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Höhen und Tiefen einer Wissenschaftlerkarriere

  • Karsten Jedlitschka: Wissenschaft und Politik. Der Fall des Münchner Historikers Ulrich Crämer (1907-1992). (Ludovico Maximilianea Forschung 21) Berlin: Duncker & Humblot 2006. 482 S. Broschiert. EUR (D) 96,00.
    ISBN: 3-428-11861-8.
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Die kürzlich erschienene, umfangreiche Biografie zum Münchner Historiker Ulrich Crämer ist ein gewichtiger wissenschaftlicher Beitrag zur Aufarbeitung des Verhältnisses von (Geschichts-)Wissenschaft und Politik im Dritten Reich. Darüber hinaus analysiert sie am Beispiel einer Wissenschaftlerkarriere den Umgang mit der NS-Verstrickung in der Bundesrepublik Deutschland.

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Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich zugleich um eine Dissertation, die im Sommer 2003 von der Philosophischen Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Der Autor Karsten Jedlitschka ist heute Leiter des Archivs der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle.

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Methodischer Ansatz
und Quellen

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Wenn auch die Biografieforschung in der deutschen Historiografie der 1960er und 1970er Jahren als überholt galt und erst danach wieder neu entdeckt wurde, wie der Autor eingangs feststellt, bedarf dieser methodische Ansatz keiner weiteren Begründung. Denn gerade die Biografie- und Lebenslaufforschung fördert viele Aspekte der Geschichte zutage, die sonst in »zum Teil menschenleer gewordenen Strukturlandschaften der Gesellschaftsgeschichte« (S. 18) untergehen würden: persönliches Erleben und Empfinden, individuelle Erkenntnisse, Visionen und Verstrickungen, lebensweltliche Perspektiven, die Aufdeckung von personenbezogenen Netzwerken, das Verfolgen von Lebenswegen auch über gesellschaftliche Bruchzonen hinweg und vieles anderes mehr. – Das alles sorgt für einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn.

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Methodisch orientiert sich die Arbeit an dem von Wolfgang Weber entwickelten Konzept der »Historiographiesozialgeschichte«. 1 Bei der Darstellung des Lebenswegs Crämers räumt Jedlitschka folgenden Themenkomplexen einen zentralen Platz ein:

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1. der studentischen Sozialisation und wissenschaftlichen Karriere Crämers,

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2. der Programmatik seiner Publikationen,

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3. der Verstrickung von Wissenschaft und Politik im Dritten Reich,

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4. den Mechanismen und Charakteristika der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik,

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5. der Rekonstruktion von institutionellen und personellen Netzwerken an der Münchner Universität und im Hochschulwesen des Dritten Reichs im Allgemeinen,

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6. der Offenlegung von Netzwerken zwischen Wissenschaft und Verlagsbuchhandel im Dritten Reich und der Bundesrepublik Deutschland sowie

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7. dem Umgang von Universität und Kultusministerium mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit (vgl. S. 25).

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Bemerkenswert ist die umfangreiche Quellenarbeit des Autors. Da kein geschlossener Nachlass Crämers vorlag, wertete Jedlitschka Einzeldokumente in insgesamt 20 Archiven Deutschlands und Österreichs aus. Hinzu kommen weitere ungedruckte und gedruckte Quellen. Allein das Literaturverzeichnis (Sekundärliteratur einschließlich eines Werkverzeichnisses Crämers) umfasst 68 Seiten.

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Sozialisation in der Weimarer Republik
und Karriere im Dritten Reich

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Ulrich Crämer wurde 1907 in Krefeld als zweites Kind eines Studienrats geboren. Nach der Reifeprüfung absolvierte er im Zeitraum von 1926 bis 1930 das Studium der Geschichte, Kunstgeschichte, Philosophie, Deutschen Literatur und Volkswirtschafts- und Gesellschaftslehre an den Universitäten Heidelberg, Königsberg, Wien und Rostock. Zurück in Heidelberg verteidigte er 1930 eine Dissertation über die Verfassung und Verwaltung Straßburgs im 16. und 17. Jahrhundert.

