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»Ja, wenn es nur Verleger gäbe!«

H.G. Adler erinnert sich an Franz Baermann Steiner

  • H.G. Adler: Über Franz Baermann Steiner. Brief an Chaim Rabin. Hg. von Jeremy Adler und Carol Tully. (Göttinger Sudelblätter) Göttingen: Wallstein 2006. 80 S. Broschiert. EUR (D) 14,00.
    ISBN: 3-8353-0028-8.
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Eine verhinderte Berühmtheit

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Mitte März 1953 bat Chaim Rabin, Dozent in Oxford und später Professor für Hebräisch und Semitische Sprachen in Jerusalem, den Londoner Schriftsteller und Soziologen, ihm »eine kurze Anzahl von Einzelheiten über Franz’ Leben mitzuteilen, die Herrn Professor Bergmann als Basis für einen Gedenkartikel in der Palästinensischen Presse dienen können.« 1 Aus dieser kleinen Anfrage, deren Zweck sich nicht erfüllen sollte, resultiert der erste umfangreichere Essay zu Leben und Werk des jüdischen Dichters und Oxforder Anthropologen Franz Baermann Steiner, dessen Wiederentdeckung in Deutschland seit der Jahrtausendwende vor allem auf das Konto von Jeremy Adler, Sohn H.G. Adlers und Emeritus am King’s College London, geht. Bei Professor Bergmann, soviel sei erwähnt, handelt es sich um keinen Geringeren als um Kafkas Schulbankkameraden Hugo Bergmann (1883–1975), einer der ersten Beförderer einer jüdischen Renaissance aus dem Geist des Ostens, der an der Hebrew University Philosophie lehrte.

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Im März 1953 war Franz Baermann Steiner bereits ein halbes Jahr tot. Begraben auf dem Oxforder Friedhof war dieser aus Prag stammende Intellektuelle eine relative Berühmtheit unter den angehenden Berühmten; er, von dem gedruckt wenig mehr vorlag als ein paar Gedichte in deutschen Zeitschriften (u.a. in der Neuen Literarischen Welt, dem Merkur, Sinn und Form) sowie einige wissenschaftliche Aufsätze, wäre um Haaresbreite durch Adorno kanonisiert worden, 2 hatte – in Rudolf Hartung – den gleichen Lektor wie Elias Canetti und später Jean Amery, fand nur bedauerlicherweise keinen wirtschaftlich gesunden Verlag. Das frühe, durch eine chronische Herzerkrankung hervorgerufene Ableben im Alter von gerade einmal 43 Jahren trug sein Übriges bei. In England hatte Steiner seit 1936 mit einer größeren Unterbrechung gelebt; dort hatte sich auch die Freundschaft mit H.G. Adler, der Theresienstadt und Auschwitz überlebt hatte, nach dessen Emigration 1947 physisch erneuert. Im Gegensatz zu Steiner, dessen Unfähigkeit zu kontinuierlicher Selbstvermarktung der Brief an Chaim Rabin ebenso hervorhebt, wie sie aus anderen Dokumenten ersichtlich wird, 3 scheint Adler weitaus lebenstüchtiger gewesen zu sein: trotz der Ermordung seiner Familie, einschließlich seiner Ehefrau, in deutschen KZs, arbeitete Adler nach der Befreiung unter widrigen Umständen im Prager Museum, heiratete erneut, erledigte Amtsgänge für den Freund jenseits des Ärmelkanals, schrieb unablässig in allen möglichen Gattungen (Philosophisches, Musiktheoretisches, Soziologisches, Gedichte) und spürte Verleger und Rundfunkredakteure noch in den entlegensten Winkeln auf – ein Umtriebiger, aber kein Rastloser. Zwei Jahre nach Kriegsende zog er nach London, wo er bis zu seinem Tod 1988 lebte. Wie Steiner, allerdings nicht in gleicher Intensität, war auch er ein Freund Elias Canettis. 4

