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Experimentalphilosophie als Kulturkritik

  • Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman »Der Mann ohne Eigenschaften«. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 218) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2005. 436 S. Gebunden. EUR (D) 54,00.
    ISBN: 3-8253-5056-8.
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Zum Titel

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Angesichts der Forschungsfülle zu Musils Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften ist der Titel Psychologie als Kulturdiagnose zunächst wenig attraktiv. Musil selbst kritisierte Psychologie als »finster drohende und lockende Nachbarmacht« und grenzte sich poetologisch von ihr ab. Dass eine »Kulturdiagnose« in Musils Roman vorliegt, ist selbstredend und wird schon bei oberflächlicher Lektüre des Romans offensichtlich.

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Es fragt sich, ob vom Titel Psychologie als Kulturdiagnose die Intention der Schrift zu erschließen ist, bei einer Untersuchung beider Begriffe in dieser Verbindung auf ihre theoretisch-analytische Bedeutung und ihre begriffsgeschichtliche Herkunft hin. In welchem Sinne die Autorin den Terminus ›Psychologie‹ verwendet, ist über ihr Begriffsfeld zu diesem Grundwort erschließbar. Es reicht von der »Individual-«, »Sexual-«, »Macht-«, »Kultur-« bis zur »Entlarvungspsychologie«. Durch den letzten Terminus kann Friedrich Nietzsche – ohne dass die Autorin dies methodisch als Angelpunkt ihrer Argumentation definiert – erschlossen werden. Nietzsches Werk ist in jedem Fall eine »Kulturdiagnose«, sodass der Titel eine Gleichsetzung (»Synthesen«, S.15; » Musil vermittelt Psychologie und Epochendiagnose«, S.415 f.) der Bereiche von Psychologie und Kulturdiagnose als Ausgangspunkt der Deutung anbietet. Entsprechend bezieht sich bei Neymeyr die Entlarvung auf vielfältige Weise sowohl auf das Ich hinter der soziologischen Rolle (Individualpsychologie) als auch auf die Aggression hinter dem Männlichkeitsmodell, der Politik und Ökonomie (Machtpsychologie), auf den Leib und seine Ausdrucksformen hinter dem rationalistischen Gehabe (Sexualpsychologie) sowie auf das Leben hinter der Abstraktion (Kulturpsychologie).

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Damit sind auch die Kerngedanken des ersten, dritten und vierten Kapitels benannt: des ersten Kapitels zur »Identität« (Individual- und Machtpsychologie), des dritten zum »Eros« (Sexualpsychologie) und des vierten zum »Idealismus« (Kulturpsychologie). Das in diesem Überblick herausfallende zweite Kapitel zu Nietzsche und Wagner böte dann – versteckt – den methodischen Ausgangspunkt in der Philosophie Nietzsches, die sich als »Entlarvungspsychologie« der Décadence im Wagnerianismus wie Nietzscheanismus gleichermaßen ausdrückt. Insofern geht es jedoch um Philosophie und nicht um Psychologie. Wenn heute in der Musil-Forschung von Psychologie die Rede ist, handelt es sich eher um jene Form der »Experimentalpsychologie«, die den Wissenschaftler Musil, z.B. zu Poetologemen wie »Inversion«, inspirierte, bevor er Schriftsteller wurde. Hier hätte die in der Untersuchung nur am Rande erwähnte Konturierung des Nietzscheanischen Ansatzes als »Experimentalphilosophie« (S.324, nach Friedrich Kaulbach [1980] und Volker Gerhardt [1988]) ihren Ort. In diesem Terminus gewänne auch die Kennzeichnung von »Musils Philosophie«, so die These eines Bonner Philosophen, 1 Präzisierung, die gegenüber der Kategorisierung als Experimentalpoesie den Essayismus des Musilschen Romans würdigt.

