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Selbstproduktion des sinnlichen Menschen

  • Jutta Müller-Tamm: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne. (Rombach Litterae 124) Freiburg: Rombach 2004. 419 S. Broschiert. EUR (D) 52,00.
    ISBN: 3-7930-9393-X.
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Genealogie eines
modernen master trope

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Wie prägend naturwissenschaftliche Denk- und Beschreibungsmodelle des 19. Jahrhunderts für die Formierung der ästhetischen Moderne(n) um und nach 1900 waren – dafür liefert Jutta Müller-Tamm mit ihrer Habilitationsschrift Abstraktion als Einfühlung einen neuen, detailliert durchgeführten Beweis. Dieser setzt dabei nicht auf der Größenebene diskreter Theorien oder isolierbarer ›Einflüsse‹, sondern gleichsam tiefer: bei einer tropologischen Struktur an, die außerästhetische Wissens- und literarische Ausdrucksformen miteinander verkettet. Als »Denkfigur der Projektion« tritt sie erstmals, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, im Kontext sinnesphysiologischer Studien auf, um von dort über das kulturhistorische Wissen der zweiten Jahrhunderthälfte bis in die Prosaexperimente des Expressionismus einzuwandern.

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Auf vierhundert dicht argumentierten Seiten zeichnet Müller-Tamm diesen Weg mit geradezu detektivischem Gespür nach; sie entdeckt und verknüpft die Spuren, die der master trope der Projektion bei der Durchquerung verschiedener Wissensgebiete – »unter Einschluß der Literatur« (S. 14) – hinterlassen hat. Das Interesse der Studie gilt somit, wie auch der Begriff der »Denkfigur« zu verstehen gibt, zumal den Schnittstellen von rhetorischen Operationen und epistemologischen Strukturen; dabei wird das analytische framework durch Anleihen bei Metaphorologie und Diskursanalyse abgesteckt.

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Indes verfährt die Untersuchung keineswegs etwa auf strenge Weise nach Foucault. Leitend ist vielmehr das Bemühen um einen methodischen Zuschnitt, der die Fokussierung von »Denk-, Wissens- und Sagbarkeitszusammenhängen« (S. 14) mit detaillierteren Textlektüren flexibel zu verschalten erlaubt. Ein Verfahren, das nicht immer frei von Spannungen ist, in seinen Resultaten jedoch weithin zu überzeugen vermag. So ist hier eine zugleich philologisch und kulturwissenschaftlich informierte Arbeit entstanden, die ein bis dato unerschlossenes Feld von Aussagen und Aussageformen – ein ›Forschungsstand‹ zum Thema etwa wird durch das vorliegende Buch allererst definiert – in seiner Genealogie umfassend und präzise ergründet.

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Expressionismus
und Physiologie

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Den Einstieg in ihre genealogische Rekonstruktion legt Müller-Tamm durch einen Text, der den Weg der betrachteten Denkfigur gleichsam in verdichteter Form dokumentiert. So zieht Hermann Bahrs Expressionismus-Essay (1916) einerseits die ästhetische Summe, markiert daher bereits einen Endpunkt im »Projektionsdiskurs« (S. 16), weist zugleich jedoch auf dessen wissenschaftliche Ursprünge, auf die sinnesphysiologischen Schriften Goethes, Purkinjes und Johannes Müllers zurück. Diese Verbindungen schlüsselt die Studie im Rahmen einer ersten, konzentrierten Analyse auf und führt dabei exemplarisch vor, in welchem Maße die Rhetorik der subjektiven Ex-pression und Entäußerung – kennzeichnend vor allem für die 1910er Jahre – als Fort- und Umschreibung eines zunächst außerästhetischen Wissens vom Menschen aufgefasst werden kann und muss.

