gegenentwurf zur zeitgenössischen Naturforschung, vielmehr sucht er – auch in der sprachlichen Form – den Anschluss an die Fachdiskussion. Der auf Goethes Veranlassung nach Jena berufene Botaniker Friedrich Siegmund Voigt bezog die Ergebnisse der Goetheschen Naturstudien in die aktuelle Forschung ein, indem er ein (1808 publiziertes) System der Botanik ausarbeitete, das methodisch auf der Metamorphosenlehre basiert.

[14] 

In seinen seit den 1790er Jahren entstandenen Arbeiten zur Osteologie und zur vergleichenden Anatomie wendet Goethe die Metamorphosenlehre auf das Tierreich an. Der Versuch über die Gestalt der Thiere (1790) postuliert ein ›rationelles‹ (d.h. nicht ausschließlich empirisch, sondern auch gedanklich-ideell operierendes) Verfahren, um einen ›allgemeinen osteologischen Typus‹ aufzustellen, über den sich die vielfältigen Formen des Tierreichs als Elemente des Naturprozesses bestimmen lassen. Während Goethe in seinen anatomischen Studien der 1780er Jahre nach einer Urform gesucht hatte, die als Grundlage für die Systematisierung der verschiedenen tierischen Lebensformen dienen konnte, zielt sein zwischen 1790 und 1796 weiterentwickeltes Typus-Konzept auf »die aus der Kombinatorik des Existenten zu schließende Gestalt dessen, was wirklich ist« (S. 104), und trägt damit symbolische Züge.

[15] 

In der Elegie Die Metamorphose der Pflanzen reflektiert Goethe im Medium der Poesie die Struktur von (Natur‑)Erkenntnis. Das erfahrende Subjekt und das erfahrene Objekt sind durch Sympathie zu einer untrennbaren Einheit verbunden. Die Natur spiegelt sich in der Liebe des lyrischen Ichs und seiner Geliebten; als Teil der Natur vergewissert sich der Mensch in der Anschauung der Natur seiner selbst und erfährt sich als in ein umfassendes Ganzes eingebunden. Sowohl das Naturgeschehen als auch die Naturerkenntnis lassen sich als metamorphisches Geschehen beschreiben. »Metamorphose und Morphologie werden damit zu umfassenden Strukturierungsbegriffen einer Ästhetik, die sich […] als umfassende Wahrnehmungslehre begreifen lässt« (S. 198).

[16] 

Ästhetisierung

[17] 

Goethes Metamorphosenlehre unterscheidet sich sowohl von der Systematisierungsleistung der älteren Naturgeschichte als auch von der analytischen Erschließung einzelner Phänomene und Phänomenbereiche durch die sich um 1800 etablierenden naturwissenschaftlichen Disziplinen. Sie eröffnet demgegenüber einen prinzipiell neuartigen – auf dem Moment der Erfahrung beruhenden – Zugang zur Natur. Dabei beharrt Goethe gegen Kant und dessen kritische Philosophie auf dem Zusammenwirken und der Gleichgewichtung von Subjekt und Objekt. Seine Erfahrungslehre

[18] 
[...] erweitert sich zu einer Universalästhetik, die im Aufweis der verschiedenen Erfahrungsschichtungen des Menschen ein Grundprogramm seines ›Wissen-Könnens‹ und einer sich über dieses Wissen sichernden Selbsterfahrung zeichnet. (S. 39)
[19] 

Auch in der Wissenschaft steht Erfahrung somit in einem übergreifenden naturalen und zugleich auch humanen Zusammenhang.