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Da Essayismus aber in einer Habilitation keinen Raum hat, ist weiter nach der argumentativen Linie der vorliegenden Arbeit zu fragen. Am einfachsten lässt sich der Zusammenhang der vier Kapitel durch ihre Beschreibung als Weiterführung wesentlicher Ansätze des Betreuers, Jochen Schmidt (S.17), erklären. 2 Auch mit dem Blick auf Veröffentlichungen der Autorin im Umkreis ihrer Habilitation lassen sich Untersuchungsperspektiven rekonstruieren; gleichzeitig bietet sich dadurch eine Inhaltsangabe:

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Krise der Identität (zu Kapitel I)

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musikalische Mysterien (zu Kapitel II)

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Idealismus-Problematik (zu Kapitel IV)

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Essay (zu Kapitel IV)

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Musils skeptischer Fortschrittsoptimismus. Zur Ambivalenz der Gesellschaftskritik in seinen Essays (zu Kapitel IV)

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Ichverlust und Ichgewinn (Kapitel I) 3

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Die Autorin akzentuiert als Neuansatz die Krise der Identität – im Detail die Beschreibung des Protagonisten Ulrich hinsichtlich des Problems der Identität, dessen Komplementarität zur Figur Arnheim und Selbstreflexion in den Kapiteln »Heimweg« und »Die Umkehrung« mit der Dialektik von Identität und Alterität. Daneben thematisiert sie die produktive Ich-Krise in Form der kathartischen Reduktion als Poetologem der Neuen Sachlichkeit in der Weimarer Zeit.

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Die Frage nach der Identität ist über den zeitgeschichtlichen Kontext hinaus stets Thema, aber oft eng gebunden an eine psychologische oder psychoanalytische Theorie, z.B. bei Lacan. Solch theorielastige Verengung wird bei Neymeyr vermieden; andererseits wäre die Subjektphilosophie Nietzsches zu berücksichtigen und in Bezug zu Ernst Mach zu stellen. Dass die Betrachtung der scheinbaren Nebenfigur Paul Arnheim als notwendiges Komplement zum Protagonisten ein Forschungsdesiderat ist, überzeugt, doch seine Entdeckung sollte unter noch stärkerem zeitgeschichtlichen Bezug auf die Quelle – Walther Rathenau und dessen Werk und Wirkung als Universalgelehrter in einer Zeit nach der Universalgelehrsamkeit - 4 geschehen. Die Schlusskapitel 122 und 123 sind als kompositorisch zentrale Höhepunkte der Selbstreflexion Ulrichs bereits oft untersucht worden und weisen auf die Notwendigkeit der Begegnung mit einem Du hin, sodass die von Neymeyr herausgestellte Sehnsucht nach dem Anderen, der Anderen als Ich-Du-Korrelation hermeneutisch und diskurstheoretisch keine Neuheit mehr sein kann.

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Ein interessanter Neuansatz kündigt sich dagegen an, wenn die Auseinandersetzung mit dem literaturgeschichtlichen Epochen-Etikett »Neue Sachlichkeit« angestoßen wird; im Kern ist bei Musil jedoch die Frage nach der Auseinandersetzung mit dem naturwissenschaftlichen Denken als Bezug auf die epochentypischen Phänomene wie Rationalitätsgläubigkeit und Fortschrittsoptimismus gemeint. Von Martin Lindner gewinnt Neymeyr das Poetologem der »kathartischen Reduktion«, 5 nach Kurt Pinthus 1929 die »sachliche Methode der Zerstörung«, der Destruktion des Tradierten mit der Konsequenz, einen absoluten Nullpunkt auszuhalten, um durch ihn hindurchzugehen. Doch was hier in eher peripheren zeitgeschichtlichen Zeugnissen angesprochen wird, basiert auf Nietzsches Nihilismus-Theorie mit den beiden dialektisch aufeinander folgenden Phasen der Destruktion bzw. Kritik und der Produktion bzw. Konstruktion. Es besteht jedoch kein Anlass, stattdessen den literaturgeschichtlichen Begriff der »Neuen Sachlichkeit« wiederzubeleben, der zu Recht außerhalb des Werkes von Erich Kästner kaum noch verwendet wird und zugunsten einer Jahrhundertwende-Krisenbeschreibung – als zugleich von Emotionalitäts- und Rationalitäts-Steigerungsprozessen – verworfen worden ist. Es reicht also nicht, bei Musil, beim Romanerzähler oder bei der Figur Ulrich Rationalität zu konstatieren, hier eine »positiv akzentuierte« Sachlichkeit gegenüber einer »pejorativen« bei Hermann Broch (S.49 und S. 319). Die zentrale ästhetische Bedeutung dieses Aspektes erweist sich bei Neymeyr erst im vierten und letzten Kapitel mit der Idealismus-Kritik, wenn in einer isolierten Einzelbeobachtung die Beschreibung Ulrichs als Ikonoklasten (S. 398) durch Philip Payne aufgegriffen wird, der das ästhetische Programm ebenso treffend wie karg formuliert: »To make space for creation, much need [!] to be destroyed.« 6

