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Vom Nutzen und Nachteil einer an der Systematik ausgerichteten Literaturwissenschaft

  • Birgit Neumann: Erinnerung - Identität - Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer »Fictions of Memory«. (Media and Cultural Memory 3) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005. XII, 507 S. Gebunden. EUR (D) 118,00.
    ISBN: 3-11-018316-1.
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Birgit Neumanns Arbeit setzt sich zum Ziel »zu zeigen, dass im zeitgenössischen kanadischen Roman eine derart ausgeprägte Hinwendung zu dem Zusammenhang von Erinnerung, Identität und Narration zu verzeichnen ist, dass mit Fug und Recht von der Entstehung einer neuen, veritablen ›Gedächtnisgattung‹ gesprochen werden kann: den fictions of memory.« (S. 1)

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Doch wer nun erwartet, in dieser Dissertation sofort etwas über den zeitgenössischen kanadischen Roman und seine Besonderheiten zu erfahren, welche die Autorin veranlassen, von einer neuen ›Gedächtnisgattung‹ zu sprechen, dem sei zu Geduld geraten: Zunächst müssen die interdisziplinären, vor allem aus den Kulturwissenschaften und aus der narrativen Psychologie stammenden gedächtnistheoretischen Konzepte zum Zusammenhang von Erinnerungen, Identitäten und Narrationen erläutert, das Verhältnis von Literatur als spezifischem Medium und anderen Narrationen geklärt und die Bedingungen und Bezugsdiskurse, in welchen eine solche Gedächtnisgattung überhaupt konturiert werden kann, erörtert werden.

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Ziel der Autorin ist eine umfassende Grundbestimmung, denn: »Eine theoretische Konzeptualisierung des Verhältnisses von Literatur, Erinnerung und Identität, die sowohl das Spektrum textinterner Inszenierungen als auch die produktive Rolle der literarisch entworfenen Erinnerungs- und Identitätskonzepte in der Erinnerungskultur systematisch beschreiben kann, steht bis heute noch aus.« (S. 3)

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Auch wenn Birgit Neumanns Analyse des Status Quo literaturwissenschaftlicher Forschungen, welche in ihren Augen »häufig erstaunlich unberührt von theoretischen Einsichten [bleiben] und sich allzu oft durch einen rein alltagssprachlichen Gebrauch der Begriffe ›Erinnerung‹, ›Identität‹ und ›Narration‹« auszeichneten, nur partiell Gültigkeit beanspruchen kann, – bei weitem nicht alle Forschungen zeichnen sich durch eine derartige Ignoranz aus –, so ist es richtig, dass bisher noch kein Versuch unternommen wurde, die »nur vage konturierte Begriffstrias Erinnerung, Identität und Narration« (S. 15) systematisch zu erfassen und für die literaturwissenschaftliche Gedächtnisforschung fruchtbar zu machen. Dabei ist der Anspruch der Autorin kein geringerer als der, »die gesamte Bandbreite der literarisch inszenierten Entwürfe kollektiver und individueller Vergangenheiten zu reflektieren« (S. 9) und mit Hilfe einer eigens entwickelten Gattungstypologie zu strukturieren.

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Kulturwissenschaftliche und
narratologische Fundierungen

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Die Besonderheit und herausragende Leistung der Arbeit besteht ohne Zweifel darin, dass es ihr gelingt, einen Bogen von sozial- und narrationspsychologischen hin zu kulturwissenschaftlichen Gedächtnis- und Identitätsforschungen zu spannen und deren unterschiedliche Terminologien und Konzeptualisierungen äußerst kenntnisreich, differenziert und dabei dennoch übersichtlich darzustellen. Darüber hinaus vermag es die in den verschiedenen Forschungszusammenhängen gleichermaßen versierte Autorin, diese in ein produktives Verhältnis zu setzen und ihre mitunter differierenden Terminologien so aufeinander zu beziehen, dass sie sich gegenseitig zu erhellen vermögen. Dadurch gelingt es ihr, den seit langem bestehenden Ruf nach interdisziplinärer Anschlussfähigkeit literaturwissenschaftlicher Ansätze an aktuelle psychologische und kulturwissenschaftliche Forschungen zu Erinnerung, Identität und Narration einzulösen.

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Das erste Hauptkapitel gibt einen ausgiebigen Überblick über sozialpsychologische und kulturwissenschaftliche Konzeptionen von Gedächtnis und Erinnerung hinsichtlich ihrer Bezüge auf individuelle und kollektive Identitätsbildung. Die Autorin führt zunächst in verschiedene sozialpsychologische Ansätze und Diskussionen zur Gedächtnistheorie ein (erörtert werden Ansätze von Frederic Bartlett bis hin zu Daniel Schacter und Harald Welzer) und ergänzt diese um Überlegungen zum Konzept der ›Narrativen Identität‹, welches ursprünglich aus der narrativen Psychologie stammt und besagt, dass individuelle Identität maßgeblich narrativ, das heißt durch das Erzählen von Selbstgeschichten hergestellt wird.

