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Kompostierbare Küchenpräsente

Goethes und Schillers Xenien in neuer Sicht

  • Frieder von Ammon: Ungastliche Gaben. Die »Xenien« Goethes und Schillers und ihre literarische Rezeption von 1796 bis in die Gegenwart. (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 123) Tübingen: Max Niemeyer 2005. IX, 347 S. Kartoniert. EUR (D) 74,00.
    ISBN: 3-484-32123-7.
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Die unklassische Seite
der Weimarer Klassik

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Mit Aplomb, Gründlichkeit und erheblichem Sendungsbewusstsein nimmt Frieder von Ammon sich mit den von Goethe und Schiller gemeinsam für Schillers Musen-Almanach für das Jahr 1797 verfassten Xenien eines bislang von der Literaturwissenschaft entschieden ungeliebten Kindes an. Ein Grund für diese bis heute andauernde Unbeliebtheit mag sicher darin zu suchen sein, dass die Xenien in ihrer schieren Masse – die Sammelhandschrift für die Endredaktion enthielt immerhin 676 Stücke, von denen dann 414 in den Musen-Almanach aufgenommen wurden – dem Leser als eine scheinbar amorphe, in sich kaum oder doch nur schwer erschließbar strukturierte Fülle entgegentreten; ein weiterer, dass zu ihrer Lektüre ein erhebliches historisches Vorwissen erforderlich ist, das schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr selbstverständlich verfügbar war. Vor allem aber sind die Xenien, gemessen an den kanonisierten Standards der Weimarer Klassik, geradezu erschütternd unklassisch: In ihrem meist spitzen, oft persönlich verletzenden und immer von irritierend selbstgefälliger Arroganz durchzogenen Ton, in dem so manche Pointe misslingt, weil sie offenkundig statt vom Furor poeticus durch einen Furor aus erlittener oder eingebildeter Kränkung motiviert wird – oder, schlimmer, in dem manche Pointe gelingt, weil da dann der Furor poeticus in seiner Lust an der wohl formulierten Bosheit jedes Gebot der Fairness außer Acht lässt. Unklassisch aber sind die Xenien auch im Verstoß gegen das von ihren Autoren immerhin selbst gesetzte Autonomiegebot, demzufolge die klassische Literatur nur in Abgrenzung vom störanfälligen geschichtlichen Leben ihre idealschöne Reinheit erwerben und stabilisieren kann – gerade der Zugriff aber auf dieses geschichtliche Leben ist hier Inzitament und Medium der gemeinsamen literarischen Unternehmung.

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Poetik der Grenzüberschreitung

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Das Anliegen Frieder von Ammons ist es, gerade aus diesem Bruch eine »Poetik der Grenzüberschreitung« (S. 18) zu entwickeln, die die besondere literarische Qualität der Xenien rehabilitiert. Sein Buch besteht aus zwei Teilen, einmal aus dem Nachweis dieser Poetik in den Xenien selbst und zum zweiten in der Darstellung ihrer literarischen Rezeption bis in das 20. Jahrhundert hinein. Im ersten Teil weist er zunächst den gezielten und wohlüberlegten Einsatz der epigrammatischen Form des Distichons durch Goethe und Schiller nach, um sich dann ausführlich der Binnenstruktur des 1796 erschienenen Drucktextes zu widmen, und behandelt den Text dabei als einen Zyklus, der in sich als eine Gruppe kleinerer, miteinander verbundener Zyklen organisiert ist. Dabei gelangt er zu dem Ergebnis, dass die Poetik der Grenzüberschreitung sich in den Xenien auf verschiedenen Ebenen manifestiert, nämlich einmal in der von Goethe und Schiller neu in die Gattungstypologie eingeführten »Dialogisierung des Monodistichons« (S. 45), mit der die Autoren es »bewusst darauf angelegt« haben, »die Xenien einem dramatischen Text anzunähern.« (S. 77) Frieder von Ammon weist dies insbesondere an dem Eingangszyklus der Xenien nach, der »mit gutem Recht als dramatische Szene bezeichnet werden kann« (S. 78); nicht nur die Grenze zwischen epigrammatischer Lyrik und Dramatik aber werde hier überschritten, sondern immer wieder auch diejenige »zwischen zwei verschiedenen Künsten, der bildenden Kunst und der Literatur, und innerhalb derer die Grenzen des von der Tradition Vorgegebenen«, so dass sich durchaus von einem bewusst von Schiller und Goethe mit in Szene gesetzten »intermedial-intertextuellen Beziehungsgeflecht« (S. 114) sprechen lässt, steht doch die in den Xenien immer wieder auftauchende Figur der Muse in direkter solcher Beziehung zum Titelkupfer des Almanachs.