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Niedergang und Übergang (Kapitel II) 7

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Um die Décadence-Epoche zu diagnostizieren, hebt die Autorin die Verbindung und Abgrenzung von Nietzsche- und Wagner-Begeisterung heraus. Neyrmeyr weicht in diesem Kapitel in einen sehr verkürzten Psychologie-Begriff aus, indem sie sich auf Fragen der Hysterie-Forschung konzentriert. Clarisse wird als Fall – schon im Vorgriff auf den Tenor von Kapitel III – pathologisiert, was die Würdigung ihres Lebensausdrucks in Nietzsches Konzept des Dionysischen verhindert. Statt die Sprachkreativität der Figur und die des sie beschreibenden Erzählers herauszustellen, wird die Figur der Clarisse, der eine »naive Nietzsche-Manie« (S. 108) unterstellt wird, gleich zu Kapitelbeginn als wenig bedeutsam dargestellt. Das Dionysische als Kraft der Subversion, des Surrealismus und der Befreiung auf allen Ebenen weist von der Epoche der Décadence in die des Expressionismus; Clarisse wäre dann weniger epochentypische und –typisierende Trägerin der Attribute des Hysterismus, sondern expressionistische Lyrikerin avant la lettre. Zur Präzisierung des Décadence-Begriffs sind jedoch neuere Ansätze z.B. von Roger Bauer 8 und Monika Fick 9 nicht berücksichtigt worden. Dass Musil den Epochenbegriff des Expressionismus in Bezug auf sein Werk abwehrt, verdeutlicht wiederum die Rückbindung an die Jahrhundertwende und damit an Nietzsches Kunstphilosophie.

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Eros und Liebe (Kapitel III)

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Die Autorin hebt zwei neue Aspekte hervor: den Begriff »Sexualpsychologie« und die Betrachtung der Figur Agathe im kompositorischen Zusammenhang der weiblichen Figuren. Unter dem als neu eingeführten Leitbegriff der »Sexualpsychologie« werden die weiblichen Figuren im Roman besprochen. Was durch Musils Novellensammlung »Drei Frauen« schon vom Titel her nahe liegt und vor allem in der Forschung zu den beiden frühen Novellen »Vereinigungen« akribisch durchgeführt wurde, wird nunmehr, fokussiert auf das Panorama der Frauengestalten, auf den Roman angewendet, die wie in einem Todestanz die zerstörerische Energie der Libido vorführen. War in der Forschung von der »Sprache der Liebe« die Rede, so verlieren sich in Neymeyrs Darstellung solche Töne angesichts der Akzentuierung der Anomie. Diese Kritik an der bürgerlichen Moral weist eher auf Gesetzlosigkeit als auf die in Neymeyrs Kapitelüberschrift behauptete »Anarchie« im Sinne einer befreienden Regellosigkeit bzw. Befreiung durch Regellosigkeit. Die subversive Kraft verkörpert dagegen Agathe; sie wird bei Neymeyr nur im Zusammenhang der anderen Frauengestalten betrachtet. So bleibt auch hier Agathes Autonomie unentdeckt.

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Kunst und Leben (Kapitel IV) 10

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Neymeyr akzentuiert als ihre Neuansätze einerseits den Aspekt der Idealismuskritik, belegt an der Figurensprache im Roman und zeitgeschichtlich-politisch gewendet als Kritik der Ideale der Jugendbewegung, und andererseits die produktive alternative Kunst-Philosophie Sokratischer Ethik und im Sokratischen Dialog, im Essayismus und in Nietzsches Konzeption des freien Geistes.

