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Neue literaturwissenschaftliche Biographik
zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Konstruktion und Dekonstruktion

Christian Klein über Ernst Penzoldt

  • Christian Klein: Ernst Penzoldt. Harmonie aus Widersprüchen. Leben und Werk (1892-1955). Köln, Weimar: Böhlau 2006. 472 S. 14 s/w Abb. EUR (D) 44,90.
    ISBN: 3-412-34205-X.
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Wer war Ernst Penzoldt? – »Er war mein Freund«, schrieb Thomas Mann in seinem Nachruf auf den Kollegen 1955 (S. 340). Schriftsteller, Bildhauer, Maler, Scherenschnittkünstler 1 , Journalist, Dramaturg, Sanitäter, Repräsentant und Organisator der Kulturlandschaft im München der Zwischenkriegszeit und im Nachkriegsdeutschland, Familienvater, (schwuler) Geliebter, unermüdlicher Briefpartner – Penzoldt war ein vielseitiger, zum Teil angefeindeter, zum Teil verehrter Zeitgenosse. Zu Lebzeiten gerühmt und geehrt, scheint sein Schaffen doch so sehr seiner Zeit verhaftet zu sein, dass er fünfzig Jahre nach seinem Tod nur noch Wenigen bekannt ist. Daher wünscht sich der Biograph Christian Klein bescheiden: »Wenn diese Biographie dazu beiträgt, dass Penzoldt wieder ein wenig stärker ins Gespräch kommt, wäre viel erreicht« (S. 432).

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Ob Penzoldt also zu recht oder zu unrecht im aktuellen germanistischen Kanon fehlt, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Vielmehr möchte ich anhand der vorliegenden Lebens- und Werkbeschreibung die Vor- und Nachteile literaturwissenschaftlicher Biographien reflektieren. Warum wird das Genre in der Wissenschaft immer noch kritisch gesehen? Was kann eine literaturwissenschaftliche Biographie über die Lebens- und Werkbeschreibung hinaus zeigen? Diese Probleme sowie Quellenfragen biographischen Arbeitens diskutiere ich anhand des jüngst publizierten Lebensbildes von Ernst Penzoldt.

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Ernst Penzoldt – der Mann und der Schriftsteller

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Penzoldt wurde 1892 als jüngster Sohn einer Münchner Professorenfamilie geboren. Im (groß-)bürgerlichen Haushalt behütet aufgewachsen, meinte er sich selbst schon früh als Außenseiter mit künstlerischen Interessen zu erkennen. Die in Weimar und Kassel begonnene Bildhauerausbildung wurde durch den Ersten Weltkrieg beendet, an dem er – anfangs enthusiastisch, später distanzierter – als Sanitäter teilnahm. Zurück in München, setzte er seine im Krieg begonnene schriftstellerische Arbeit fort und veröffentlichte 1922 seinen ersten Text im Verlag seines Freundes und Schwagers Ernst Heimeran. Dieser Gedichtband (Der Gefährte) ist dem Andenken seines im Krieg gefallenen Freundes Günther Stolle gewidmet. Bis zu seinem Tod pflegte Penzoldt intensive homoerotische Beziehungen, wobei der jeweils verehrte Freund als Muse für das künstlerische Schaffen eine zentrale Position einnahm. Dieser Freundschaftseros war, wie Klein plausibel herausarbeitet, deutlich vom George-Kreis beeinflusst. Die Ehe mit Friederike Heimeran war dementsprechend auch eine Flucht in geordnete bürgerliche Verhältnisse, die ihm zugleich die Nähe zu seinem wohl wichtigsten Freund Ernst Heimeran ermöglichte.

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Obwohl Penzoldt die bildende Kunst weiter verfolgte, wurde die Literatur in den 1920er Jahren für ihn bedeutender – im doppelten Sinne. Er publizierte bis 1933 ein Dutzend neuer Texte und baute gleichzeitig ein literarisches Netzwerk in München auf, die Argonauten. Mit beiden Tätigkeiten verortete sich Penzoldt abseits avantgardistischer Kunst- und Literaturtendenzen, da er ein an die Romantik anknüpfendes, dabei entpolitisiertes Literaturkonzept entwarf, das Klein als Kultur von Bürgern für Bürger beschreibt (S. 139). In die Argonauten-Zeit fielen die Bekannt- und Freundschaften zu einer Vielzahl von Kollegen, unter ihnen Erich Kästner, Hermann Hesse sowie der schon erwähnte Thomas Mann, aber auch rechtskonservative Autoren wie Paul Alverdes.