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Der zweite, umfangreichste Teil der Untersuchung setzt umgekehrt an den historischen Anfängen, bei den wissenschaftlichen Entstehungsgründen der Projektions-Figur an. Er beschreibt zunächst die ›transzendentale Wende‹ in der Sinnesphysiologie des frühen 19. Jahrhunderts, die zur Subjektivierung der Sinne und zur Semiotisierung der Wahrnehmung führt. Indem fortan nicht eine externe Reizquelle, sondern die Eigenaktivität der Sinnesorgane als strukturierende Kraft, als form- und maßgebende Leistung im Wahrnehmungsprozess begriffen wird, öffnet sich zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ eine Kluft.

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Schon Jonathan Crary hat diese radikale Entkopplung in einem Teil seiner wegweisenden Studie Techniques of the Observer (1990) rekonstruiert, 1 im Anschluss daran analysiert Jutta Müller-Tamm nun eine Epistemologie, die dem Bemühen entspringt, den entstandenen Bruch nachträglich (wieder) zu überbrücken. Denn mit der Kluft zwischen dem Innen und Außen der Sinnlichkeit ist auch der historisch-systematische Einsatzort der Projektionsfigur benannt. Gerade die »neurologische Abschließung des Körpers« (S. 109) erfordert es im Weiteren, wie Müller-Tamm demonstrieren kann, einen psycho-physischen »Mechanismus« anzunehmen, der die somatisch bedingten Empfindungen »aus dem Körperinneren nach außen versetzt« (S. 99).

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Deutlich wird somit, dass die Rede von Projektion ihren Ursprung in einem Erklärungsdruck hat, der selbst bereits ein Effekt der neuen physiologischen Wissensordnung ist: Erst mit der wissenschaftlich-experimentell induzierten Spaltung von Sinnen und Welt – zugleich einer Art empirischer ›Verifikation‹ der Kantischen Philosophie – kommt die Frage auf, wie sich neuronale Reizmuster zu (außen)welthaltigen Wahrnehmungen formieren und auf (scheinbar) ›objektive‹ Sachverhalte beziehen können.

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Diese Problemlage und ihre verschiedenen Lösungen zeichnet Müller-Tamm anhand der physiologischen Optik nach – mit gutem Recht, stellte diese doch seinerzeit, von Müller über Helmholtz bis hin zu Wundt, zweifelsohne das prominenteste Forschungsfeld dar. Dass die Figur der Projektion im 19. Jahrhundert auch anderen Sinnesgebieten – so etwa der Operationslogik des Taktilen 2 – eingetragen wurde, wird dadurch indes nicht in Rechnung gestellt. Gerade in Voraussicht auf den multi- beziehungsweise synästhetischen Charakter, der den Projektionskonzepten des Expressionismus – Gegenstand des dritten und abschließenden Teils der Arbeit – eigen ist, wäre hier bisweilen eine Weitung der Perspektive denkbar gewesen.

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Übertragungen

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In ihrer Funktion als Bindeglied steht die Figur der Projektion, wie Müller-Tamm zu zeigen vermag, nicht allein für eine Psychologisierung der Wahrnehmungstheorie, sondern ebenso für deren Metaphorisierung ein. Insoweit sie benennt, was sie leistet – und umgekehrt leistet, was sie benennt – ist sie eine Figur im eminent rhetorischen Sinne, eine in sich verdoppelte beziehungsweise »selbstreferentielle« (S. 12) Metapher. Eine Metapher nämlich, die einen Akt der Übertragung, der Verkopplung zweier Sphären selbst zum Gegenstand hat. Nicht zuletzt dies prädestiniert sie dazu, in der Folgezeit auch in andere Wissensfelder übertragen zu werden – was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschieht.

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Nun werden zunehmend nicht nur die natürlichen Sinnesfunktionen, sondern vor allem die Kulturleistungen des Menschen – seine ›Selbstproduktion‹ in den symbolischen Formen von Technik, Religion und Sprache etwa – nach dem Modell einer Entäußerung, einer objektivierenden Verlegung von ›Innen‹ nach ›Außen‹ begriffen. Müller-Tamm zeichnet diesen Übergang von der Physiologie zur Kulturtheorie anhand einer großen Fülle von Material nach: das Spektrum reicht hier von der Technikphilosophie Ernst Kapps über die Schriften Feuerbachs und Nietzsches bis hin zur Psychoanalyse und den Einfühlungstheorien (Vischer, Volkelt, Lipps) des späten 19. Jahrhunderts.