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Prager Kreise

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Das Anliegen des Briefes ließe sich dahingehend zusammenfassen, dass zugleich über Steiners Bedeutung und seinen unzureichenden Erfolg aufgeklärt werden sollte. Dabei darf zwar die relative Bekanntheit Rabins mit Steiner vorausgesetzt werden; allerdings hat Adler dessen Wissensstand vermutlich sehr schwer einschätzen können – am Auseinanderhalten seiner sozialen Bezugsgrößen war Steiner überaus gelegen, wie auch Adler feststellt. Erfolglosigkeit, soviel sei vorweggenommen, gilt allerdings nicht bloß hinsichtlich Steiners Suche nach literarischer Anerkennung; in besonderem Maße trifft sie ihn – natürlich aus der Sicht Adlers – als ›Privatmann‹. Dabei wird deutlich, dass die Voraussetzungen von Steiners ›geistigem Rang‹ die Kategorie des Erfolges zu füllen verhindert hat.

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Der erste Teil des gut sechzig Seiten umfassenden Textes erinnert die gemeinsam verbrachten Jugendjahre; Steiner, geboren am 12. Dezember 1909, war nur wenig älter als H.G. Adler und wie dieser im damaligen Prager Vorort Karolinenthal zuhause, bevor die Familie im Zuge eines relativen wirtschaftlichen Aufstiegs den obersten Stock des Susitzky-Palais bezog, von wo sich heute ein schöner Blick auf den restaurierten Hradschin auftut. Die Erinnerungen reflektieren die Unbeschwertheit einer im Kreis der assimilierten deutschsprachigen Juden zugebrachten Kindheit – die Schulzeit im deutschen Staatsgymnasium, die damals reformpädagogisch reüssierende Wandervogelbewegung –, an die sich die Opposition gegen die ›Alten‹ im Sinne eines internationalistischen Kommunismus anschloss. 1918 hatte sich das ehemals Habsburger Hoheitsgebiet zur Republik erklärt, mit Tomas Masaryk als dem Prototypus des gerechten und gebildeten Präsidenten (wodurch die monarchische Vergangenheit in gewissermaßen ›idealischer‹ Weise fortlebte); die Stellung der Deutschsprachigen wurde damit zwar schwieriger, aber nicht prekär.

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Juden und Deutsche wurden in Prag lange als eine Einheit begriffen, auch daran erinnert H.G. Adler, und erst mit der 1920 eröffneten Möglichkeit, unter ›Nationalität‹ auch ›jüdisch‹ anzugeben, offenbarte sich in größerem Umfang die Realität einer seit dem frühen 20. Jahrhundert eingeläuteten Absetzbewegung. Dass Nationalitätenkonflikte dennoch auf sich warten ließen, sich die jeweiligen Gruppen und Generationen vielmehr im Hinblick auf ihre sozialpolitischen Präferenzen ausdifferenzierten, legt Adler nahe, wenn er zugibt: »[...] aber was die Geister im Reiche bewegte, auch die Judenschaft Deutschlands, langte in Prag gewöhnlich 20 bis 30 Jahre später ein, wo es den altösterreichischen und böhmischen Bedingungen entsprechend abgeändert, oft auch geschwächt wurde.« Im Hause Steiners wurde »ausschließlich Deutsch gesprochen (nur die Dienstmädchen waren immer Tschechinnen)«: eine Feststellung, die sich in der gerade von den jüdischen Prager Literaten gezogenen (ästhetischen) Option für die Unterdrückten auswirkte. 5

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Steiners Hang zur Natur, zum unentfremdeten einfachen Leben, wie H.G. Adler nahe legt, sein Interesse an progressiven sozialen Formen koinzidierten mit dem Eintritt in den Roten Studentenbund, eine trotzkistische, mithin von der Notwendigkeit permanenter Revolution überzeugte Gruppe. Steiner studierte inzwischen an der Deutschen Universität Vergleichende Sprachwissenschaften, besuchte zugleich tschechische Vorlesungen und suchte darüber hinaus nach einer Verbindung von sozialrevolutionärem und mystischem Gedankengut. Diese auf den ersten Blick paradox anmutende Kombination vermag H.G. Adler nicht zu erklären; und in der Tat muss man sich fragen, ob sie dem Fluidum Prags geschuldet war oder vielleicht eher dem implizit jeder marxistischen Theorie zugrundeliegenden Monismus. Sie entsprang, zu diesem Zeitpunkt jedenfalls, noch nicht der Hinwendung zum eigenen Judentum, die sich als »zionistische Wende« erst vor dem Hintergrund des Palästinaaufenthalts von 1930/31 einstellen sollte.