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Die Idealismuskritik ist als eine lebensphilosophische Kritik am positivistischen Wissenschaftsglauben zentral angelegt, sollte jedoch sowohl systematisch als auch historisch noch zu präzisieren sein. Textbelege zur Kritik an »Synthese«/ »System« (S. 337), Ganzem (S. 340), »Ordnung« (S. 351), »Vereinigung« (S. 377), »Universalismus« (S. 385) sind selbstredend und Legion, müssen jedoch scharf von einer Verwendung der Begriffe »Symbol« und »Mythos« getrennt werden, die im Rahmen der Goethe-Rezeption und sehr komplex unter Bezug auf Nietzsche wie auf Ernst Cassirer, mit dem sich Musil im Tagebuch beschäftigte, zu betrachten sind. Nur Cassirer entwickelt die Dialektik von Begriff und Symbol. Die zeitgeschichtliche Bedeutung im Hinblick auf die politischen Wurzeln des Faschismus wird durch Neymeyr nur angedeutet, wäre aber noch expliziter als solche zu benennen, vor allem angesichts der Tatsache, dass Musil zu Beginn des zweiten Weltkrieges über den Beginn des ersten schreibt.

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Die vom Erzähler mit seinem Protagonisten Ulrich formulierte zentrale Frage nach dem rechten Leben zielt entweder auf die in Aristoteles’ Werk gegebene Komplementarität von Logik und Ethik in der Poetik oder auf die zeitgeschichtliche Frage Nietzsches nach dem Weg von der Kunst ins Leben als Vermittlung von Ästhetik und Ethik. Diese ist aber – wie Walter Ego in seiner Abhandlung zur Ethik Musils deutlich macht – nur als ethischer Nihilismus, als »Abschied von der Moral« zugunsten einer Restituierung einer neuen Ethik zu beschreiben. 11 Dieses Feld müsste in einer Abhandlung zur »Kulturdiagnose« als Musils Projekt der Kulturtherapie zumindest angedeutet werden, wenn es nicht das Telos heutiger Untersuchungen sein sollte, wie Sabine A. Döring in ihrer Dissertation »Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen« zeigt. 12 Wie sehr der Essayismus Musils von der Ethik motiviert ist, zeigt z.B. die Dissertation von Phillan Young in Bezug auf Musils Interesse an der fernöstlichen Ethik der Höflichkeit als Achtsamkeit. 13 Nietzsches »freier Geist« bleibt unterbestimmt und wird nicht als »wildes Denken« entfaltet. Die Beschäftigung mit der Lebensphilosophie unter Abgrenzung vom Vitalismuskonzept Gunter Martens’ und unter Einbezug der neueren Untersuchungen von Ferdinand Fellmann hätte angesichts der Dissertation der Autorin zu Schopenhauer nahe gelegen 14 . Hier steht auch immer noch die Untersuchung zu Georg Simmel, der während Musils Studium in Berlin wirkte, aus.

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Résumé

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Das Buch bietet eine Fülle von interessanten Details zu Musils Idealismuskritik, zur alternativen Kunstphilosophie der Sokratischen Ethik, zum Essayismus und zu Nietzsches Konzeption des freien Geistes. Dabei werden die von der Autorin benannten fünf innovativen Aspekte ihrer Untersuchung beleuchtet, aber es entsteht oft kein abgerundetes Bild, zumal dann nicht, wenn wichtige Nuancen oder Hinweise auf den heutigen Forschungsstand zu Musils Roman fehlen. Es ist bedauerlich, dass z.B. Roger Bauers Bezug auf Baudelaires Begriff einer »littérature décadence«, die den geistigen und politischen Niedergang transzendiert, nicht zum Tragen kommt oder der Figur Clarisse mit der Bezeichnung »naiv« schöpferisch »wilde« Entscheidungsmöglichkeiten abgesprochen werden, um nicht Agathe unerwähnt zu lassen, deren »Gefühlspsychologie« ausgeschlossen wird. Zwar unterscheidet sich Neymeyrs Untersuchung wohltuend von der in der Musil-Forschung vorherrschenden Tendenz zur Unübersichtlichkeit, aber ihr fehlt der wichtige Aspekte der Philosophie – z.B. Nietzsche – und weiterführende mit Poetologie wie Poesie verknüpfende Impulse.