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Doch auch wenn die Vorstellung der »narrativen Identität« inzwischen zu einem Allgemeinplatz geworden ist, der gleichermaßen von philosophischen, psychologischen und kulturwissenschaftlichen Theoretikern vertreten wird, so verwundert die Tatsache, dass bisher kaum Untersuchungen vorliegen, welche die Herstellung einer solchen narrativen Identität genauer unter die Lupe nehmen und die internen Strukturierungen von Erzählungen in ihren spezifischen Auswirkungen auf die jeweilige Identitätskonstitution hin untersuchen. Hier ist seit langem die Literaturwissenschaft aufgerufen, mit ihren subtileren erzähltheoretischen Analysemethoden die Zusammenhänge von Erzähltechniken und Identitätskonstitution konkreter zu fassen.

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Es folgt ein Überblick über kulturwissenschaftliche Forschungen zum Kollektivgedächtnis, wobei die Autorin besonders auf Maurice Halbwachs Theorie des ›kollektiven Gedächtnisses‹, auf Pierre Noras Konzeptualisierung der ›lieux de mémoire‹ und Aleida und Jan Assmanns Theorie vom ›kommunikativen Gedächtnis‹ rekurriert. Bei aller Produktivität dieser Ansätze, Formen eines kulturellen Gedächtnisses denkbar zu machen – man kann sie dafür kritisieren, sich zu stark an einem homogenisierenden Begriff von Kultur zu orientieren und die mögliche Vielfalt heterogener Vergangenheits- und Identitätskonstruktionen innerhalb einer pluralen und multikulturellen Gesellschaft auszublenden.

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Anstatt vorschnell den Begriff eines einheitlichen und verbindlichen Kollektivgedächtnisses zu verwenden, sollte der Blick auf die komplexen Aushandlungsprozesse um kulturelle Erinnerungshoheit zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen mit unterschiedlichen politischen Interessen und Geltungsansprüchen gelenkt werden. Es fällt der Autorin leicht und leuchtet ein, an dieser Stelle die Relevanz der Literatur ins Feld zu führen:

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Literarische Texte verfügen über zahlreiche fiktionale Gestaltungsmöglichkeiten, um die Pluralisierung von kollektiven Erinnerungen zu inszenieren und den Streit um gesellschaftliche Erinnerungshoheit aktiv mitzugestalten. [...] Durch die modellhafte Zusammenführung des kulturell Getrennten kann Literatur die kollektive Erfahrungswirklichkeit auf komplexe Weise neu bestimmen und alternative, in der Erinnerungskultur so nicht verfügbare Perspektiven auf die Vergangenheit anbieten. (S. 117)
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Das dialogische Verhältnis von Literatur
und Erinnerungskultur(en)

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Die Frage ist jedoch, ob und wie diese Partizipation von literarischen Werken an den beschriebenen Prozessen individueller und kollektiver Gedächtnisbildung gedacht und vor allem konkret beschrieben werden kann. Dies gelingt der vorliegenden Dissertation nur ansatzweise, was zum einen daran liegt, dass die Autorin sich in ihren Ausführungen oft zu allgemein auf verschiedene (vor allem funktionsgeschichtlich ausgerichtete) kulturwissenschaftliche Ansätze zum Verhältnis von Literatur und Kultur bezieht.

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Birgit Neumann greift in ihrem zweiten Hauptkapitel »Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung« vor allem auf kulturökologische Ansätze zurück, welche Literatur als spezifisches ökologisches System mit eigenen Konventionen innerhalb eines übergeordneten kulturellen Geflechts begreifen. Als Besonderheit des kulturökologischen Systems ›Literatur‹ führt Neumann mit Hubert Zapf 1 den Begriff der »depragmatisation« ein. Die Tatsache, dass Literatur im Gegensatz zu anderen kulturökologischen Systemen weder zur Faktizität noch zur Orientierung an pragmatischen Zielen verpflichtet sei, ermögliche ihr spezifisches Innovationspotential:

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[Literatur] ermöglicht alternative Welten, die (noch) nicht realisierte Deutungsangebote machen und rezipientenseitig zu einer veränderten Weltsicht beitragen können. Literarische Welten stellen die Verbindlichkeit des kollektiv Aktualisierten bzw. Erinnerten in Frage und verleihen dem Imaginären (so auch dem Marginalisierten) probeweise kulturellen Geltungsanspruch. (S. 133)
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Derartige Aussagen sind weder neu noch falsch und doch fragt sich der Leser immer häufiger, was diese allgemein gehaltenen Formulierungen zur Erhellung der Fragestellung nach den Wechselwirkungen zwischen kanadischen Gegenwartsromanen und kollektiver Erinnerungs- und Identitätsbildung beitragen. Leider überzeugt auch der Versuch, mit Hilfe von Ricœurs dreistufigem Mimesismodell diese Interaktionen zu spezifizieren, nur teilweise.

