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Ein unterschätzter Roman aus dem 13. Jahrhundert
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Mai und Beaflor gehört zu den legendarisch anmutenden Romanen des 13. Jahrhunderts, in denen die späthöfische Epik versucht, einen narrativen Kompromiss zwischen den Ansprüchen einer feudalen Identitätskonzeption und dem christlichen Demutsgebot herzustellen. Die teils spektakuläre, teils tränenselige Geschichte handelt von der römischen Kaisertochter Beaflor, die vor dem inzestuösen Verlangen ihres Vaters ins Ungewisse flieht, in Griechenland vom Grafen Mai geheiratet wird und ihm einen Sohn zur Welt bringt, dann aber vor einer mörderischen Intrige ihrer Schwiegermutter aufs Neue flüchten muss und nach langen Jahren in Rom, im Haus ihrer untadeligen Adoptiveltern, mit ihrem Mann wiedervereinigt wird, der dann die Herrschaftsnachfolge ihres reuevoll abdankenden Vaters antritt.
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Der stilistisch gefällig erzählte Roman gehört wie etwa Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden oder die anonyme Gute Frau zu den ›frommen‹, sich pseudohistoriographisch gerierenden Minne- und Abenteuerromanen, in denen von der Trennung und Wiederfindung zweier Liebender erzählt wird, die zwischenzeitlich der Welt entsagen und zuletzt doch in der Welt erhöht werden. Dabei verbindet er das seit der Crescentia-Erzählung der Kaiserchronik in der deutschsprachigen Literatur etablierte Motiv der leidensfähigen Hochadeligen mit einer dramatischen Inzestgeschichte.
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In der Germanistischen Mediävistik hat der Text bislang nicht viel Aufmerksamkeit gefunden, obwohl er für Fragen der Erzähltheorie und der historischen Anthropologie reiches Material bietet (›Hybridität‹ spätmittelalterlichen Erzählens, Vermengung geistlicher und weltlicher Modelle adeliger Identitätsbildung, Familienstrukturen / Inzest, Geschlechterrollen, Funktionen dargestellter Emotionalität und Wahrnehmung etc.). Erst die neuere Forschung hat solche Ansätze aufgegriffen,
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aber das Potential des Textes ist interpretatorisch bei weitem noch nicht ausgeschöpft.
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Dazu beigetragen hat wohl nicht nur das Verdikt älterer Literaturgeschichtsschreibung, Mai und Beaflor sei ebenso epigonal wie rührselig, sondern auch die Editionslage. Die bislang einzige Ausgabe aus dem Jahr 1848 ist anonym erschienen.
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Man hat versucht, eine sukzessive und diskontinuierliche Koproduktion von A. J. Vollmer, Hans Ferdinand Massmann und Franz Pfeiffer wahrscheinlich zu machen, deren Herausgeberschaft mit Bedacht verschwiegen wurde, um die Verantwortlichen für ein Buch, das im wesentlichen nur als Leseausgabe konzipiert ist, vor potentiellen Anfeindungen der Lachmann-Schule zu schützen.
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Albrecht Classen hat nun eine Neuedition mit einer Übersetzung vorgelegt. Sympathisch ist sein Bemühen, dem lange unterschätzten Text so zu mehr Beachtung zu verhelfen. Doch tut er seinem Anliegen nur bedingt einen Gefallen, wenn er behauptet, Mai und Beaflor könne zwar nicht Hartmann, Gottfried und Wolfram, dafür aber »durchaus den Romanen und Verserzählungen Konrads von Würzburg das Wasser reichen« (S. XXI). Das kann der anonyme Versroman sicher nicht.
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Die Neuedition
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Literaturwissenschaftliche Einleitung
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Die »Literarhistorische Einordnung« (S. VI–IX) beklagt das geringe Forschungsinteresse und möchte in Mai und Beaflor beinahe einen »erratische[n] Block in der Landschaft der mittelhochdeutschen Literatur des 13. Jahrhunderts sehen« (S. VI), obwohl das anonyme Werk, wie Classen dann selbst einräumt, durchaus in einer breiten, auch europäischen Erzähltradition steht (S. VIII–X).
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Weil der Unterschied zwischen ›Stoff‹, ›Motiv‹ und »Erzählstrang« (S. IX) dabei durchaus vage bleibt, entsteht einige Konfusion, wenn Classen zuerst die alte Vermutung (vermutlich) Vollmers für »durchaus erwägenswert[ ]« (S. IX) hält, der Stoff sei aus Griechenland über Italien in den deutschen Sprachraum gelangt, dann aber auf S. XI behauptet, dass »der Dichter« das »Inzest-Motiv« »von einem [sic!] der vielen Apollonius von Tyrus-Versionen geschöpft haben [dürfte]«.
