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Intensitätsgemeinschaften

  • Thomas Hecken: Avantgarde und Terrorismus. Rhetorik der Intensität und Programme der Revolte von den Futuristen bis zur RAF. (X-Texte zu Kultur und Gesellschaft) Bielefeld: transcript 2006. 162 S. Kartoniert. EUR (D) 16,80.
    ISBN: 3-89942-500-6.
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Die Beziehungen zwischen Kunst und Terrorismus sind für die modernen Kultur- und Literaturwissenschaften ein Randthema. Seit Albert Camus’ außerordentlich populärem Buch Der Mensch in der Revolte (dt. 1953) wurde über die moderne und oftmals verblüffende Nähe wenig Neues publiziert. Erst nach den Anschlägen vom 11. September 2001 begann man, diese Beziehungen wieder stärker wahrzunehmen. Vor allem Paul Berman (Terror und Liberalismus, dt. 2004) rekonstruierte – in Anschluss an Camus – öffentlichkeitswirksam die Gewaltlust moderner Kunst und Kultur: von Victor Hugo über Charles Baudelaire (»Der wahre Heilige ist der Mensch, der die Menschen zum Wohl des Volkes peitscht und tötet«), Dostojewski, André Breton bis zu Gegenwartsautoren wie Norman Mailer. Camus und Berman ging es dabei nicht um Literaturwissenschaft oder die persönliche Nähe einzelner Künstler zum Terror. Sie registrierten einen merkwürdigen modernen »Nihilismus« und »Totalitarismus«, der Rebellion, Mord und Selbstmord ununterscheidbar mache – und (laut Berman) inzwischen auch eine islamistische Variante herausgebildet hat. Ansonsten fehlt es an systematischeren Analysen: Die literatur- und vor allem medienwissenschaftliche Entdeckung des Themas Terrorismus steht noch aus.

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Am Anfang ein Manifest

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Der Bochumer Literaturwissenschaftler Thomas Hecken hat nun eine erste Studie vorgelegt: Avantgarde und Terrorismus beschränkt sich auf das 20. Jahrhundert, oder genauer, die Zeit zwischen dem ersten Futuristischen Manifest (1909) und den Positionspapieren der frühen RAF (1972). Mit dem Manifest wird erstmals eine gerade in Künstlerkreisen überraschend große Lust an der Gewalt, am Totalen und an der Vermischung von Politik und Kultur, Leben und Kunst formuliert. Der »aggressive Anteil der künstlerischen Avantgarde wird nun besonders deutlich hervorgekehrt« (S. 13) – gerade auch gegen die traditionelle Kunst und Kultur. Zunächst gehen in Italien Revolte, Kunst und Krieg spezifische (verbale) Verbindungen ein, auf den Futurismus folgen – mit unterschiedlichen Positionierungen – Dadaismus, Surrealismus oder Situationalismus, kurz: weitere Avantgarden.

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Die neuen, grausamen Neupositionierungen sind wohlbekannt: Vom »stets schussbereiten Maschinengewehr« (S. 14) und der »Schönheit der Gewalt« (S. 20) (Marinetti) über »Mit dem Revolver in der Tasche Literatur« schaffen (S. 32) (Huelsenbeck) bis zu Bretons »einfachster surrealistischer Haltung« reicht das Spektrum: »Mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße gehen«, so hatte Breton einst sein sehr bekanntes Credo beschrieben, »und blindlings in die Menge schießen« (S. 33). Folgt man Hecken, dann wurde mit diesen Slogans vor allem Sprachpolitik betrieben, es blieben Tat-resistente Provokationen von »Spezialisten der Revolte«. »Lust dazu, mit terroristischem Furor die allgemeine ›elende Dummheit‹ zu beenden, dürften die Surrealisten alle gehabt haben, Gewaltakte haben sie tatsächlich aber keine verübt« (S. 33). Doch was heißt hier »dürften«? Und woher stammt die Lust?

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Erster Anlauf

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Zu dem Aspekt Avantgarden und Terror »liegen umfassende Analysen bislang nicht vor« (S. 7). Einen »ersten Anlauf« (S. 7), mehr will Hecken gar nicht unternehmen – und so interessieren ihn auch weniger die Protagonisten und ihre künstlerischen Produkte als vielmehr die neuen Definitionen von Kunst und Leben, Kultur und Politik. Seine Leitfrage ist, ob »ein besonderer Weg« (S. 9) von der Avantgarde zum Terrorismus führt.

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Im Mittelpunkt des Buches stehen – wie der Untertitel sehr präzise angibt – »Programme der Revolte« und die »Rhetorik der Intensität«, die insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg in kleinen avantgardistischen Zirkeln entwickelt und vor allem unter Gleichgesinnten verbreitet wurden. In der Mitte des Jahrhunderts haben diese frühen Avantgardisten ihre vitale Kraft schon wieder verloren. Dada, so Lawrence Alloway 1956, »is unpopular and under-defined«. Die Werke der Dadaisten und Surrealisten sind in den 1960er Jahren als moderne Kunst in den Kanon eingebunden. Aber man weigerte sich, die »historische Avantgarde über ihre künstlerischen Werke hinaus anzuerkennen« (S. 44). Dort, jenseits der Kunst, liegt Heckens Interesse.