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Hier kann Adler leider nicht aus eigener Anschauung berichten, aber der Niederschlag in Dichten und Denken ist zu manifest, als dass man ihn nicht als ›Bekehrungserlebnis‹ verstehen wollte: »Siehe, da nahm ich früchte und aß sie,/ Da blickte ich um mich, siehe, und fragte nicht.« heißt es im vom Autor selbst an die erste Stelle seiner Sammlung Frühe Blätter und Fahrten gesetzten Gedicht Meine Wiederkehr und keine Fragen.

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Der Palästinaaufenthalt, bei dem es zunächst um die Vertiefung der arabischen Sprachkenntnisse für das Prager Studium gehen sollte, erschließt sich als Initiation in einen nicht vom Menschen zu verwirklichenden Utopiebegriff, der als Versprechen jedoch die ›linken‹ Errungenschaften – Kibbuzim, Demokratie – umgreift und ihnen einen Horizont öffnet. Diesen Zusammenhang von sozialistischer und religiöser Emphase gestaltet Adler zugegeben wenig aus; stärker führt er Steiners von nun an dominanten Pan-Orientalismus ins Feld. »Er kam als begeisterter Jude und Zionist, und auch, was zumindest so wichtig ist, als überzeugter Orientale [zurück].« 6 Ebenso heißt es: »In seiner Anschauung des Asiatischen, des Orientalischen, des Kollektiv-Sozialen [...] bewegte sich auch seine Ansicht vom Judentum und vom jüdischen Volk, seine eigene Stellung als durch Abstammung und Religion Angehöriger dieses Volkes [...].« 7 Die Implikationen dieses ›Orientalismus‹ 8 sind bei Steiner durchweg positiv, sie umfassen eine nicht-gewinnorientierte Ökonomie ebenso wie den Anti-Kolonialismus, was er in seinem Aufsatz Orientpolitik (1936) sowie in einem Brief an Mahatma Gandhi (1946) betonen wird.

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Mit dem Palästinaaufenthalt, weitgehend im Hause Bergmann verbracht, gewinnt ein gewissermaßen religionspolitisches Projekt an Kontur, das Steiner auf den Weg eines um die Konzepte europäischen nation-buildings bereinigten Zionismus führt. 9 In Adlers Erinnerung steht dazu nicht allzu viel; indes fällt ihm die Differenz zwischen Steiners Überzeugung und seiner tatsächlichen zionistischen Arbeit auf, die sich durchweg auf Vermittlung und gelegentliche Reporte beschränkte. Auch der Umstand, dass Steiner nach 1931 niemals ins Heilige Land zurückkehren sollte – was neben gesundheitlichen und finanziellen auch politische Gründe hatte; Steiners Vorstellungen eines Israelischen Staates wurden von den Parteien im Nahen Osten nie realisiert – legt eine Ambivalenz nahe, die mit der Ausbildung des eigenen Judentums einhergegangen sein muss.

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»A writer’s writer«

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Einen interessanten Einblick in das Prager Literatenleben bietet Adler in seinen Erinnerungen an die Jahre zwischen 1931 und 1937. Den Anfang von Steiners »Interesse für künstlerische Dinge« 10 datiert er auf 1928; im Hintergrund der Entwicklung beider Autoren leuchteten Kafka, Rilke und der heute so gut wie vergessene Albert Mombert, der mit dem tschechischen Lyriker und Mystiker Emanuel Lesehrad (1877–1955) befreundet war, dessen Planeten – ein Zyklus im raumgreiferischen Gestus der spiritistischen Moderne – Steiner 1935, wohl als Freundschaftsdienst, übersetzte (übrigens die einzige Buchpublikation zu Lebzeiten). 11 Die Verbindung zur Generation Kafkas wurde über die Söhne Paul Leppins und Hugo Salus’ gehalten, hinzu kamen »der wehleidig sentimentale Wiener Lyriker [und spätere Germanist] Heinz Politzer« sowie Fritz Baum, »eine vielleicht nur in Prag denkbare Figur [...], der in Kursen und Vorträgen den bildungshungrigen Frauen und Töchtern des jüdischen Mittelstandes Dichtung, Philosophie, gut jüdisch-zionistisches Bewusstsein und eine nicht ganz aufrichtige Humanität beibringen wollte.« 12 Steiner und seine Freunde verstanden sich jedoch nicht als Adepten der Altvorderen, auf Max Brod und Franz Werfel waren sie nicht gut zu sprechen, gleiches galt für die Protektionswirtschaft der Prager Presse.