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Trotz Penzoldts Beharren auf einem (vermeintlich) politikfreien Standpunkt löste seine 1929 erschienene Novelle Etienne und Luise einen der größten Literaturskandale der Weimarer Republik aus, der zu einer landesweiten (kultur-)politischen Auseinandersetzung eskalierte. In den insgesamt sechs Prozessen um dieses Buch ging es einerseits um die Spannung zwischen Persönlichkeitsrechten (des angeblich porträtierten Erlanger Turnlehrers Lorenz Loch) und künstlerischen Freiheiten. Andererseits wurde im Verlauf des Streites deutlich, dass hier ein rechtskonservatives Geschichts- und Kulturverständnis gegen angeblich dekadente und unsittliche Kunst durchgesetzt werden sollte.

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Dieser erst 1932 beendete Streit nahm die kulturpolitischen Entwicklungen ab 1933 quasi vorweg. Als ›Arier‹ wurden Penzoldt und seine Familie nicht verfolgt; er konnte weiter publizieren und seine bildhauerischen Werke ausstellen. Der Vertreibung und Verfolgung von Kollegen, Freundinnen und Freunden suchte er jedoch zumindest ideelle Unterstützung, z. T. auch konkrete Bemühungen um Freilassung von verhafteten Bekannten entgegenzusetzen. Als Autor der so genannten Inneren Emigration wendete sich Penzoldt zunehmend der kleineren Form zu (Feuilleton, Episteln u. ä.), sicherlich auch deshalb, weil er im Zweiten Weltkrieg wieder als Sanitäter diente. Bemerkenswertes Ergebnis dieser Erfahrungen ist Korporal Mombour, eine kriegskritische Novelle, die 1943 als Feldpostausgabe erschien und 1950/51 verfilmt wurde.

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In der Nachkriegszeit war Penzoldt als »moralische Autorität« (S. 381) aktiv an der Gestaltung der deutsch-deutschen Kulturlandschaft beteiligt. Schon vor, insbesondere aber nach 1945 fand Penzoldt mit seinen oft humoristischen Romanen, Erzählungen und Dramen bei der deutschen Leserschaft, der Literaturkritik und vielen Literaten großen Zuspruch. So gedachte Hermann Hesse des 1955 verstorbenen Kollegen als einer der »freundlichsten Gestalten meines geistigen Umgangs« (S. 340).

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Die Biographie – das Haus und sein Gerüst

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Christian Klein, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal, hat sich nicht nur eingehend mit Leben und Werk von Ernst Penzoldt beschäftigt, sondern auch mit den Grundlagen der Biographik. In einem 2002 von ihm herausgegebenen Sammelband dieses Titels 2 und in anderen Publikationen hat er sich ausführlich mit Praxis, Methode und Theorie des Genres auseinandergesetzt. Während die literaturwissenschaftliche Theorie besonders auf die narrativen Strukturen von Identitätserzählungen (sowohl den autobiographischen als auch den biographischen) verweist, hebt die Soziologie den Inszenierungs- und Konstruktionscharakter von gelebtem und erzähltem Leben hervor. Daher entspreche, so Klein, ein interdisziplinärer Ansatz, der theoretische Diskussionen aus verschiedenen Fächern verbinde, der »biographischen Praxis« und eröffne neue Chancen. 3 Ganz in diesem Sinne setzt Klein Überlegungen der vorhandenen biographischen Theoriediskurse in seiner Penzoldt-Biographie produktiv um, wie ich in dieser Rezension an einigen Beispielen zu zeigen versuche.