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Jedlitschka zeichnet im ersten Kapitel – »Jugend und Studienjahre. Sozialisation im Zeichen bündisch-völkischer Prägung (1907–1929)« (S. 33–44) – die frühen universitären Einflüsse auf den Studenten Crämer nach, die seine völkisch-antirepublikanische Gesinnung sukzessiv formten. Hervorzuheben sind einerseits seine Mitgliedschaft in der »Deutsch-Akademischen Gildenschaft« (DAG), eine bündisch-reaktionäre Studentenvereinigung, und andererseits der Einfluss einiger völkisch denkender Hochschullehrer wie beispielsweise des Heidelberger Historikers Willy Andreas oder des Wiener Soziologen Othmar Spann.

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1929 trat Crämer dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund bei, der in diesem Jahr auch seinen Durchbruch an den deutschen Universitäten erzielte. Im Jahr darauf wurde er Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnummer 231.132). Dies wertet Jedlitschka folgerichtig als eindeutiges und frühzeitiges Bekenntnis zum Nationalsozialismus.

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Mit der Zeit des Dritten Reichs beschäftigen sich die Kapitel zwei bis vier; hier liegt auch der erste Schwerpunkt der Untersuchung: »2. Nationalsozialismus als Chance. Karriere durch die Nähe zur Macht (1930–1936)« (S. 45–96) / »3. München. Höhepunkt der akademischen Karriere in der ›Hauptstadt der Bewegung‹ (1936–1945)« (S. 97–183) / »4. Crämers Schrifttum […] – Politikberatung als ›Rückwärtsgewandter Prophet‹« (S. 184–232).

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1930 trat Crämer der NSDAP und SA bei (Wechsel zur SS noch in diesem Jahr). 1934 wurde er im Rang eines Scharführers des Weimarer SS-Sturms als Schulungsleiter des Rasse- und Siedlungsamtes (RuS) der SS ernannt, das unter anderem für Ehegenehmigungen, Rasseexamina und weltanschauliche Schulung für SS-Leute verantwortlich zeichnete. Bereits in dieser Tätigkeit hätte Crämer eine viel versprechende Karriere als NS-Ideologe starten können. Aber er verfolgte andere Pläne, ließ sich 1934 als Schulungsleiter beurlauben und wurde über Parteikontakte »kommissarischer Referent zur Bearbeitung der Neugliederungskarten im Vollzuge der Reichsreform« im Berliner Reichsinnenministerium. In dieser Funktion entwickelte er Pläne zur territorialen Neugliederung des Deutschen Reiches mit dem Ziel, eine stärkere Vereinheitlichung und Zentralisierung zu schaffen. Allerdings legte Adolf Hitler diese Pläne 1935 auf Eis.

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Crämer betätigte sich nebenbei auch als Gutachter und Lektor bei NS-Zensurstellen, so seit 1934 beim Amt Rosenberg (»Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums«) und seit 1937 bei der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums. Für diese Überwachungseinrichtungen begutachtete er nicht nur wissenschaftliche Fachpublikationen, sondern auch die Lexika des Verlags Bibliographisches Institut (»Meyer«).

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Parallel dazu strengte Crämer 1934 ein Habilitationsverfahren an der Universität Jena über Carl August von Weimar an, das er zügig abschloss. Noch in diesem Jahr erhielt er den Status eines Privatdozenten und vertrat Professuren. Bald erfolgte die Weichenstellung in Richtung Hochschulkarriere: Im Wintersemester 1936/37 übernahm Crämer die Vertretung der Professur für »Mittlere und Neuere Geschichte« an der Universität München.

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Deutlich wird, dass die Berufung Crämers Teil einer größeren nationalsozialistischen Personalpolitik im Bereich der Geschichtswissenschaft war, bei der in Netzwerken agierende regimetreue Historiker liberalere Kollegen diffamierten, von ihren Posten verdrängten, um die frei werdenden Stellen mit Gleichgesinnten neu zu besetzen. Beispielgebend stellt Jedlitschka die Amtsenthebung des liberalen Berliner Professors Hermann Oncken durch Walter Frank und Karl Alexander von Müller dar. Dieser Prozess der Stellenneubesetzung war natürlich nicht frei von Spannungen zwischen einzelnen Interessengruppen der NS-Bewegung, wie Jedlitschka eindrucksvoll belegt. Auch der vakante Münchner Lehrstuhl, zunächst vertreten durch Crämer, wurde auf diese Weise neu besetzt. Den Zuschlag erhielt nach vielem Hin und Her Crämer selbst, der somit 1939 Ordinarius an der Münchner Universität wurde. Der junge Historiker war auf dem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Karriere im Dritten Reich angelangt.