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Als Steiner 1937 zum Studium nach Wien ging – er hatte nunmehr zur Ethnologie gewechselt und lernte die Kulturkreislehre Pater Schmidts kennen – begegnete ihm dort in Elias Canetti ein literarischer und menschlicher »Vulkan«, der in den verbleibenden fünfzehn Jahren sowohl Ausbrüche als auch Beschwichtigungsversuche anregte. Das Verhältnis beider intensivierte sich nach 1938, als Steiner zunächst zum Studium bei Malinowski, dem Vater des Funktionalismus in der Anthropologie, nach Oxford aufgebrochen war, allerdings seit dem Münchner Abkommen im September als Flüchtling gelten musste. H.G. Adler charakterisiert es wie folgt:

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Vielleicht ist nach den Eltern für Franz kein Mensch so bedeutungsvoll geworden wie Canetti, der in seiner explosiven, sich unendlich verschenkenden Vitalität wie ein erfrischender Born auf den so ganz andersartigen Franz einwirkte. [...] Wo Canetti hinkam, herrschte ein alles entzündendes Feuer, während Franzens größter menschlicher Wert in der Stille, im kontemplativen Beharren lag [...]. 13
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Gegenseitige Inspiration ist dann wenig unwahrscheinlich; und tatsächlich kann man – worauf Adler wegen der Stoßrichtung seines Textes nicht en detail einzugehen braucht – Spuren Canettis bei Steiner (insbesondere in der noch der deutschen Veröffentlichung harrenden Sammlung Feststellungen und Versuche) und umgekehrt wahrnehmen (Masse und Macht profitiert sehr deutlich von Steiners Überlegungen zur Soziologie der Sklaverei; die 1942 als Dissertation in Sozialanthropologie weitgehend abgeschlossene Studie ging allerdings auf einer Zugfahrt verloren, so dass ihr Autor weitere sieben Jahre auf ihre mühselige Rekonstruktion zu verwenden hatte).

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Die Entwicklung des Freundes zwischen Kriegsbeginn und dem Jahr 1947 vermag Adler nur aus ›zweiter Hand‹ darzustellen, entsprechend unscharf sind die Anmerkungen zu Steiners Weg als Sozialanthropologe und Wissenschaftstheoretiker. Während dieser Zeit überstand Adler deutsche Vernichtungs- und Konzentrationslager, auch durch eine spezielle dissoziative Methode: der Arbeit an einer soziologischen Beschreibung von Theresienstadt. Im Juni 1945 muss er dem Freund von der Ermordung der Eltern Bericht geben; Steiner wird diesen Schock – auch in Briefen – kaum thematisieren, aber die Notwendigkeit von Verwinden und gleichermaßen andenkendem Bestehen kennzeichnet einige der wichtigsten Gedichte. 14

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H.G. Adler misst denn auch Steiners lyrischem Werk die höchste Bedeutung bei, es gilt ihm als Leuchtstern in sittlicher und ästhetischer Hinsicht. Erschöpfend weiß er über die Anfänge Auskunft zu geben, über Steiners Studium der Weltliteratur (was sich von Beginn an auch auf östliche Philosophie und Religion erstreckte), das Interesse an englischsprachiger (weniger genuin angelsächsischer) Poesie; er rekapituliert das eigenwillig anverwandte Bildungsgut, derenthalben Steiners Lyrik schon Zeitgenossen als ›gelehrte Dichtung‹ vorkam, die teilweise schwierig zu entschlüsseln sei. 15 »Das Unmittelbare trachtete er zu verhüllen, und so muss es der Leser erschließen.« 16 Dadurch stünde Steiner in einer bis zur Romantisierung des Dichters im 19. Jh. reichenden Tradition, die ihn eigentlich – und diese Konsequenz deutet Adler nur an – der romanischen oder englischen Literatur näher bringt als der deutschsprachigen. 17