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Orientierung: Forschungsdesiderate

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Von Neymeyrs Darlegungen ausgehend lassen sich zwei Untersuchungsperspektiven weiterdenken:

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1. Literatur und Naturwissenschaften.
Musil und Benn auf der Folie Nietzsches –
Epochenbeschreibung und Gattungstheorie

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Ausgehend von Monika Ficks Epochenbeschreibung in ihrer Habilitation Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende 15 sind die Begriffe »Seele« und »Sache« zu kontrastieren und damit wird der zeitgeschichtliche Sinn des Begriffs »Psycho-logie« erfassbar. Auch die von Neymeyr nur nebenher angedeutete Abgrenzung des Musilschen Romanprojektes von dem Hermann Brochs weist in diese Richtung. Das Dilemma der Romankompositionen lässt sich jedoch nur durch die Erweiterung der Gattungsfrage auf die Lyrik bzw. den Lyrismus lösen, nach dem bei Neymeyr (S. 356) als Romanquelle genannten Nietzsche-Zitat: »Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr.« 16

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Lyrik als Gattung der Moderne, zur Radikalisierung des Essayismus, des Dialogischen, wäre die Weiterführung von Friedrich Schlegels These: »Die Romane sind die sokratischen Dialoge unserer Zeit.« (S. 393) 17 Musils Verweis auf sein Gedicht Isis und Osiris als »Roman in nucleo« konnte bisher nicht als Lektürehilfe genutzt werden, weil immer wieder in die mythologische Schicht und die Mythenrezeptionsgeschichte ausgewichen wurde anstatt den »Adam und Eva«-Mythos als Hilfe zur Übersetzung des orientalischen Ursprungs der geheimen Geschichte der Geschlechterspannung zugrunde zu legen.

[30] 

Durch Einbezug des Zweiten Buches des Romans Der Mann ohne Eigenschaften – mit dem Auftreten der »vergessenen Schwester« als ›Frau ohne Eigenschaften‹ – und des jetzt auf CD-Rom zugänglichen Nachlasses zur Rekonstruktion der Endlosigkeit in der Redseligkeit kann die Frage beantwortet werden, ob die »Kulturdiagnose« als ›Befundung‹ nicht dadurch zur ›Bekundung‹ eines endlosen Redens neben dem nichtgelebten Leben wird. Es entsteht ein derartig komplexes Netz der Textverweise und –bezüge, das nur durch Computerhilfe rekonstruierbar ist und dessen Struktur als graphisch-vielfarbiges Kunstwerk auf die Lyrik in ihrer Textgenese weist, eine Lyrik, der die Aporie als Sprachzweifel und Prosakritik eingeschrieben ist.

[31] 

2. Agathe als komplementäre Antagonistin –
als »lebendige Ungenauigkeit«

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… Ein Komplementärfaktor zur mechanischen Genauigkeit, Lebens-Figuration des Weiblichen als des »undeutlich Erkannten«, aber keineswegs deshalb ›undeutlich Erkennenden‹, des weiblich Erhabenen der Frau, die es vermag, das Gedicht des Lebens zu schreiben, weil in ihr alles – scheinbar chaotisch und doch geformt – zusammenhängt wie in einem Gedicht, ein »leidenschaftliches Stückwerk« (Romanzitat nach S. 24 und S. 300).

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Der Fokus auf diese Frauenfigur bietet – unabhängig von modischem Feminismus – eine eigene Ästhetik und Erkenntnistheorie, von der her Selbstbegegnungen im Spiegelbild neu beschrieben werden müssen. Es sind nicht nur einfach »spezifisch weibliche Varianten« (S. 303), es geht nicht um »Perversion«, sondern um »Projekte«, 18 in denen die Peripherie statt des Kerns, die »Schöpferkraft« statt »unfruchtbarem Eigensinn des Gehirns« erscheint (Romanzitat nach S. 28). Insofern sollte Musils »Gefühlspsychologie« nicht – wie bei Neymeyr (S. 15) – ausgeschlossen werden.


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Jochen Schmidt

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Stellungnahme zu Maria Behres Rezension Experimentalphilosophie als Kulturkritik über:

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• Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman »Der Mann ohne Eigenschaften«. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 218) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2005. 436 S. Gebunden. EUR (D) 54,00.
ISBN: 3-8253-5056-8.