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Jedlitschka rekonstruiert das strategische Vorgehen des Historikers Crämer, der »die Mechanismen des polykratischen Ämterdarwinismus des ›Dritten Reichs‹ durchschauend […] zielorientiert die Voraussetzungen seiner steilen Karriere« schuf. (S. 95).

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Immer wieder nutzte Crämer seine guten Kontakte zu einflussreichen Stellen der NSDAP und SS für eigene Ziele. Dabei war er eher ein wissenschaftspolitischer »Konjunkturist«, ein »Professor von Hitlers Gnaden«, 2 denn ein ausgewiesener Wissenschaftler. Seine wissenschaftlichen Leistungen und Verdienste hielten sich in Grenzen. Die im Dritten Reich publizierten Arbeiten bewegten sich zwischen reiner Parteipublizistik, gegenwartsorientierter Geschichtsinterpretation und bekennender Politikberatung. Er schrieb Aufsätze über »Nationalsozialismus und Philosophie«, »Führer und Gefolgschaft in der deutschen Geschichte«, »Deutsche Geopolitik« und »Volksgeschichte nach dem Ersten Weltkrieg«. Darin wurde das NS-Regime teleologisch als Zielpunkt der deutschen Geschichte dargestellt, während die Vergangenheit defizitär erschien. Des Weiteren sind seine Veröffentlichungen zur Absolutismusforschung zu erwähnen, die nur deshalb politisch unverdächtig blieben, weil sich der Stoff nicht für politische Aufladungen eignete.

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Entnazifizierung und Ausscheiden
aus dem Universitätsbetrieb

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In den Kapiteln fünf bis neun zeichnet Jedlitschka die Entnazifizierung und die letztendlich gescheiterte Rückkehr des Historikers Crämer an die Universität der Bundesrepublik nach. Hierbei handelt es sich um den zweiten Schwerpunkt der biografischen Arbeit. »5. Ende des ›Dritten Reiches‹ – Ende einer Karriere (1945–1950)« (S. 233–251) / »6. Exkurs. Neue Hoffnung – Der ›Verband der nicht-amtierenden (amtsverdrängten) Hochschullehrer‹« (S. 252–291) / »7. Comeback? (1951–1959)« (S. 292–317) / »8. Gerichtlicher Kampf mit Universität und Ministerium (1960–1965)« (S. 318–330) / »9. Die Causa Crämer. ›Akademische Vergangenheitspolitik in Bayern‹« (S. 331–360).

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1945 wurde Crämer aus dem Hochschuldienst entfernt, kurze Zeit darauf aufgrund seiner SS-Mitgliedschaft von den Amerikanern verhaftet und 18 Monate interniert. Es folgte das Entnazifizierungsverfahren mit einer Einstufung in die Gruppe III der »Minderbelasteten«. Der Verurteilte versuchte nun, in seinen eigentlichen Beruf des Hochschullehrers zurückzukehren. Doch viele Bittgesuche und selbst eine Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht scheiterten kläglich. Crämer, ob des für ihn negativen Prozessausgangs gekränkt, sah sich als Justizopfer. Im Zusammenhang mit den fehlgeschlagenen Versuchen Crämers, an die Universität zurückzukommen, geht Jedlitschka auch auf den 1950 gegründeten »Verband der nicht-amtierenden (amtsverdrängten) Hochschullehrer« ein, der bislang von der Forschung weitgehend unberücksichtigt blieb.

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Tätigkeit im Brockhaus-Verlag
als Refugium

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In einem letzten Kapitel kommt Jedlitschka zu einem für die Buchhandels- und Verlagsgeschichte interessanten Abschnitt der Biografie Crämers: Seine Jahre als Mitarbeiter der Wiesbadener Brockhaus-Redaktion (»10. Brockhaus und Homer. Refugium und Weltabkehr (1966–1992)« [S. 361–370]).