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Adler liefert einen wichtigen Einblick in die ›Werkstatt‹ des Freundes: »Er beginnt auch fast immer die Ausarbeitung seiner Gedichte mit einem oder mehreren Details, die oft schon Jahre zuvor notierte Keimzellen darstellen, um die herum das Gedicht, mit neuen Details vereint, angesetzt und langsam ausgefüllt wird.« 18 Die große lyrische Form, den epischen Entwurf, habe Steiner für unmöglich gehalten (und stand dabei ›großformatigen‹ Dichtern doch nahe: T.S. Eliot etwa, den er auch übersetzte), auch sein Hauptwerk – die von ihrem Verfasser als »metaphysische Autobiografie« bezeichneten Eroberungen – sei schließlich »lyrisch in Aussage und Faktur« 19 . Eine große Themenvielfalt mit im Einzeltext sparsam verwendeten, aber immer wieder überraschend kombinierten Motiven sowie eine hohe Beherrschung des tradierten Instrumentariums zeichne Steiners Gedichte aus: eine nachgerade musikalische, aber selten liedhafte Produktion. Die Vorliebe für »seltene deutschstämmige Worte [und] ungewöhnliche Fremdworte« wird erwähnt; ein etymologisches Interesse, dessentwegen heutige Rezensenten Steiner schnell mit Celan in einem Atemzug erwähnen. 20

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Eros und Thanatos

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Im zweiten Teil des Briefes kommt, ganz im Gegensatz zum ersten, zunehmend die Tragik Steiners ins Spiel. Sie betrifft den Autor, bei dem der Anspruch an sich selbst mit der Zufriedenheit über das Erreichte selten harmonierte, der seine Gedichte durch fortgesetzte kleinste Umarbeitungen vor der endgültigen Gestalt zu bewahren suchte, der im Umgang mit Verlagen oft Unglück hatte, sich überanstrengte, und dem, wie im Fall der nur geplanten Gedichtausgaben, Ablösungen misslangen, weshalb er ein Gefangener in »Babylons Nischen« blieb.

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Er ist eine der tragischsten Gestalten, von denen ich weiß, über ihm schwebte stets das Verhängnis, er war fast immer ohnmächtig, konnte sich fast nie befreien, er litt unendlich und war in seinem Schmerze standhaft und mutig, doch hat das Unglück ihn verbrannt und getötet: er konnte gar nicht alt werden. 21
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Mit diesen Worten spielt H.G. Adler auch auf die mehr oder weniger zahlreichen Frauen an, die sich um Steiner einfanden: meist melancholisch aufgeladene Seelen, die ihm alles zugleich hätten sein sollen und doch kaum etwas sein konnten. Wer Steiners Selbstzeugnisse konsultiert, wird überdies feststellen, dass er sich weder ganz an sie binden, noch eindeutig von ihnen lösen konnte: es blieb oft ein enervierender Zwischenzustand. Die Selbstspiegelung in Richtung eines orientalischen Eros, die Steiner eben auch um sich aufbaut, zieht Adler nicht weiter in Betracht; sie ist schließlich der Korrespondenz mit Canetti vorbehalten. Aus der Gruppe ernster und leidenschaftlicher Liebschaften schließlich deutete am Ende nur Iris Murdoch, seinerzeit Philosophiedozentin in Oxford, an, dass die ›richtige‹ Frau durchaus einen permanenten Wandel zum Guten hätte bewirken können; jedoch gewährte die Zeit nicht mehr, als dass der einst mit der Reise nach Palästina aufgetane Horizont sich noch einmal über die Reste sefardischer Lebenswelten in Spanien wölbte, zwei letzte Reisen, die Steiner in sehr dichten (und glücklichen) Texten resümierte.