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So erlaubt er zwar das Verhältnis zwischen Literatur und extraliterarischen Erinnerungsdiskursen in drei Phasen zu differenzieren und somit zwischen der Bezogenheit von Texten auf die vorgängige extratextuelle Wirklichkeit (Mimesis I), der textuellen Konfiguration zu einer neuen fiktionalen Welt (Mimesis II) und schließlich der Rückwirkung des Textes auf die kognitiven Prozesse des Lesers (Mimesis III) zu unterscheiden und jede der drei Phasen getrennt in den Blick zu nehmen, doch auch dieser Ansatz müsste inhaltlich an Beispielen demonstriert werden, um über den Status allgemeiner Statements wie etwa »Fictions of memory können – bei entsprechender rezipientenseitiger Aneignung – auf die Erinnerungskultur zurückwirken und mithin selbst als gesellschaftlich bedeutsames Medium der Erinnerung, der kulturellen Selbstreflexion oder der Orientierungsbildung fungieren« (S. 151) hinaus zu gelangen.

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Gattungstypologien
und Literaturanalysen

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Dies mag an dem gewählten Ansatz liegen, den allgemeinen Theorieteil den konkreten Literaturanalysen voranzustellen, welcher spätestens hier Schwierigkeiten sichtbar werden lässt. Wie sollen auch an dieser Stelle schon genauere Aussagen getroffen werden, wo die literarischen Texte doch bisher selbst noch gar nicht zu Wort gekommen sind? Die Zweifel an der Herangehensweise verstärken sich noch, wenn im folgenden auf der Basis von allgemeinen literarischen Darstellungsverfahren eine Gattungstypologie der fictions of memory entworfen wird, auf deren Grundlage dann die zu analysierenden Romane »klassifiziert« (S. 209) werden sollen.

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Diese Typologie unterscheidet zwischen dem »autobiographischen Gedächtnisroman«, dem »autobiographischen Erinnerungsroman«, dem »kommunalen Gedächtnisroman« und dem »soziobiographischen Erinnerungsroman«. Fast erschreckend liest sich die Begründung, dass eine fünfte Erscheinungsform, der »metamnemonische Roman«, in die Gattungstypologie nicht aufgenommen wird, da er »in quantitativer Hinsicht von untergeordneter Bedeutung ist und sich daher nur vorläufige Hypothesen über seine gattungsspezifischen Besonderheiten und Funktionspotentiale aufstellen lassen« (S. 241). In dieser Perspektive interessieren nicht die ungewöhnlichsten und möglicherweise interessantesten Texte, sondern diejenigen, welche sich am besten in die Gattungstypologie integrieren lassen: »Zentrales Kriterium für die Textauswahl ist die im Theorieteil entwickelte Gattungsbestimmung der fictions of memory.« (S. 14)

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Nicht den Versuchen gattungstypologischer Differenzierungen soll hier das Daseinsrecht abgesprochen werden, sondern ihrer Apotheose, zumal eine umgekehrte beziehungsweise ineinander greifende Anordnung von literarischen Analysen und Gattungstypologie, bei der die gattungstypologischen Überlegungen aus den Textanalysen entwickelt werden, durchaus möglich gewesen wäre. Das hätte nicht nur den Vorteil gehabt, die Gattungstypologie für den Leser nachvollziehbarer zu machen, auch den literarischen Texten wäre mehr Ehre zuteil geworden, wenn sie nicht nur als Exemplifizierungen einer zuvor entwickelten Theorie nachgereicht würden.

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Fazit

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Eine Arbeit, bei der in vielerlei Hinsicht weniger mehr gewesen wäre: eine knappere, auf die Fragestellung der Arbeit stärker zugespitzte Darstellung des theoretischen Teils und eine frühere Einbindung der literarischen Texte hätte nicht nur zu mehr Anschaulichkeit geführt, sondern Interdisziplinarität in ihrem besten Wortsinn als wechselseitige Befruchtung unterschiedlicher Disziplinen vorgeführt. So hingegen entsteht an manchen Stellen der Eindruck, dass der Autorin vor lauter Interdisziplinarität ihre eigene Disziplin, die Literatur, zweitrangig geworden ist.

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Das verwundert um so mehr, als die im letzten Kapitel ausgeführten Romaninterpretationen sich durchaus sehen lassen können und aufgrund ihrer differenzierten und präzisen erzähltheoretischen Analysen meist überzeugen, wenn auch die Besonderheiten der einzelnen Romane mitunter angesichts der Zielvorgabe der erzähltypologischen Einordnung etwas zu kurz kommen und man ihnen einen weniger ›klassifizierenden‹ Umgang, bei dem sie nicht einfach alle nach den gleichen zuvor entwickelten Analyserastern durchbuchstabiert werden, wünschen mag. Doch das können ja die Literaturwissenschaftler leisten, die weniger an der systematischen Erfassung von Literatur interessiert sind.

 
 

Anmerkungen

Hubert Zapf: Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen: Niemeyer 2002.   zurück