[20] 

Metamorphosen der Metamorphosenlehre -
zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

[21] 

Goethes Ansatz bietet eine Methode, die durch Anschauung vermittelte Erfahrung zu strukturieren, und bezieht daraus in der epistemologischen Krise um 1800 nicht geringe Anziehungskraft und Wirksamkeit. Die Jenaer Naturphilosophie reagierte auf die Verunsicherung und Überforderung der zeitgenössischen Naturforschung und versuchte, deren »Erfahrungsraum« (S. 214) theoretisch zu sichern, wobei sie an Goethe anschließen konnte. Schellings dynamische Auffassung der Natur ist der Goetheschen Naturlehre verpflichtet, unterscheidet sich von dieser jedoch durch das dialektische Verhältnis zwischen Natur und Vernunft. Trotz Hegels kritischer Einstellung zu Goethes Morphologie hinterlässt diese Spuren in seiner Philosophie; in seinem Konzept der Organik überträgt Hegel die Idee der Metamorphose auf den Bereich des Begrifflichen.

[22] 

Mit dem ausdrücklichen Anspruch, an Goethe anzuknüpfen, trat zu Beginn des 20. Jahrhunderts die so genannte idealistische Morphologie auf, die sich als vergleichende Biologie auf darwinistischer Grundlage verstand. Ihre wichtigsten Vertreter, der Botaniker Wilhelm Troll und der Zoologe Adolf Naef, reduzierten Goethes Auffassung von Gestalt als lebendiger Dynamik zu einem statischen Ordnungsschema, das zwar – Goethe folgend – der Anschauung fundamentale Bedeutung beimisst, die Naturformen jedoch als bloße Addition von Merkmalen begreift und sich damit dem Schematismus der im 17. Jahrhundert aufgestellten Wissenssystematiken wieder annähert. Die moderne, mit molekularbiologischen Analysen arbeitende Stammbaumforschung führt die von Naef eingeschlagene Richtung einer logisch schematisierenden Gestaltlehre bis in die Gegenwart fort.

[23] 

Das Erbe Ovids

[24] 

Der Ursprung der Goetheschen Metamorphosekonzeption liegt, wie Breidbach feststellt, letztlich nicht in der Naturforschung, sondern in der Literatur: Ovid gab mit seinen Metamorphosen ein wegweisendes Strukturmodell für die Vermittlung von Einheit und Vielfalt, Einzelnem und umfassendem Ganzen vor; er schuf mit seinen Verwandlungen eine offene, locker gereihte Sammlung von Geschichten, die die Möglichkeiten und vielfältigen Variationen menschlichen Handelns durchspielt und die Vielzahl erzählter Episoden dennoch als eine Geschichte präsentiert. Parallelen lassen sich auch zu Herders Geschichtsdenken nachweisen: »Für ihn ist der Mensch als Mensch immer schon auf Gott hingeordnet. Entsprechend ist die Geschichte eine Darstellung der Vielfalt des uns als Menschen Möglichen« (S. 273).

[25] 

Zur metamorphischen Struktur des Faust II

[26] 

Als im ästhetisch-künstlerischen Bereich entstandenes Modell müsste sich nach Breidbachs These die Metamorphosekonzeption auch in Goethes dichterischem Werk nachweisen lassen. Er untersucht zu diesem Zweck Aufbau und Struktur des Faust II, der, wie schon Der Tragödie erster Theil, zum Teil gleichzeitig mit Goethes morphologischen Studien entstand. Mit seiner verwirrenden Fülle aneinander gereihter Szenen, in denen Figuren, Themen, Handlungsebenen nebeneinander gestellt sind und dabei ein »Eigenleben der Assoziationen« entfalten, lasse sich Goethes Faust II als dramatische Inszenierung des Metamorphosegedankens auffassen, die in einer »Synthese des Erlebbaren« die Vielfalt als Ganzheit zur Anschauung bringe (S. 288).