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Zunächst zur Anlage der bei Böhlau publizierten Biographie. Das gut gemachte Buch ziert ein Selbstporträt des Dichters und Künstlers, im Mittelteil finden sich Fotografien und Reproduktionen künstlerischer Arbeiten. Im Epilog äußert sich Klein sich zu Methode und Aufbau (S. 431–438). Das Buch ist in drei große Teile gegliedert (Kindheit und Jugend, 1920er und 1930er Jahre, 1939 bis 1955), denen sechs chronologische Kapitel und fünf thematische Abschnitte untergeordnet sind. Klein schlägt den Leserinnen und Lesern vor, diese »Räume« gleichberechtigt zu nutzen und die Kapitel nach eigenem Interesse zu arrangieren (S. 13). Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, lassen sich einige Widerholungen nicht vermeiden, insgesamt eignet sich die vorliegende Biographie jedoch vorzüglich, um sich gezielt über bestimmte Themen oder Lebensabschnitte zu informieren. Hierzu trägt neben den Fußnoten, die kapitelweise fortlaufend sind, auch das Personenregister bei. 4

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Klein nutzt für den Aufbau dieser Biographie die Metapher eines bürgerlichen Wohnhauses. Die Wohnräume des Hauses strukturieren das biographische Narrativ. Da das ›Haus‹ als Schnittstelle von privaten und gesellschaftlichen Erfahrungen auch für Penzoldt selbst von großer Bedeutung war, verspricht diese Metaphern-Wahl einen interpretatorischen Mehrwert – möglicherweise nicht nur für diese Biographie. Tatsächlich überzeugt das Konzept für die Abschnitte über die Kindheit (»Dachboden«), die Kriegserfahrungen (»Kellerraum«), über Ehe und Familie (»Gute Stube«) und die Rezeptionsgeschichte (»Schreibzimmer«), besonders aber für das letzte Kapitel »Deutschland – ein Wintergarten? Repräsentationsanbau nach 1945«, der Penzoldts Rolle im Literaturbetrieb behandelt. 5 Auch die »Exkursionen« in den Gerichtssaal und den Bühnenraum lassen sich dem Gerüst des ›Hauses‹ unterordnen. Missverständlich bleibt der Verweis auf Räume des Hauses jedoch beim »Allerheiligsten« (Freundschaften zwischen 1911 und 1914) – soll dies eine Metapher für das Schlafzimmer sein? Oder doch eher für einen kleinen Hausaltar? Ähnlich unklar ist, warum Penzoldts (künstlerische) Freundschafts-Konzeption unter der Überschrift »Diele« erläutert wird. Auch unter dem »Gemeinschaftsraum« (Freundschaft mit Ernst Heimeran) kann ich mir nicht viel vorstellen, zumal diesem Raum in einem bürgerlichen Haushalt eher der Salon entspräche. 6

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Literaturwissenschaftliche Biographik –
Dilemma und Surplus

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In den letzten Jahren ist in den Geisteswissenschaften ein erneutes Interesse an dem Menschen in Geschichte und Literatur zu verzeichnen. Selbst ein Vertreter des New Historicism wie Stephen Greenblatt legte kürzlich eine Shakespeare-Studie vor. Greenblatt nutzt den biographischen Zugang, um Wechselwirkungen von Leben und Werk nachzuspüren. 7 Christian Kleins Interesse ist ähnlich motiviert: Penzoldts Werk biete großen Facettenreichtum und sein Leben scheine »bei aller Einzigartigkeit repräsentativ für eine Künstlergeneration zu sein« (S. 12). Just hier liegt der neuralgische Punkt aller Biographien. Falls die Person im Mittelpunkt des Geschehens nicht berühmt (genug) ist, um eine mehrhundertseitige Lebensbeschreibung per se zu legitimieren, soll ihr Lebensweg typisch für eine Ära, eine Berufs- oder Personengruppe sein.

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Diesem Dilemma sind viele wissenschaftliche Biographien verhaftet, indem sie verallgemeinernde Charakterisierungen vornehmen, um entweder anhand der Vergleichsgruppe Rückschlüsse auf den Protagonisten zu ziehen oder umgekehrt. Gerade bei Biographien, die sich auf eine Vielzahl von Quellen stützen können, erscheint die Beschreibung des gesellschaftspolitischen Kontextes und des spezifischen Milieus häufig als potemkinsches Dorf, statt mit Leben und Werk der HauptdarstellerIn in Beziehung gesetzt zu werden. 8 Umgekehrt erklären manche Biographien über DichterInnen, von denen kein umfangreicher Nachlass überliefert ist, das Leben aus dem Werk, indem die literarischen Texte als Darstellungen der ›Realität‹ interpretiert werden.