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Die Wörtlichkeit der Projektion

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Welche Aufschlüsse zu gewinnen sind, indem man all diese Projekte an eine Epistemologie der Projektion zurück bindet, sei hier nur exemplarisch anhand der Ausführungen zu Nietzsche (vgl. S. 177 ff.) angedeutet. So erweist sich dessen Sprachkritik, vor dem Hintergrund der psycho-physischen Übertragungsmodelle betrachtet, als eine Art (kritischer) Explikation der Projektions-Figur. Nietzsche nämlich übersetzt den Begriff der Projektion gleichsam in den der Metapher zurück, um von dort aus gegen eine Wahrheitstheorie der Sprache zu polemisieren. Gerade die diskurshistorische Rahmung macht es somit möglich, in dieser Wendung eine wiederum genuin rhetorische Operation zu erkennen; sie erlaubt es, das sprachkritische Denken als »Verwörtlichung« eines Problembewusstseins zu verstehen, das seinen Ursprung in einer Physiologisierung der Wahrnehmung hat.

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Als »Verwörtlichung« in anderem Sinne schließlich beschreibt Müller-Tamm – nach einem Kapitel über Georg Simmel und Wilhelm Worringer, das die Verbindung von der Kulturtheorie um 1900 zur Ästhetik des Expressionismus schlägt – die Fort-Schreibung des »Projektionsdiskurses« bei Carl Einstein, Robert Müller und Salomo Friedlaender / Mynona. Die entscheidende Wendung, die sich mit ihren Schriften in der Karriere der Projektionsfigur vollzieht, wird dabei im Begriff einer sprachlichen »Positivierung« (S. 362) gefasst.

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Beglaubigt wird die Realität der Projektion, so die These, nun nicht mehr durch die theoretische Erklärungskraft des Konzepts, sondern – performativ – durch die »Faktizität« (S. 310) der literarischen Rede selbst. Wie die Studie anhand von Texten wie Müllers Tropen (1915) und Mynonas Die Bank der Spötter (1919) darlegt, sind die expressionistischen Prosaexperimente als Produkte beziehungsweise Prozesse eines andauernden Selbst-Entwurfs inszeniert, der sich bereits (und nur mehr) in der sprachlichen »Tatsächlichkeit« (S. 395) ihres jeweiligen Textes erfüllt. Die Rede über die sinnliche und kulturelle Entäußerung des Menschen mündet – und verschwindet – dabei in die »Wortwörtlichkeit« (S. 386) der Literatur; die Projektion wandelt sich von einer Beschreibungsfigur zu einem selbstreflexiv strukturierten Schreibprinzip.

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Arbeit am Begriff
der »frühen Moderne«

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Der programmatische Gestus des expressionistischen Schreibens – die Selbst-Setzung des »neuen Menschen« in der Literatur – wird somit auf einem bislang kaum beleuchteten Hintergrund neu lesbar; und die sperrigen und oftmals skurril wirkenden Experimente der diskutierten Autoren – von Müllers »Denkroman« bis hin zu Mynonas techno-utopischen Grotesken – erweisen sich als ästhetische Ausläufer einer epistemologischen Konstellation, deren Wurzeln bis weit vor den Beginn der literarischen Moderne zurück reichen.

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Mit der sorgfältigen Aufarbeitung dieser Zusammenhänge betreibt Müller-Tamms Studie daher auch Arbeit am Begriff der »frühen Moderne« selbst. Dass diese sich deutlich umfassender aus dem 19. Jahrhundert speist als dies etwa die offizielle Rhetorik der ästhetischen Brüche und Neuanfänge nach 1900 suggeriert – diese wichtige Differenzierung im Bild des Expressionismus erhält mit der Rekonstruktion des »Projektionsdiskurses« ein neues wissens- und kulturgeschichtliches Fundament.