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Vorläufige Schlussbetrachtung

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Um ein abschließendes Urteil über H.G. Adlers Brief abzugeben, ist es zu früh, und eine Rezension im engeren Sinne scheidet wegen der Textsorte (private Mitteilung) ohnehin aus. In weiten Teilen – Übersetzungen, die umfangreichen Feststellungen und Versuche – wartet Steiners Werk noch auf eine gemäße Erschließung, wenngleich die Beschäftigung in den letzten Jahren spürbar zugenommen hat. 22 Dass jener Außenseiter die Mühe lohnt, hat nicht nur mit seiner enormen literarischen Qualität zu tun, sondern auch mit der eigentümlichen Verbindung von Dichtung, Wissenschaft, Religion und Politik, die als einzigartiges Projekt dasteht.

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Wer die Korrespondenz zwischen Steiner und Adler ein wenig studiert, wird Adlers väterlichen Gestus und seine andauernde Sorge wahrnehmen. Diese reichte noch über den Tod hinaus; H.G. Adler verwahrte den Nachlass in seiner Londoner Wohnung, katalogisierte ihn und setzte sich unablässig für die Veröffentlichung ein. Somit konnten in den fünfziger und sechziger Jahren einige Texte als Publikationen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung die Schwelle zu einer größeren Öffentlichkeit passieren. Wenn Adler also von Steiners Lebensuntüchtigkeit schreibt, so mag man dies auch vor dem Hintergrund der seitens des Überlebenden übernommenen Verantwortung sehen: sie entlässt den Anvertrauten nur bedingt.

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»Er, der den Intellektuellen als Typus zutiefst verdammte und für das Übel aller Zivilisation hielt, war selbst der verkörperte Intellekt. Dass er das war und dennoch dagegen sich auflehnte, gehört zu seiner Größe.« 23 Das Urteil gegen Ende des Briefes bringt eine Dialektik ins Spiel, die inzwischen topisch geworden ist: die der Selbstüberwindung. Sie vergisst lediglich das Element des Bohemien, das Steiner mit Canetti eher teilte als mit dem seriöseren Familienvater in North Kensington. Beide Daseinsformen bedeuten einen Widerstand gegen die Umwelt, ja sie können sogar ihr ›Widerstandsmoment‹ gemeinsam haben, trotz ihrer gegenseitigen Ausschließlichkeit. Zu Adlers Größe gehört, dass er dem Freund weiter nachgegangen ist: fürsorglich, bisweilen kopfschüttelnd, sicher auch verzeihend.

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Drei Briefe H.G. Adlers, eine Reihe instruktiver Anmerkungen (gerade auch zu weniger bekannten Namen) und ein prägnantes Nachwort zur Entstehungsgeschichte runden diese wichtige Edition ab, die darüber hinaus eine unprätentiöse Bibliografie des Steinerschen Œuvres enthält. Nicht zuletzt die Aufmachung überzeugt – wie bei sämtlichen Exemplaren der »Göttinger Sudelblätter« – durch ihre fragile Beschwingtheit.

 
 