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Intertextualität als Strukturelement

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Neben diesem Beziehungsgeflecht macht Frieder von Ammon – das ist vielleicht der interessanteste Aspekt dieses ersten Teils – eine von der Figur des Odysseus aus Homers Epen in die Xenien eingespielte Reisefabel als Strukturelement des Zyklus aus. Diese Reisefabel besitzt eine doppelte Dimension, zum einen nämlich die Bewegung des Reisens selbst, über die die Xenien intertextuell sowohl mit Goethes Römischen Elegien als auch mit seinen Venezianischen Epigrammen verbunden sind, zum anderen aber die auf Martial zurückgehende Semantik der Xenien als, so die ursprüngliche Wortbedeutung, Gastgeschenke oder, wie es in einem entsprechenden Xenion Goethes und Schillers heißt, »Küchenpräsente«, mit der die Poetik der Xenien als bewusst ausgereiztes Spannungsverhältnis zwischen dieser ursprünglichen Bedeutung und ihrer Aktualisierung durch Goethe und Schiller sichtbar wird: Waren Xenien bei Martial und Homer noch Gaben gewesen, die eine gastfreundschaftliche Beziehung zu ihrem Empfänger konstituierten, so sind sie bei Goethe und Schiller das ganze Gegenteil, nicht Genuss, sondern Provokation, nicht Geschenk, sondern Waffe, darauf angelegt (um in der Metaphorik des »Küchenpräsents« zu bleiben), bei ihrem Empfänger erhebliche Verdauungsbeschwerden, wo nicht gar eine Lebensmittelvergiftung herbeizuführen.

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Selbstdomestizierung, Gegenentwürfe, Nobilitierungsversuche:
Eine Gattung konstituiert sich

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Der zweite Teil des Buchs widmet sich nun den Spuren des »epigrammatischen Agon« (S. 144), mit dem die Resultate dieser polemischen Giftmischerei sich literarisch niedergeschlagen haben. Ausgangspunkt ist zunächst das breite Feld der erbitterten Anti-Xenien, mit denen die 1796 Angegriffenen nun ihrerseits zum Gegenangriff übergegangen waren, die Perspektive verengt sich aber vergleichsweise schnell auf einzelne Personen: Auf Hölderlin, der in seiner Auseinandersetzung mit Schiller zunächst ebenfalls zum waffenartigen Typus des Xenions greift, dann aber programmatisch zum ursprünglich gastfreundlichen Typus zurückkehrt – Frieder von Ammon spricht hier sogar von einem »Gegenentwurf«, nämlich den »Spuren einer Poetik der Gastfreundschaft« (S. 188) –; auf die Selbstdomestizierung der Gattung, mit der Goethe zunächst in seiner Ballade Der Zauberlehrling die Wirkung der Xenien evaluiert und dann in seinen zahmen Xenien eine Rücknahme ihres aggressiven Impetus betrieben hat. Eine Bestandsaufnahme der Xeniendichtung zwischen Vormärz und nachrevolutionärer Restauration ergibt dann das Bild einer neuen Nobilitierung der Gattung im Zeichen ihrer politischen Aktualisierung, namentlich durch Ludwig Feuerbachs theologisch-satirische Xenien (1830), Georg Herweghs Xenien (1843) und Adolf Glasbrenners und Daniel Sanders’ Xenien der Gegenwart (1850), in deren jeweiliger »Palimpsest-Struktur« das Muster der Xenien von Goethe und Schiller als Prätext gezielt erhalten blieb, um so selbst Gegenstand polemischer Auseinandersetzung zu werden: »Primär geht es gegen die Politik der Gegenwart, sekundär gegen die Xenien der Vergangenheit.« (S. 268) Ihren Abschluss findet die Nobilitierung der Gattung dann mit Friedrich Hebbel, dessen ästhetische Wiederaufwertung des Xenions dieses zum integralen Bestandteil der literarischen Epigrammatik erklärt. – Eine weitere und letzte Gruppe von Xeniendichtern dokumentiert schließlich die Literaturgeschichte der DDR, in der das Xenion seiner subversiven Qualität wegen zum Gefäß kritischer Distanznahme zum sozialistischen Regime werden konnte, insbesondere in Johannes Bobrowskis Literarisches Klima. Ganz neue Xenien, doppelte Ausführung (1977). Dennoch, so schließt Frieder von Ammon angesichts zweier in den letzten Jahren erschienenen Lyrikanthologien, habe die Marginalisierung des Xenions durch die Kanonisierungsformationen der deutschen Literaturgeschichte noch immer kein Ende genommen.