[27] 

In den vergangenen Jahren wurde wiederholt die Frage nach dem gemeinsamen Nenner von Goethes Dichtung und Naturforschung gestellt, zuletzt von Safia Azzouni, 4 die das multiperspektivische Erzählen der Wanderjahre als poetische Entsprechung zur ›kollektiven‹ Arbeitsweise der Hefte Zur Morphologie deutet, in denen Goethe eine Vielzahl verschiedener, einander ergänzender und relativierender Sichtweisen sammelt. Auch wenn die Literaturwissenschaftlerin Azzouni die problematische Form von Goethes Altersroman aus den Grundgedanken und der Methode seiner naturwissenschaftlichen Arbeit herleitet, während der Wissenschaftshistoriker Breidbach umgekehrt für die Metamorphosenlehre vom Primat des Ästhetisch-Literarischen ausgeht, ergänzen und stützen sich die Resultate beider Arbeiten, insofern als beide die ausgesprochen ›moderne‹, disparate Form von Goethes dichterischem Spätwerk mit seinen gleichzeitigen morphologischen Studien in Beziehung setzen und auf die strukturellen Analogien in beiden Bereichen seines Schaffens aufmerksam machen; dabei greift Breidbachs Ansatz jedoch weit über eine Diskussion des Problemzusammenhangs zwischen Poesie und Wissenschaft hinaus und führt Übereinstimmungen zwischen beiden auf Goethes spezifische Weltsicht zurück, in der die Metamorphose »ein Strukturierungsprinzip jeder Anschauung« (S. 301) benennt. Allerdings wäre dann wohl zu klären, inwiefern die Metamorphosenlehre bei einem derart umfassenden Geltungsanspruch für die Deutung einzelner dichterischer Texte noch ein aussagekräftiges Modell bereitstellen kann, ohne als interpretatorisches Passepartout ins Unverbindliche zu diffundieren.

[28] 

Problematisches

[29] 

Die Lektüre der auf hohem Abstraktionsniveau argumentierenden und in sperrig-spröder Diktion präsentierten Studie gestaltet sich leider recht mühevoll. Um so willkommener dürften dem Leser die zahlreichen Abbildungen sein, die nicht nur – gewissermaßen als Hommage an Goethe – dem hohen Stellenwert Rechnung tragen, den dieser der Anschauung beimaß, sondern auch wesentliche Aussagen des Autors belegen, wie z.B. den qualitativen Sprung vom Schematismus älterer, more geometrico verfahrender Systematiken zu Goethes zunächst tastender Annäherung an die Dynamik der Naturprozesse, die in seinen Zeichnungen und Skizzen sinnfällig wird. Allerdings stützt sich Breidbach bei der Wiedergabe von Goethes Zeichnungen durchweg auf Werke der Sekundärliteratur statt auf die einschlägigen kommentierten und von den zugehörigen Goethetexten begleiteten Editionen, was dazu führt, dass seine Bildunterschriften keineswegs immer Anspruch auf sachliche Richtigkeit erheben können. 5

[30] 

Unter philologischen Gesichtspunkten problematisch erscheint die Entscheidung für die 1887–1919 erschienene so genannte Weimarer Ausgabe von Goethes Werken 6 als Textgrundlage; diese gilt gerade im naturwissenschaftlichen Bereich als veraltet und wird inzwischen von zuverlässigeren Editionen wie der Leopoldina-Ausgabe der Goetheschen Schriften zur Naturwissenschaft 7 bzw. von den entsprechenden Bänden der Frankfurter und der Münchner Ausgabe 8 ersetzt. Für das von Breidbach auf der Grundlage der Weimarer Ausgabe als Goethetext interpretierte Prosafragment Die Natur (S. 184–186) konnte bereits vor mehreren Jahrzehnten die Autorschaft des Schweizer Theologen Georg Christoph Tobler mit hoher Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden. 9

[31] 

Der grundsätzlich spannende Versuch, sich Goethes Metamorphosenlehre aus verschiedenen Richtungen und mit dem methodischen Instrumentarium unterschiedlicher Disziplinen zu nähern, führt im vorliegenden Fall bedauerlicherweise zu zahlreichen Wiederholungen und irritierenden inhaltlichen Überschneidungen, die energische Straffungen und eine klarere Strukturierung wünschenswert erscheinen lassen. Vermissen wird der am aktuellen Forschungsstand interessierte Leser schließlich ein für umfangreichere wissenschaftliche Publikationen heute allgemein übliches Literaturverzeichnis, das die in immerhin 755 Fußnoten nachgewiesenen Quellen und Forschungsarbeiten in übersichtlicher Form erschlösse.