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Nach der Niederlage vor dem Bundesverwaltungsgericht war eine Rückkehr in den Wissenschaftsbetrieb ausgeschlossen. Somit wandte sich Crämer neuen Aufgaben, sprich: der Lektorats- und Redaktionsarbeit im Buchverlag, zu. Bereits am 17. Dezember 1945 hatte sich Crämer an Fritz Brockhaus in Leipzig gewandt und um Beschäftigung gebeten. Brockhaus lehnte »aus den bekannten Gründen« 3 ab. Die Gründe bestanden einzig darin, dass der Verlag in Leipzig noch keine Lizenz besaß, also nicht einstellen konnte.

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Für den Brockhaus-Verlag bedeutete die Zerstörung des Leipziger Stammhauses (1943) einen tiefen Einschnitt. Hinzu kam die dramatische Nachkriegsentwicklung: Hans Brockhaus war der Aufforderung der Amerikaner gefolgt, in den Westen zu gehen und eröffnete 1946 einen Teilbetrieb in Wiesbaden. In Leipzig wurde der Stammbetrieb im Zeitraum von 1951 bis 1953 enteignet und vom SED-Staat widerrechtlich als »Volkseigener Betrieb« (VEB) unter altem Namen fortgeführt.

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Als man in Wiesbaden begann, ein erstes mittleres Lexikon herauszugeben (Der Große Brockhaus, 16. Auflage in 12 Bänden, 1952–57), wurden händeringend Fachredakteure gesucht. Crämer stellte man 1950 ein. Er wirkte dann an der genannten Lexikonausgabe für den Schwerpunkt »Geschichte der deutschsprachigen Länder vor 1918« und an der 17. Auflage der Brockhaus Enzyklopädie mit. Neben ihm gab es mit Wilhelm Hehlmann 4 noch einen weiteren amtsenthobenen Hochschullehrer in der Brockhaus-Reaktion, wobei Hehlmann im Zeitraum von 1965 bis 1970 sogar den verantwortungsvollen Posten des Lexikon-Chefredakteurs übernahm.

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Warum der Brockhaus-Verlag, der die NS-Zeit weitgehend ohne politische Verstrickung überstanden hatte, 5 in der Gruppe der »amtsenthobenen Hochschullehrer ein ideales Rekrutierungsreservoir« (S. 362) sah, ist wie folgt zu erklären:

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Einerseits war man von dem fachlichen Können dieser Personen überzeugt und erhoffte sich unter anderem vom Professorentitel eines Crämers – den dieser übrigens unberechtigterweise fortführte, ohne es dem Verlag mitzuteilen –, dass sich »›alle Türen‹ zu den ›besten und geheimsten Informationen‹« öffnen würden (S. 363).

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Andererseits war die Übernahme beziehungsweise Weiterbeschäftigung von alten NS-Aktivisten kein Problem speziell des Brockhaus-Verlags, sondern der Bundesrepublik Deutschland im Allgemeinen. Die »Ehemaligen« fanden sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen und nicht selten in führenden Positionen wieder: in der Politik, in der Wirtschaft und zum Teil auch in der Wissenschaft. Ob ihrer Leistungen beim »Wirtschaftswunder« und beim Aufbau der Bundesrepublik wurden einige dieser Personen frenetisch gefeiert. Hinzu kam, dass in der damaligen westdeutschen Öffentlichkeit zu personellen Kontinuitäten über die Bruchzone 1945 hinweg tendenziell geschwiegen wurde. Insofern ging der Brockhaus-Verlag kein großes Risiko ein, wenn er solche Personen wie Hehlmann und Crämer beschäftigte.