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Eine grundlegende Studie

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Frieder von Ammons Buch dürfte wesentlich dazu beitragen, dieser Ausschlussbewegung entgegenzuwirken. Der zweigeteilten Anlage des Buchs entsprechend, kommt ihm das zweifache Verdienst zu, sowohl die Xenien Goethes und Schillers als literarischen Text ernst genommen und poetologisch aufgeschlüsselt zu haben, ohne dabei in den Fehler zu verfallen, diese literarische Qualität gegen ihren polemischen Gegenwartsbezug verteidigen zu wollen, als auch in akribischer Gründlichkeit die Wirkungsgeschichte einer Gattung geschrieben zu haben, die als Gattung bislang noch keine adäquate Würdigung erfahren hatte. Die Quellenarbeit, die in beiden Teilen die Basis seiner Argumentation bildet, ist immens und zeugt zugleich von enormem philologischem Spürsinn und schöpferischer Sensibilität im Umgang mit seinem Material, während die Argumentation selbst sich mit Leichtigkeit und Überzeugungskraft auf aktuelle literaturwissenschaftliche Theoriebildungen zu stützen vermag.

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Freilich ist nicht zu leugnen, dass das Buch auch einige wenige Schwächen aufweist, von denen sich jedoch die meisten auf das Genre der Dissertation zurückführen lassen: Die etwas brave Solidität eines Aufbaus, der sich bewusst ist, hoch komplexe Zusammenhänge darstellungshalber linearisieren zu müssen, führt zu argumentativen Redundanzen und häufigen Mehrfachzitaten; die Anverwandlung an den akademischen Qualifikationsdiskurs führt gelegentlich zu terminologischen Unverdaulichkeiten wie »Theatralizität«, »kontrafaziert« oder »Pasquillizität«, die aus der sonst bestechend klaren Diktion des Autors irritierend herausragen. Ein wenig unangenehm fällt schließlich auch auf, wie häufig Frieder von Ammon sich gehalten fühlt, auf das bisherige Versagen der Forschung an seinem Gegenstand hinzuweisen, obwohl er auch dieses, wiewohl ebenfalls durchaus für den Artikulationsakt Dissertation nicht untypische, junggermanistische Wadenbeißertum ganz und gar nicht nötig hat und sich stattdessen mit berechtigtem Selbstbewusstsein der strahlkräftigen Evidenz der von ihm hervorgebrachten Ergebnisse hätte anvertrauen können. Problematischer als diese Oberflächeneffekte sind einige normative Vorannahmen, die ihrerseits eine kritische Reflexion verdient hätten; so wäre durchaus zu fragen gewesen, ob nicht statt des Beschreibungsinstrumentes des »Zyklus’« für die Xenien dasjenige des »Ensembles«, das Karl Eibl mit sehr guten Gründen für Goethes lyrische Produktion stark gemacht hat, geeigneter gewesen wäre, um die ja eben nicht kreisförmig um einen verifizierbaren Mittelpunkt angeordneten Einzeltexte in ihrer Konfiguration zu erfassen. Endlich erregt es ein gewisses unbehagliches Bauchgrimmen, wenn immer wieder von »dem literarischen Diskurs« und »dem literarischen System« die Rede ist, ohne dass die Konstitutionskriterien für diesen Diskurs beziehungsweise dieses System offen gelegt würden – obwohl doch gerade die Xenien selbst diese Kriterien immer wieder thematisieren.

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Fazit

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Es sei hier aber nachdrücklich betont, dass diese kritischen Einwände das Verdienst des Buchs kaum und ganz sicher nicht entscheidend schmälern. Was hier vorliegt, ist eine reife Forschungsleistung, sauber durchgeführt und gut geschrieben, der die immer wieder deutlich spürbare Leidenschaft Frieder von Ammons für die ungeliebten »Küchenpräsente«, mit denen die beiden Ikonen der Weimarer Klassik in ihrem eigenen Vorgarten so viel Staub aufgewirbelt haben, dass er der Forschung noch heute den Blick vernebelt, den unwiderstehlichen Charme wissenschaftlicher Integrität verleiht. Zutiefst überzeugt davon, dass dieses Buch die literarische nun auch als wissenschaftliche Keimfähigkeit der Xenien mit einem Nachdruck dokumentiert hat, der es in der unübersichtlich wuchernden Flora der Goethe-Forschung als eigenständige Blüte sichtbar halten wird, erlaubt sich die Rezensentin daher, dem Buch in ehrlicher Hommage an seine Inspirationskraft zum Schluss im Namen der Xenien ein eigenes »Küchenpräsent« zuzueignen:

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Mögen wir gleich nicht genießbar sein, als düngender Kompost
Bringt unser Gestank doch bis heut reiche Ernte hervor.