[32] 

Fazit

[33] 

Breidbach untersucht in seiner umfangreichen Publikation historische Voraussetzungen, Spezifika und Wirkung von Goethes Metamorphosenlehre und arbeitet dabei schrittweise deren umfassenden Geltungsanspruch sowie die damit verbundene neuartige Konzeption von Natur und (Natur‑)Erfahrung heraus. Seine Aufmerksamkeit gilt besonders den Schnittstellen zwischen Naturforschung bzw. Wissenschaftsgeschichte, Philosophie und Ästhetik, die eher selten ins Blickfeld disziplinärer Forschung rücken. An Breidbachs Arbeit erweist sich so die Ergiebigkeit transdisziplinärer Fragestellungen, die über den ›Zuständigkeitsbereich‹ einzelner Fächer hinausreichende Zusammenhänge sichtbar machen können. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die insgesamt wenig leserfreundliche Aufbereitung seiner Resultate die interdisziplinäre Kommunikation über den heimischen Sonderforschungsbereich hinaus zu beflügeln vermag.

 
 

Anmerkungen

Adolph Hansen: Goethes Metamorphose der Pflanzen. Geschichte einer botanischen Hypothese. 2 Teile. Gießen: Alfred Töpelmann 1907.   zurück
U.a. Dorothea Kuhn: Typus und Metamorphose. Goethe-Studien. Hg. von Renate Grumach. Marbach / Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 1988. – Goethe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Vollständige mit Erläuterungen versehene Ausgabe im Auftrage der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Begründet von K. Lothar Wolf und Wilhelm Troll. Hg. von Dorothea Kuhn und Wolf von Engelhardt. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1947 ff.; zitiert als LA.   zurück
Safia Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft. Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre« und die Hefte »Zur Morphologie«. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2005. Vgl. dazu auch die Rezension von Ulrich Breuer: Gesammelte Form. Typus und Kollektiv in Goethes Wanderjahren. (Rezension über: Safia Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft. Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre« und die Hefte »Zur Morphologie«. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2005.) In: IASLonline [25.04.2006].
URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Breuer3412177040_1392.html (Datum des Zugriffs: 23.11.2006).   zurück
So handelt es sich z.B. in Abb. 15 nicht um »Keimende Bohnen« (S. 94), sondern nach Goethes eigenhändiger, in Breidbachs Band ebenfalls reproduzierter Beischrift um Keimlinge von »Ricinus C[ommunis]« (vgl. LA I 10, Tafel XXII mit Text S. 273 sowie Corpus der Goethezeichnungen. Hg. von Gerhard Femmel. Bd. V/B. Leipzig: VEB E.A. Seemann 1967, hier Nr. 148 mit Text S. 49); Abb. 16 zeigt nicht »die unterschiedlichen Blattformen der gefüllten Nelke« (S. 98), sondern Blütenblätter von Nigella damascena (vgl. LA II 9A, S. 92 und Corpus der Goethezeichnungen, Bd. V/B, Nr. 95 mit Text S. 37).   zurück
Goethes Werke. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. in 143 Teilen. Weimar: Hermann Böhlau 1887–1919, hier II. Abteilung: Goethes Naturwissenschaftliche Schriften.   zurück
wie Anm. 3.   zurück
Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Friedmar Apel u.a. 40 Bde. in 43 Teilen. Frankfurt / M.: Deutscher Klassiker Verlag 1987–1999, hier Bd. 23–25; zitiert als FA. – Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. von Karl Richter u.a. 21 Bde. in 33 Teilen. München: Hanser 1985–1998.   zurück
Vgl. FA I 25, S. 860 f.   zurück