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Eine Biographie zu schreiben, birgt folglich viele Fallen. Christian Klein ist ihnen meisterlich ausgewichen. Ernst Penzoldt steht immer im Vordergrund, sein Lebensweg strukturiert die Studie. Thematisch relevante gesellschaftliche Diskurse, politische Entwicklungen oder literarische Debatten werden in kurzen, präzisen Strichen nachgezeichnet, die Penzoldts Handeln in den jeweiligen Kontext einbetten und in Relation zu seinen Zeitgenossen setzen. Die Frage nach der Repräsentativität kann Klein für viele Aspekte überzeugend beantworten und dokumentieren, dass und wofür Penzoldt typisch ist.

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Im Abschnitt über den Ersten Weltkrieg werden beispielsweise ausführlich Penzoldts Briefe an seine Eltern zitiert. Die aus dieser Korrespondenz deutlich werdende naive und nur langsam abnehmende Kriegsromantik verortet Klein aber nicht nur im Rahmen der allgemeinen deutschen Kriegsbegeisterung, sondern kontrastiert sie mit den historischen Ereignissen und verknüpft sie mit Penzoldts früher künstlerischer Entwicklung. Ebenso liest sich das neunte Kapitel über den »Theatermacher« (S. 215) als ein knapper Abriss deutscher Theatergeschichte zwischen 1930 und 1955, in der Penzoldt nur eine Nebenrolle spielte. So ist Ernst Penzoldt zwar die zentrale Figur der Studie, ohne aber unverhältnismäßig zu einem Heroen stilisiert zu werden.

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Quellen – Fakten und Fiktionen

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Dabei kann der Biograph auf einen umfangreichen Nachlass zurückgreifen. Der größte Bestand befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach, den Klein durch Briefe und Quellen aus anderen Institutionen reichlich ergänzt. Darüber hinaus konnte er das Privatarchiv von Ulla Penzoldt nutzen, die die Erstellung dieser wissenschaftlichen Biografie ihres Vaters engagiert unterstützt hat. Penzoldt hat zudem schon früh autobiographische Texte publiziert, in denen er sich seines künstlerischen Werdegangs vergewisserte, so z. B. in dem 1929 erschienen Bildhauer oder Schriftsteller. Etwas über mich selbst 9 . Klein schöpft diese überlieferte Vielfalt produktiv aus und kann insbesondere anhand des Briefwechsels mit Ernst Heimeran Penzoldts literarisch-künstlerische Entwicklung überzeugend entfalten.

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Klein analysiert seine Quellen kritisch und macht ihren Konstruktionscharakter deutlich, da er sie nach ihrem – fiktiven – Gehalt befragt und nicht als vermeintlich wahre Abbildung der Realität verwendet. Darin liegt ein ganz entscheidender Vorzug der Studie: Keine Biographie kann auf (auto‑)biographische Überlieferungen verzichten, bemerkenswert ist hier jedoch der umsichtige und gleichzeitig an der Dekonstruktion geschulte Umgang mit Quellen. Auf diese Weise kann Klein Penzoldts eigene Legendenbildung als eben solche sichtbar machen. Dies gelingt besonders im dritten Kapitel über frühe Freundschaften und künstlerisches Selbstverständnis, in dem Klein anhand Penzoldts zeitgenössischer Briefe und nachträglich verfasster Memoiren die persönliche und künstlerische Entwicklung im Kontext bürgerlicher Kunstkonzepte des Kaiserreiches nachzeichnet, um zu bilanzieren:

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Penzoldt entwirft in seinen autobiographischen Texten rückblickend ein Bild seiner Kindheit, das dem typischen Wunschbild einer Künstlerjugend entspricht und ihn einem bürgerlich geprägten Umfeld gegenüber legitimiert. Das Leben wird somit in Teilen als Ausdruck eines Rezeptionsphänomens erkennbar. (S. 60 f.)
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Klein erliegt dabei der nicht der Verlockung, die Widersprüche dieses Lebens zu harmonisieren. Der Untertitel der Biographie Harmonie aus Widersprüchen bezeichnet Penzoldts fortgesetzten Versuch, sehr unterschiedliche Aspekte seines Lebens zu einem ganzheitlichen Entwurf zu fügen. Klein sieht seine Aufgabe als Biograph demgegenüber darin, »Leerstellen offen zu legen« und Divergenzen festzuhalten (S. 432).