Anmerkungen

Brief vom 16.3.53, S. 64 im besprochenen Band.   zurück
In einem Brief an H.G. Adler schrieb Theodor W. Adorno: »Selbstverständlich muss alles geschehen, damit Steiners Nachlass an die Öffentlichkeit kommt. Am nächsten läge es für mich, deshalb bei meinem Verleger Suhrkamp zu intervenieren, aber das vermag ich im Augenblick deshalb nicht, weil ich mit der größten Energie die Publikation des Nachlasses meines Freundes Walter Benjamin verfolge und diesem Plan nicht in die Quere kommen kann.«   zurück
Nach dem Konkurs des Weissmann-Verlags übermittelte Steiner seinen Freunden, sich fortan überhaupt nicht mehr um Publikation bemühen zu wollen. Vgl. u.a. die Korrespondenz mit H.G. Adler und Erich Fried im DLA Marbach.   zurück
Diese Dreierbeziehung beleuchtet der Band zur Ausstellung im Marbacher Literaturarchiv: Marcel Atze: Ortlose Botschaft. Der Freundeskreis H.G. Adler, Elias Canetti und Franz Baermann Steiner im englischen Exil. Marbacher Magazin 84 (1998).   zurück
Vgl. Max Brod.   zurück
S. 20.   zurück
Der Schritt zu Edward Said ist nicht weit, darüber belehrt Michael Macks Studie: Anthropology as Memory. Elias Canetti’s and Franz Baermann Steiner’s Responses to the Shoah. (Reihe Conditio Judaica) Tübingen: Niemeyer 2001.   zurück
Im Nachwort tragen die Herausgeber Steiners Nähe zur Brit-Shalom-Bewegung nach, der auch Chaim Weizmann angehörte. Vgl. S. 76.   zurück
10 
S. 15.   zurück
11 
Das Buch erschien im renommierten Orbis-Verlag. Robert B. Pynsent weist auf die Eigenständigkeit dieser Übersetzung hin, die die metaphorischen und metrischen Nachteile der Vorlage auszugleichen versucht habe. (R.B. Pynsent: Franz Baermann Steiner’s First Work, Die Planeten, in Its Czech Context. In: Adler / Fardon / Tully [Hg.]: From Prague Poet to Oxford Anthropologist: Franz Baermann Steiner Celebrated. München: Iudicium 2003.) Lesehrad ist heute in der tschechischen Literatur nur mehr eine Fußnote, und schon Zeitgenossen urteilten wenig angetan: »Er hatte nicht die geringste Idee von der Bedeutung oder der Aufgabe eines Schriftstellers; er war nur ein Sportsmann. Resquiescat in pace.« (Unsignierte Besprechung früher Gedichte in Nový kult 3, 1900.)   zurück
12 
S. 28.   zurück
13 
S. 31. Zu Canettis Erinnerung an Franz Baermann Steiner vgl. Elias Canetti: Party im Blitz. Die englischen Jahre. München: C. Hanser 2003, S. 125–134. Sie gilt einigen, die Steiner persönlich gekannt haben, als ungerecht, stellt jedoch die Bedeutung des Porträtierten nicht in Abrede.   zurück
14 
Hervorzuheben ist hier das Gebet im Garten am Geburtstag meines Vaters, dem ersten Oktober 1947. Es wurde ebenfalls bei der Gedenkfeier für F.B. Steiner des PEN Clubs Deutscher Autoren im Ausland am 3. März 1953 in London rezitiert.   zurück
15 
Diese Einschätzung wird von Steiner selbst nicht geteilt. Aber auch Autorenkollegen wie Erich Fried, der Steiner als seinen Lehrmeister ansah, sieht in seinen späteren Verlautbarungen keinen Grund, die Sorge um Verdunkelung hervorzukehren. Die Korrespondenz zwischen Adler und Steiner legt schließlich nahe, dass hier tiefergehende Unterschiede in der poetologischen Auffassung bestanden.   zurück
16 
S. 48.   zurück
17 
Über die Rückbindung des eigenen Schaffens an bestehende Traditionen hat Steiner engagiert reflektiert. Zu den Höhepunkten gehören ein 1943 in England gehaltener – durchaus ›ideologiekritischer‹ – Vortrag über Rilkes Weg zur Beschwörung, seine Kafka-Essays sowie der kleine Aufsatz über jene »minor poets«, die in der deutschen Literaturhistorie so schlecht wegkommen (allesamt im DLA Marbach). Wie Adler bemerkt, gibt es eine Kontinuität zwischen dem Soziologen und dem Lyriker Steiner.   zurück
18 
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19 
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20 
Vgl. die Besprechung von Am stürzenden Pfad von Andreas Wang im NDR, März 2001    zurück
21 
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22 
Die erste wissenschaftliche Arbeit stammt von Alfons Fleischli: Franz Baermann Steiner. Leben und Werk. Freiburg, CH: Buchdruckerei Hochdorf 1970. 1999 edierten Jeremy Adler und Richard Fardon im Berghahn Verlag (Oxford u. New York) Steiners Selected Writings, einschließlich einer englischen Auswahl aus den Eroberungen. 2000 erschien Am stürzenden Pfad. Gesammelte Gedichte (Hg. von Jeremy Adler. Göttingen: Wallstein). Eine noch unveröffentlichte Dissertation zu den Eroberungen schrieb Nicolas J. Ziegler am King’s College, London. Ende 2006 wird eine deutsche Kompilation der Selected Writings bei Wallstein erscheinen.    zurück
23 
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