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Das belegt auch ein Artikel, der 1975 in den Frankfurter Heften erschien. Der Autor Otto Köhler zog darin alle Register der Polemik gegen Brockhaus. Einige wenige ausgewählte Artikel nahm der Journalist zum Anlass, der Brockhaus Enzyklopädie (17. Auflage in 20 Bänden, 1966–74) eine deutlich konservative Grundhaltung vorzuwerfen im Vergleich zum Konkurrenzunternehmen Bibliographisches Institut mit seiner Ausgabe Meyers Enzyklopädisches Lexikon (9. Auflage in 25 Bänden, 1971–81). Für diesen »Konservatismus« machte er indirekt die NS-Vergangenheit einiger Redakteure und Lexikonautoren verantwortlich. 6 Sein scharfer Artikel wurde zwar allgemein zur Kenntnis genommen, führte aber nicht zu einer öffentlichen Diskussion beziehungsweise Auseinandersetzung über diese Problematik speziell im Lexikonbereich.

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Aus heutiger Sicht muss Folgendes hinzugefügt werden: Der Grundtenor des Köhlerschen Aufsatzes mag für die ausgewählten Artikel stimmen, allerdings ist die Schlussfolgerung überzogen. Denn erstens setzt das Verfassen von konservativen Artikeln, wie Jedlitschka zu Recht schreibt, keine nationalsozialistische Vergangenheit voraus (vgl. S. 365). Andererseits handelt es sich bei beiden genannten Nachschlagewerken nicht um politische Lexika, sondern um Allgemeinlexika, bei denen die Bereiche Politik und Geschichte zusammengenommen nur schätzungsweise 8 bis 10 Prozent der Textmenge ausmachen. Den Großteil der Lemmata, zusammengesetzt aus weiteren Wissensbereichen wie Biologie, Medizin, Technik, Physik, Geografie etc., kann man gar nicht nach den Kategorien »konservativ« versus »liberal« einstufen, sondern eher danach, ob sie inhaltlich »richtig und aktuell« oder »fehlerhaft und veraltet« sind. Zudem ist die Auswahl der genannten Beispielartikel bei Köhler zu gering, um eine verlässliche Gesamteinschätzung zu erhalten. 7 Bis heute gibt es keine groß angelegten inhaltsanalytischen Untersuchungen zu den deutschen Lexika des 19. und 20. Jahrhunderts. – Ein echtes Forschungsdesiderat, das behoben werden sollte!

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Im Brockhaus-Verlag wurde übrigens der Einfluss Crämers auf die strategische Lexikonarbeit als gering eingeschätzt, seine Artikel wie die der anderen in der Endredaktionsstufe nochmalig überprüft. So schreibt auch Jedlitschka, dass es schwierig sei, den Einfluss von Crämer in den ungezeichneten Artikeln des Lexikons konkret aufzuspüren. Nachvollziehbar ist er in den Artikeln »Allgäu«, »Föderalismus« und »Reichsreform« (16. und 17. Lexikonauflage, vgl. Jedlitschka, S. 363–364).

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Crämer war bis 1976 beim Brockhaus-Verlag beschäftigt. Danach verlieren sich seine Spuren. Bis zu seinem Tod im Jahre 1992 war er noch publizistisch tätig. Wenn man die Lektüre des Bandes beendet hat, rundet sich das Gesamtbild ab. Bei der Fülle der Daten und Ereignisse hätte es sich angeboten, einen tabellarischen Lebenslauf abzudrucken, um ein erstes Orientieren und wiederholtes Nachschlagen zu ermöglichen. Auch kommt die Schilderung des privaten Bereichs und des Familienmenschen Crämer zu kurz. – Das ist aber wohl der desolaten Quellenlage geschuldet. Sehr lobenswert sind 20 Kurzbiografien im Anhang, in denen Personen vorgestellt werden, die im engen Zusammenhang mit der Biografie Crämers stehen.

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Fazit

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Jedlitschka ist eine ausgewogene, hoch informative und lesenswerte Monografie gelungen, die am Aufstieg und Fall eines Historikers das heikle Verhältnis von Wissenschaft und Politik im Dritten Reich und den ambivalenten Umgang damit in der Bundesrepublik thematisiert. Hervorzuheben ist der Detailreichtum, mit dem die Untersuchung aufwartet. Individuelle Entscheidungsfindungen werden ebenso gründlich recherchiert wie personelle Netzwerke in Hochschule und Politik. Dieses Buch ist nachdrücklich zur Lektüre empfohlen und sollte weitere, ähnlich gelagerte Untersuchungen anregen.