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Undeutlich in Abstraktion als Einfühlung bleibt indes, weshalb sich die vorgenommene Neu-Situierung ausschließlich auf Prosatexte bezieht, die expressionistische Lyrik hingegen völlig ausgeblendet wird und überdies kein Wort zu dieser Entscheidung fällt. Eine Klärung der Frage, ob nicht auch Strategien des lyrischen Sprechens / Schreibens auf das Paradigma der Projektion zu beziehen wären – oder wie sich gegebenenfalls eine besondere Affinität von Projektion und Prosaform(en) im Expressionismus erklären ließe –, hätte hier zur weiteren Präzisierung des literaturhistorischen Befundes beitragen können.

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Eine Frage der Medialität

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Wenn der Verdienst der Studie vor allem in einer umfassenden Kontextualisierung liegt, die neues Licht auf einige – buchstäbliche – ›Projekte‹ der literarischen Moderne wirft, so bleibt doch eine Dimension dieser kulturgeschichtlichen Einbindung weitgehend im Dunkeln. Was zu Anfang ausdrücklich ausgeklammert und später nur punktuell berührt wird, ist die Frage nach der Entwicklung und Bedeutung technologischer Formen der Projektion. In welcher Weise das Reden (und Schreiben) von Projektion in die Geschichte ihrer apparativen Realisierung – namentlich in Gestalt des Kinematographen – eingelassen ist, hat Jutta Müller-Tamm nicht zu ergründen versucht.

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In der Entscheidung, das Verhältnis von diskursiven Regeln und technischen Apparaten nicht in die Untersuchung einzubeziehen, steckt dabei mehr als nur der erklärte Verzicht auf Vollständigkeit (S. 10), denn die vorgenommene Grenzziehung ist in der Sache keineswegs neutral. Vielmehr läuft sie letztlich auf eine (implizite) These hinaus: dass sich die »Einsicht in die Medialität [...] der Wahrnehmung« (S. 187) unabhängig von deren technischen Re-Formierungen vollziehen und beschreiben lässt. Und in der Tat wirken die (wenigen) Referenzen zum Film, die sich das Buch erlaubt, eher wie dekoratives Beiwerk, ja kommen technologische Varianten der Projektion lediglich als späte, nachträgliche Umsetzungen eines ihnen vor-gängigen Wahrnehmungsmodells in den Blick (vgl. S. 344).

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Zumal bei Autoren des Kinozeitalters wie Robert Müller und Mynona, aber auch bei einem Sinnesphysiologen wie Helmholtz, der unter dem Eindruck des Stereoskops theoretisierte, 3 finden sich indes Indizien, die eine andere Lesart nahe legen. Gerade anhand ihrer Schriften wäre umgekehrt zu verfolgen, wie Modellierungen von psycho-physischer Aktivität auch der formativen Kraft bestimmter technischer Standards unterliegen. Eine nähere Klärung dieses Zusammenhangs – der Entstehung von ›Medialität‹ im reziproken Zusammenspiel von Apparat und Rede 4 – bliebe somit in künftigen Studien zum »Projektionsdiskurs« noch einmal eigens zu leisten.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Jonathan Crary: Subjective Vision and the Separation of the Senses. In: J.C.: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the 19th Century. Cambridge/Mass.: MIT Press 1992, S. 67–96.   zurück
Als Beispiele dafür ließen sich nennen: Ernst Heinrich Weber: Tastsinn und Gemeingefühl (1846). Hg. von Ewald Hering. Leipzig: Engelmann 1905 (=Nachdruck). Sowie: Rudolf Hermann Lotze: Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie. Zweiter Band. Leipzig: Hirzel 41885.   zurück
Vgl. jüngst Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie. München: Fink 2006, S. 72–85.   zurück
Vgl. dazu Albert Kümmel / Petra Löffler: Nachwort. In: A.K. / P.L. (Hg.): Medientheorie 1888–1933. Texte und Kommentare. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 559.   zurück