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Die Rezensentin stellt schon den Sinn des Buchtitels Psychologie als Kulturdiagnose in Frage und ersetzt ihn bereits vorher im Titel ihrer Rezension durch die – auch sachlich unzutreffende – Alternativversion Experimentalphilosophie als Kulturkritik. Hätte Behre die Einleitung des Buches gelesen, so hätte sie die Begründung für die Titelwahl zur Kenntnis nehmen können. Auch der Vorwurf, die »Gefühlspsychologie« der nachgelassenen Romanpartien sei ausgeblendet worden, wäre dann gegenstandslos: Die Formulierung »Psychologie als Kulturdiagnose« signalisiert unmissverständlich, dass Psychologie allein im Hinblick auf ihre kulturdiagnostische Relevanz Gegenstand der Arbeit ist. Andere Formen und Funktionen der Musilschen Psychologie werden bewusst nicht thematisiert, weil sie über den gewählten Rahmen hinausgehen. Überdies wurde der Sonderbereich der »Gefühlspsychologie« im Nachlass-Teil durch kompetente Analysen bereits aufgearbeitet (vor allem durch S. Doering), worauf die Verfasserin in der Einleitung nachdrücklich hinweist (S. 15 f.). Die Rezensentin hat das ebenso wenig wahrgenommen wie die Darlegungen zu Musils mehrdimensionalem Verhältnis zur Psychologie (vgl. S. 12 f.).

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Mit ihren frei erfundenen und sachlich verfehlten Überschriften (»I. Ichverlust und Ichgewinn«, »II. Niedergang und Übergang«, »III. Eros und Liebe«, »IV. Kunst und Leben«) suggeriert Behre dem Leser, es handle sich um eine Wiedergabe der Kapitelüberschriften oder doch um die Darstellungsintentionen der Autorin. Unzutreffend ist schon der Begriff »Ichgewinn«, weil er das Thema des ersten Kapitels »Die Problematik der Identität in einer Epoche ohne Eigenschaften« ins Gegenteil verkehrt. Der Titel des zweiten Kapitels »Décadence-Diagnose und Geniekult: Nietzsche contra Wagner« lässt sich durch »Niedergang und Übergang« ebenso wenig ersetzen, wie sich das Thema des dritten Kapitels »Der anarchische Eros als Symptom: Die sexualpsychologische Fundierung der Kulturkritik« durch »Eros und Liebe« auch nur annähernd adäquat wiedergeben lässt. Ganz unzutreffend ist wiederum der von Behre der Autorin untergeschobene Titel »Kunst und Leben« anstelle des von ihr formulierten Titels: »Idealismus-Kritik und essayistische Experimente« (viertes Kapitel). Das verfälschende Verfahren dieser Pseudo-Rezension zeigt sich schon darin, dass sie den Buchtitel in der von ihr gewählten Überschrift willkürlich durch einen anderen substituiert. Wie sehr die Rezensentin immer wieder ins Abwegige gerät, zeigt auch ihr Versuch, ausgerechnet aus anderen Publikationen der Autorin eine »Inhaltsangabe« zum Musil-Buch zu »rekonstruieren« (S. 2).

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Als Erstgutachter dieser Habilitationsschrift sehe ich mich veranlasst, die Behauptung zurückzuweisen, es handle sich bloß um die »Weiterführung wesentlicher Ansätze des Betreuers« (S. 2). Diese Behauptung begründet Behre vor allem mit dem Hinweis auf mein kleines Buch Ohne Eigenschaften. Eine Erläuterung zu Musils Grundbegriff, in dem ich nachgewiesen habe, dass Musils zentraler Begriff auf Meister Eckarts »âne eigenschaft« zurückgeht, in dem ich aber weiter nicht den Roman behandle, sondern die mystische Vorstellung, die diesem Begriff zugrunde liegt, an Musils Erzählung Grigia entwickle und in den Zusammenhang der zeitgenössischen Neumystik stelle. Diese Erzählung, nicht der Mann ohne Eigenschaften ist der Gegenstand meiner Interpretation. Behre scheint das sowenig zur Kenntnis genommen zu haben wie die Tatsache, dass ich damit Musils mystische Konzeption erläutere, während die Verfasserin der Habilitationsschrift ausdrücklich erklärt (S. 14 f.), sie werde sich mit der mystischen Dimension des Romans gerade nicht befassen, weil dieses Thema schon von anderen, so auch von mir, genügend abgehandelt wurde.