Anmerkungen

Vgl. Karsten Jedlitschka, S. 21–25; u.a. mit Verweis auf die Arbeiten von Volker Meja und Nico Stehr zur »Wissenssoziologie«.   zurück
Dies bezog sich darauf, dass Crämer eine jüdische Urgroßmutter besaß und zur weiteren Berufsausübung ein Gnadengesuch bei Adolf Hitler erwirkte. Derartige Gesuche wurden in nur wenigen Ausnahmefällen positiv beschieden. Vgl. Karsten Jedlitschka, S. 175–183.   zurück
Vgl. die Notiz Fritz Brockhaus an Hans Brockhaus vom 17.12.1945. In: Verlagsarchiv BIFAB, Mannheim.   zurück
Hehlmann hatte während des Nationalsozialismus auf der NS-Ordensburg Sonthofen unterrichtet und ein ganz im Zeichen des Regimes stehendes Pädagogisches Wörterbuch (2. und 3. Auflage, 1941 und 1942 im Stuttgarter Kröner-Verlag) verfasst und musste ebenfalls nach 1945 aus dem Hochschuldienst ausscheiden.   zurück
Die Unternehmer Brockhaus hatten deutliche Ressentiments gegenüber den NS-Machthabern und gehörten nicht der NSDAP an. Sie hatten »das Glück«, dass ihr großes Lexikon (Der große Brockhaus, 15. Auflage in 20 Bänden, 1928–35) bei der Machtergreifung 1933 bereits zu zwei Dritteln vorlag. Im Folgenden gelang es der Verlagsleitung mit den Abschlussbänden und weiteren kleineren Lexikonausgaben über taktische Auseinandersetzungen mit der Reichsschrifttumskammer und der Parteiamtlichen Prüfungskommission zuweilen liberalere Formulierungen durchzusetzen. Das änderte sich erst im Zweiten Weltkrieg, als die Verlagsleitung angesichts einer drohenden Betriebsstilllegung zu stärkerer Zusammenarbeit mit den Zensurbehörden überging. So erschien 1940 ein politischer »Brockhaus« mit propagandistischen Inhalten (Taschen-Brockhaus zum Zeitgeschehen). Vgl. Thomas Keiderling (Hg.): F. A. Brockhaus 1905–2005. Leipzig, Mannheim 2005, S. 145–187, besonders S. 161–165. Siehe hierzu auch die Rezension in IASLonline [26.06.2005], URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Altenhein3765300845_1329.html. Datum des Zugriffs: 01.08.2006.   zurück
Vgl. Otto Köhler: Der Brockhaus und sein Weltbild. In: Frankfurter Hefte 30 (1975), Heft 9, S. 39–50, hier S. 48–49. Vgl. ferner Die Zeit, Nr. 37, 8.9.1978, S. 43. Selbst im Vorstand und Aufsichtsrat des Bibliographischen Instituts – von Köhler für die Erstellung des »liberaleren« Meyers Lexikon gelobt – befanden sich immer noch Otto Mittelstaedt und Helmuth Bücking, die schon während der NS-Zeit für die systemkonforme Ausrichtung des Verlags verantwortlich zeichneten. Vgl. Thomas Keiderling (Anm. 5), S. 262–263.   zurück
Zur vermeintlichen Repräsentanz ein Rechenbeispiel: Wenn man von einem Lexikon mit 225.000 Stichwörtern (Brockhaus Enzyklopädie, 17. Auflage) 20 für eine Rezension auswählt, um an ihrem Beispiel ein Urteil zu fällen, dann handelt es sich um 0,008 Prozent des gesamten Materials. Je nach Schwerpunktlegung bei der Auswahl und Intention des Rezensenten kann man dabei zu jedem beliebigen positiven wie negativen Ergebnis gelangen. Eine größere Verlässlichkeit ließe sich nach dem Prinzip der geschichteten Zufallsstichprobe bei einer deutlichen Erhöhung der selektierten Artikel auf mehrere Hundert erzielen.   zurück