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Das literarische Schaffen – Werke und Netzwerke

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Das Genre der Biographie bringt die Schwierigkeit mit sich, Lebensbeschreibung und Werkinterpretation verbinden zu müssen. Klein schildert Penzoldts gesamtes literarisches Schaffen, widmet sich indessen einigen ausgewählten Texten aus allen Lebensphasen detaillierter.

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Im Kapitel über Penzoldts 1928 erschienen Erfolgsroman Der arme Chatterton behandelt er Fragen nach Authentizität und Inszenierung in der Kunst und des Künstlers. Diese Problematik betrifft sowohl den literarischen Text als auch Penzoldts Leben, ohne dass Klein einfache Rückschlüsse von dem einen auf das andere ziehen würde. Er begründet zunächst, dass im Chatterton »die Trennung zwischen faktischer Wahrheit und künstlerischer Wahrhaftigkeit […] aufgehoben [wird] – wahr ist das, was ästhetisch überzeugend ist und nicht das, was objektiv echt sein mag« (S. 283). In einem zweiten Schritt kann er zeigen, dass diese »Konzeption des Schönen als des ästhetisch Wahrhaftigen […] eine zentrale Kategorie für das Verständnis von Penzoldts künstlerischem Schaffen« ist (S. 285). Diese in der humanistischen Tradition stehende Vorstellung beinhaltet für Penzoldt auch den fortgesetzten Versuch, seine verschiedenen künstlerischen Begabungen zu harmonisieren. Klein beschließt den Abschnitt mit der Rezeptionsgeschichte des Romans, der schon von Zeitgenossen wie Erich Kästner als unzeitgemäß wahrgenommen wurde (S. 295). Die Biographie wird hier literaturwissenschaftlichen Ansprüchen an Textinterpretation gerecht und kann sie zugleich an das gelebte Leben zurückbinden.

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Darüber hinaus beleuchtet Klein die Praxis des Schriftstellers. Obwohl sich Penzoldt konventionell als genialischer Dichter im Schreibatelier imaginiert und inszeniert, macht Klein sichtbar, dass und inwiefern Texte Ergebnisse eines langen Produktionsprozesses sind, an dem verschiedene Personen teilhaben. Für das Spätwerk Squirrel (Theaterstück 1953, Erzählung 1954) kann dies kurz verdeutlicht werden: Penzoldt entwarf zunächst Thema, Figur und Handlung und beriet sich schon während des Schreibens mit Kollegen und Freunden – in diesem Fall auch mit seinem Sohn Günther Penzoldt. Anschließend erhielt sein (zweiter) Verleger Peter Suhrkamp eine erste Textfassung. Dieser begrüßte im Squirrel zwar die tragfähige und zauberische Hauptfigur, forderte jedoch eine Überarbeitung und die Erstellung einer Prosaversion. Noch während Penzoldt diesen Vorschlägen folgte, erteilte Suhrkamp sowohl bei der Umarbeitung zur Erzählung als auch bei der Inszenierung konkrete Ratschläge. Die Rolle des Verlegers als wichtiger Berater des Schriftstellers wird hier anschaulich charakterisiert.

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Allein schon aus den Nachrufen auf Ernst Penzoldt ließe sich seine Stellung im deutschen Literaturbetrieb rekonstruieren. Klein zieht aber noch andere Quellen und vorliegende Sekundärliteratur heran, um im Verlaufe der Biographie die Struktur, den Nutzen und die Veränderung von Penzoldts Netzwerk im literarischen Feld nachzuweisen. Nach dem Ersten Weltkrieg knüpfte Penzoldt durch die Münchner Argonauten-Aktivitäten Kontakte zu einer Vielzahl von Schriftstellern und Publizisten, so dass er schon 1930 »endgültig im literarischen Establishment angekommen« war (S. 305). Klein konstatiert, dass Penzoldt und sein (erster) Verleger Heimeran über ein »geschärfte[s] Bewusstsein des Wertes persönlicher Beziehungen im literarischen Betrieb« verfügten (ebd.). Penzoldt konnte dieses symbolische Kapital über die NS-Zeit hinweg sichern und sich einen spezifischen Platz im Literaturbetrieb aufbauen. Dieser ermöglichte es ihm, sich nach 1945 in der Kontroverse um Thomas Mann (und im weiteren Sinne um Exil und Innerer Emigration) und in öffentlichen Diskursen über Kollektivschuld und Aufarbeitung Gehör zu verschaffen. Seine Publikationen und sein literaturpolitisches Engagement machten ihn zu einer wichtigen Mittler- und Repräsentationsfigur im deutsch-deutschen Literaturbetrieb vor 1949.