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Ähnlich verfehlt sind die Hinweise auf die Publikationen anderer Forscher und auf andere Forschungskomplexe. Ein Beispiel dafür ist die Berufung auf Roger Bauers Abhandlung zu Baudelaires Décadence-Vorstellung. Es sei, so Behre, »bedauerlich, daß z.B. Roger Bauers Bezug auf Baudelaires Begriff einer ›littérature décadence‹ [richtig müsste es heißen: ›littérature de décadence‹], die den geistigen und politischen Niedergang transzendiert, nicht zum Tragen kommt« (S. 5). Bekanntlich entwickelt Baudelaire die Vorstellung einer »littérature de décadence« in den ›Notes nouvelles sur Edgar Poe‹, und zwar durchgehend im Hinblick auf den ästhetischen Reiz der Décadence. Auf diesen zielt er mit der Metapher der untergehenden Sonne (»soleil agonisant«) sowie mit der Beschwörung einer in den »Traum« (»rêve«) übergehenden Absage an die Wirklichkeit. Musils Décadence-Konzept, das Neymeyr mit einer groß angelegten Analyse des Wagner-Nietzsche(= Walter-Clarisse)-Komplexes im kulturdiagnostischen Reflexionszusammenhang des Romans erstmals erschließt, entspricht gerade nicht dem von Roger Bauer behandelten Décadence-Konzept Baudelaires, weshalb es unangemessen ist, dieses hier einzuklagen. Musil färbt seine Décadence-Vorstellung nicht wie Baudelaire positiv und ästhetisch-»transzendierend« ein. Der Autor des Mannes ohne Eigenschaften weist die Sphäre der Décadence einer schon historisch überholten Phase und obendrein einer schwer pathologisch besetzten Sphäre zu: in der Konfiguration des sich in einer morbiden Wagner-Schwärmerei verlierenden Walter und der krankhaft forcierten Clarisse, die aus dem Zustand steriler Décadence mit ihrem Nietzscheanismus vergebens auszubrechen versucht.

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Nicht weniger unfundiert sind Behres Ausführungen zur angeblichen Unbrauchbarkeit des Begriffs ›Neue Sachlichkeit‹ für Musils Roman. Sie argumentiert weder historisch noch vom Roman her, wie dies das Buch von Neymeyr nicht zuletzt im Hinblick auf Musils antiidealistische Satire überzeugend tut, sondern glaubt lapidar feststellen zu können, der Begriff der ›Neuen Sachlichkeit‹ solle nicht »wiederbelebt« werden, da er »außerhalb des Werkes von Erich Kästner« kaum noch brauchbar sei (S. 3). Durch die im Jahr 2000 erschienene zweibändige Habilitationsschrift von Sabina Becker, der eine umfassende Dokumentation zugrunde liegt, hätte sie sich vom Gegenteil belehren lassen können.

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Ganz unzutreffend ist die Behauptung, die Verfasserin habe die Clarisse-Figur als »wenig bedeutsam dargestellt« (S. 5). Genau das Gegenteil ist der Fall! Sie widmet der Figur der Clarisse Ausführungen von über 100 Seiten. Die faszinierende Psychopathin Clarisse zur »expressionistischen Lyrikerin avant la lettre« zu stilisieren (S. 5) – zu einer so aparten Idee allerdings, die sich im Schlussteil der Rezension zu Spekulationen über die angeblich lyrische Anlage des Romans auswächst, – hat sich diese Habilitationsschrift glücklicherweise nicht verstiegen.

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Ebenfalls unverständlich bleibt, warum Behre das Fehlen von Nietzsche-Aspekten behauptet – in einem Buch, das in zentralen Partien die Bedeutung Nietzsches im Mann ohne Eigenschaften analysiert. Schon das Inhaltsverzeichnis enthält diese Information und thematisiert auch die von Behre angemahnte Bedeutung von Nietzsches »Experimentalphilosophie«. Ihr gilt ein eigenes Kapitel mit expliziter Überschrift!

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Gerade im Hinblick auf die Nietzsche-Imprägnierung der Clarisse-Figur lässt Behre fatale Missverständnisse erkennen. Sie wirken sich in einer ganzen Reihe ihrer Aussagen und Urteile aus und führen letztlich bis auf ihre problematische Dissertation über Hölderlins Mythokonzept Dionysos zurück. Behre huldigt einem irrationalistischen Konzept des »Dionysischen« und versucht dieses positiv auf Musil und insbesondere auf Clarisse anzuwenden. Dreierlei entgeht ihr dabei: Erstens, dass Musil zwischen Nietzsche und dem (für ihn kulturkritisch-psychologisch relevanten) Nietzscheanismus unterscheidet; zweitens, dass er an Clarisse einen krankhaft überspannten Nietzscheanismus diagnostiziert, der in den »Irrsinn« führt und gerade nicht, wie Behre glaubt, »kreative« Energien entbindet; drittens, dass Musil keineswegs das Irrational-»Dionysische« kultiviert. An der Clarisse-Figur führt er eine von ihm negativ bewertete und sogar satirisierte Nietzsche-Rezeption vor: übersteigerten Voluntarismus und sinnlosen Aktivismus. Das alles hätte Behre in dem zu den besten Musilbüchern zählenden Werk von Barbara Neymeyr gefunden – wenn sie es gelesen hätte.