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Erst die Happenings, die in den 1960er Jahren in den USA initiiert wurden, machen in Europa und Deutschland die Fragen um Kunst und Leben wieder aktuell. Ausgerechnet in den winzigen Zirkeln der »Subversiven Aktion« und insbesondere in der »Kommune I« finden die Dadaisten und Surrealisten Nachfolger, Nachfolger freilich ohne Willen und auch ohne Werk. Die »Kommune I als Avantgarde« (S. 65), »Aufruhr als Kunstwerk« (S. 68) überschreibt Hecken diese Kapitel. Doch das sind wohl eher Zuschreibungen von außen, Resultat eines außergewöhnlichen Zusammentreffens von Provokation, Wissenschaft und Justiz. Als die »Kommune I« 1967 wegen einer Flugblattaktion zu einem Kaufhausbrand in Brüssel vor einem Berliner Gericht stand, wurden die Berliner FU-Professoren Jacob Taubes, Peter Szondi und Eberhard Lämmert um Gutachten gebeten – und so sah man plötzlich mitten im Berlin der Prä-1968er futuristische und surrealistische Traditionen fortgesetzt, die so selbst von den Akteuren nicht priorisiert wurden. Eine »kulturhistorische Auszeichnung aktionistischer Ideen« (S. 65) fand statt. Von Terrorismus freilich sprach man damals noch nicht, höchstens von ›Terror‹, der das Grelle der Sprache und Gesten bezeichnen sollte. Die RAF kam erst später.

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Surrealismus und Terror, »Kommune I« und Literaturwissenschaft, Avantgarde und RAF – es sind überraschende Verbindungen, die Hecken hier zieht. Die RAF als Avantgarde und das Terroristenleben laut Bommi Baumann – als »Einheit von Zusammenleben und Taten« (S. 89). Diese Beziehungen sind vor allem einer methodischen Prämisse geschuldet. Denn es lohne sich, so Hecken, »von einigen Überlegungen der Terroristen selbst auszugehen« (S. 11). Auch sie verfügten über Unterscheidungen, »die nicht weit von wissenschaftlichen Begriffsklärung entfernt liegen« (S. 11). In dieser Zuschreibung liegt dann auch die Erklärung dafür, dass etwa die RAF plötzlich in Avantgarde-Zusammenhänge gerät: Sie hat sich so beschrieben. Und so werden in Avantgarde und Terrorismus nicht die künstlerischen Werke, sondern (durchaus Avantgarde spezifisch) vor allem die Manifeste und Selbstbeschreibungen berücksichtigt. Mit verblüffenden und doch eher verklärenden Erkenntnissen: Noch in einem RAF-Papier registriert Hecken eine Formulierung, »die bis in die Wortwahl hinein einem avantgardistischen (Künstler)Manifest entstammen könnte« (S. 101).

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Intensitäten

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Doch trotz der rhetorischen Ähnlichkeiten zwischen Avantgarde und Terror: Übereinstimmungen, so resümiert Hecken im »Schluss« seiner vor allem an den Programmen orientierten Analyse, gebe es kaum. Das »avantgardistische Prinzip« (S. 106) eigne sich »nur schwer vorstellbar« als Ausgangspunkt »für terroristische Aktionen«: Lautgedichte und Traumprotokolle hätten »beim besten (bzw. schlechtesten) Willen« »keine terroristischen Züge« (S. 106).

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So bleibt (bislang) ein einziger Fixpunkt übrig, an dem Avantgarde und Terrorismus übereinstimmen. Die Intensität, mit der sich die Avantgardisten von der arbeitsteiligen und hierarchischen Ordnung abwenden und die sie als schockhafte Wirkung dieser Abwendung, bei denen anstreben, die ganz und gar in solcher Ordnung aufgehen, findet sich als Prinzip auch bei den Terroristen wieder. (S. 107)
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Die Konsequenzen der Intensität freilich dürften schon sehr unterschiedlich sein. Aber dazu erfährt man nichts.

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Nachwirkungen

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Avantgarde und Terrorismus endet überraschenderweise und abrupt mit dem Jahr 1972. Die RAF existierte noch länger, doch 1972 markiert wohl auch das Ende einer noch eher idyllischen Periode. Gerd Koenen – dessen Buch in Heckens Literaturliste leider fehlt – hat diese Entwicklungen in Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus (Köln 2003) ausführlich beschrieben.

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Heckens Arbeit skizziert erstmals umfassende »Beziehungen« zwischen Avantgarden und Terrorismus. Der Blick richtet sich primär auf die »Programme der Revolte«, aber die Dramatiken, die sich hinter den ästhetischen oder (in diesem Terror-Zusammenhang fast immer reduzierten) politischen Absichtserklärungen verbergen, bleiben verstellt. Zum Abschluss sei deshalb ein kurzes Beispiel für diese Dramatik angehängt: Im Juni 2006 sendete das Freie Senderkombinat (FSK), ein kleiner, nur in Teilen Hamburgs zu hörender Lokalsender, ein sensationelles Gespräch mit dem Schriftsteller Christian Geissler (kamalatta [Hamburg 1988]). Und der erzählte von seinen Beziehungen zur RAF und den sehr fließenden Grenzen:

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Das war für mich das Prägende in den Jahren, ich glaube es hat mich nichts so geprägt ... Der Kampf – und ich sage das jetzt wirklich, was mich betrifft, in Anführungszeichen – oder die Verbindung zum bewaffneten Kampf war die Hauptsache, für mich ... Für mich war es intensive verbindliche Lerne- und Streitarbeit, und ich habe bis heute die Verbindung ja gehalten ... Wie die offenbar lebenslängliche Verbindung begründet ist, das hat, ich nehme an, etwas mit dieser zugespitzten Situation Leben und Tod zu tun, die am Anfang ja immer drin war.