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Zu guter Letzt: Wer benötigt
eine Biographie über Ernst Penzoldt?

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Penzoldt ist wegen seiner zeitgenössischen Popularität ein ertragreiches Objekt für eine Biographie, da Klein von ihm ausgehend über sehr unterschiedliche Elemente von Literatur und Literaturbetrieb informieren kann: Milieu, deutsche Sozialgeschichte in vier Systemen, Werk, Autorenkollegen, literarische Debatten, die Funktionsweisen und Strukturen des literarischen Feldes, Theatergeschichte, Verlagswesen und Rezeptionsgeschichte – um nur eine Auswahl aus der Fülle der Themen zu nennen.

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Der »Bastard der Geisteswissenschaften« 10 hat damit den entscheidenden Vorzug, dass er Interferenzen zwischen Literatur und Geschichte gleichzeitig benennen, erklären und illustrieren kann. Die vorliegende Studie gehört zu den gelungensten wissenschaftlichen Biographien der letzten Jahre, denn sie bietet neben diesem ergiebigen Fundus verschiedener Aspekte deutscher Literaturgeschichte auch umfangreiches Quellenmaterial. Darüber hinaus – und dies ist für eine Qualifikationsarbeit mitnichten selbstverständlich – handelt es sich um ein gut zu lesendes und kurzweiliges Buch.

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Christian Klein beginnt Harmonie aus Widersprüchen mit einem Zitat Ernst Penzoldts aus dem Jahre 1917: »Aber ist nicht schon die kleinste Schaffensäußerung ein Spiegel des Künstlers? Ich glaube schon« (S. 11). Nach der spannenden Lektüre dieser Biographie könnte die Frage vielmehr lauten: ›Aber ist nicht schon die kleinste Schaffensäußerung des Künstlers ein Spiegel seiner Zeit, der Gesellschaft und ihrer Diskurse?‹ – Ich glaube schon.

 
 

Anmerkungen

Zu diesem Aspekt, der in der vorliegenden Biographie nur kursorisch behandelt werden kann, mehr unter http://www.scherenschnitt.org/v_kuenstler/penzoldt.html (05.08.2006).   zurück
Christian Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart, Weimar: Metzler 2002.   zurück
Christian Klein: Einleitung: Biographik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: C. K. (Hg.): Grundlagen der Biographik (siehe Anm. 2), hier S. 21.   zurück
Das im Buch enthaltene Literaturverzeichnis kann mit einer weiteren, 24-seitigen Bibliographie ergänzt werden als Download unter http://www.boehlau.de/buchdetail.asp?ISBN=3–412–34205-X (25.10.2006).   zurück
Leider erfährt die Leserin nicht, ob an Penzoldts Münchner Wohnhaus tatsächlich ein Wintergarten angebaut wurde.   zurück
Die Metapher des Hauses wird im Text weiter gesponnen: Penzoldt als »Hausvater« oder »Der Weg zum eigenen Heim(eran)«.   zurück
Stephen Greenblatt: Will in the World. How Shakespeare became Shakespeare. New York, London: Norton 2004, S. 12.   zurück
Z. B. Greg Johnson: Invisible Writer. A Biography of Joyce Carol Oates. New York u.a.: Dutton 1999.   zurück
In: Ernst Penzoldt: Etienne und Luise. Leipzig: Reclam 1929, S. 59–70.   zurück
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Christian Klein, Grundlagen der Biographik (siehe Anm. 2), S. 1.   zurück