Prof. Dr. Jochen Schmidt
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Deutsches Seminar II
Werthmannplatz 3
DE - 79085 Freiburg

 
 

Anmerkungen

Hans-Joachim Pieper: Musils Philosophie. Essayismus und Dichtung im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches und Machs, Würzburg: Königshausen und Neumann 2002.   zurück
Zu Kapitel I: Jochen Schmidt: Ohne Eigenschaften. Eine Erläuterung zu Musils Grundbegriff. Tübingen 1975.Zu Kapitel II: Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Poetik 1750–1945. Darmstadt 1985.Zu Kapitel III und IV: Jochen Schmidt: Wirkungsgeschichte, in: Platon, Das Trinkgelage. Oder über den Eros. Hg. Ute Schmidt-Berger, Frankfurt / M. 1985.   zurück
Barbara Neymeyr: Konstruktion des Phantastischen. Die Krise der Identität in Kafkas »Beschreibung eines Kampfes«. Heidelberg 2004.   zurück
Z.B. Wolfgang Brenner: Walther Rathenau. Deutscher und Jude. München 2005.   zurück
Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaesner, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth. Stuttgart / Weimar 1994, zit. n. Neymeyr, S. 103.   zurück
Philip Payne: Robert Musil’s »The Man without Qualities«. A Critical Study. Cambridge 1988, S. 210, zit. n. B. Neymeyr, S. 398, Anm. 718.   zurück
Barbara Neymeyr: Musikalische Mysterien. Romantische Entgrenzung und Präfiguration der Décadence in E.T.A. Hoffmanns »Rat Krespel«. E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 11 (2003), S. 73–103.   zurück
Roger Bauer. In: Euphorion Jg. 96, Heft 2, 2002.   zurück
Monika Fick: Literatur der Dekadenz in Deutschland. In: York-Gothart Mix (Hg.), Naturalismus. Fin de siecle. Expressionismus. 1890–1918. München 2000, S. 219–230.   zurück
10 
Zur Idealismus-Problematik: Barbara Neymeyr: Antikisierende Moderne – modernisierte Antike. Zur Idealismus-Problematik in Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«. In: Olaf Hildebrand / Thomas Pittrof (Hg.), »...auf klassischem Boden begeistert«. Antike-Rezeptionen in der deutschen Literatur. Freiburg 2004, S. 401–417. Zum Essay: Barbara Neymeyr: Utopie und Experiment. Zur Konzeption des Essays bei Musil und Adorno, Euphorion 94 (2000), S. 79–111. Zu Musils skeptischem Fortschrittsoptimismus: Barbara Neymeyr: Musils skeptischer Fortschrittsoptimismus. Zur Ambivalenz der Gesellschaftskritik in seinen Essays: In: Zeitschrift für deutsche Philologie 115 (1996), S. 576–607.   zurück
11 
Untertitel: Eine Rekonstruktion der Ethik Robert Musils. Freiburg i. Br. 1992.   zurück
12 
Untertitel: Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie. Paderborn 1999.   zurück
13 
Phillan Joung: Passion der Indifferenz. Essayismus und essayistisches Verfahren in Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«. Münster 1997.   zurück
14 
Barbara Neymeyr: Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik. Berlin / New York 1996.   zurück
15 
Tübingen 1993.   zurück
16 
Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner, Kritische Studienausgabe, Giorgio Colli / Mazzino Montanari (Hg.) München 1988, Bd. 6, S. 27.   zurück
17 
Friedrich Schlegel: Kritische Schriften, Hg. Wolfdietrich Rasch. München 1970, S. 7.   zurück
18 
B. Neymeyr (S. 92) fordert dies gegenüber Ruth Hassler-Rüttis Dissertation, Wirklichkeit und Wahn in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« (Bern u.ö. 1990), ein.   zurück