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Ähnlich inkonsistent sind die Ausführungen zur »Gattungsfrage« (S. X), wo der Herausgeber sich zunächst vorsichtig dem Vorschlag Ingrid Kastens anschließt, den Text als einen ›erbaulichen Liebesroman‹ zu verstehen, dessen Struktur diejenige des hellenistischen Liebes- und Reiseromans mit derjenigen der Legende verbinde, während für ihn Joachim Bumkes »Einordnung […] in die Kategorie der Liebes- und Abenteuerromane, die von legendenhaften Stoffen bestimmt sind, nur teilweise zu überzeugen vermag« (S. X). Es bleibt freilich unklar, wieso die eine Etikettierung weniger überzeugend sein solle als die andere – in beiden Fällen handelt es sich um Strukturargumente, die durchaus zutreffend auf die Hybridisierung unterschiedlicher Sinnbildungsmuster abzielen.
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Der Eindruck von Inkonsistenz bleibt. Die folgenden Zwischenüberschriften »Historischer und literarischer Hintergrund« (S. XI), »Die Protagonistin und Interpretationsfragen« (S. XII), »Politische Erwägungen« (S. XVI), »Emotions- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte« (S. XVII) sowie »Didaktische Intentionen, Sozial- und Kirchenkritik« (S. XIX) suggerieren einen systematischen Zugriff, den Classen jedoch schuldig bleibt, weil er nur kommentierend dem Ablauf der Handlung folgt und dabei einzelne, auffällige Aspekte besonders herausstellt. Er tritt dabei mit dem Anspruch auf, Interpretationsansätze zu liefern, interessiert sich jedoch kaum je für die narrative Funktionalisierung. Im Vordergrund steht oft genug banale Alltagspsychologie:
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Genau wie bei Partonopier und Meliur kommt es nach dem Anschlag zu einer langen Trennung der Geliebten [sic!], aber diese dient letztlich dazu, beide Menschen innerlich reifen zu lassen, was ihnen dann die Möglichkeit bietet herauszufinden, wie stark ihre emotionale Verbundenheit tatsächlich ist. (S. XIV f.)
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Das »Ideal einer harmonischen Ehebeziehung sowohl in geistiger als auch in körperlicher Hinsicht« (S. XII), von dem Classen spricht, unterliegt der bemerkenswerten Einschränkung, dass nach der Zeugung eines Erben nicht mehr davon die Rede ist, dass die Protagonisten miteinander schlafen. Weil Classen nicht sieht, dass Sexualität offenbar nur dann statthaft ist, wenn sie der Fortpflanzung der eigenen Sippe dient, stellt er sich auch nicht die Frage, ob derlei die Folge der Hybridisierung eines genealogischen Liebesromans mit legendarischen Strukturen sein könnte.
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Der Herausgeber weist zutreffend darauf hin, dass Beaflor »jeden durch ihre unglaubliche körperliche Schönheit bestechen« und »durch ihren unermeßlichen Schatz so beeindrucken kann«, dass der öffentliche Widerstand gegen Mais Heirat mit einer »vorläufig sozial nicht eindeutig einstufbaren« Unbekannten kollabiert (S. XIV). Classen unterlässt es jedoch, hieraus naheliegende Überlegungen abzuleiten, wie der Text diese zweifache Konzeption adeliger Identität massiv problematisiert – im Widerspruch zwischen körperlicher Evidenz und fehlendem genealogischen Wissen. Wenn Mais Mutter Eliacha die nackte Beaflor im Bad beobachtet, bemerkt Classen hier nur die Thematisierung der »präpubertären« Kindlichkeit des Mädchens (S. XVIII), ohne dabei auch nur in Erwägung zu ziehen, dass Nacktheit im Mittelalter vor allem Identitätslosigkeit bedeutet – und damit auch Schutzlosigkeit gegenüber allen externen Identitätszuschreibungen, wie sie gerade Eliacha unternimmt, die der Heldin später unterstellt, sie sei »wegen sexueller Vergehen aus ihrer Heimat vertrieben worden« (S. XVIII).
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Hinzu treten eklatante Fehleinschätzungen. Etwa möchte der Herausgeber eine forcierte Kirchenkritik darin erkennen, dass »der Erzähler […] den griechischen Grafen Korneljus an [sic!] Mai den Rat erteilen [läßt], für seine Romreise ordentlich viele Schätze mitzunehmen, denn der Papst sei jederzeit bereit, bei einer entsprechenden Geldsumme die an ihn herangetragenen Wünsche zu erfüllen« (S. XX). Auf den Gedanken, dass dies keine Kritik sein könnte, sondern der Ausdruck einer in Mai und Beaflor fraglos gültigen adeligen Sondermoral, kommt Classen nicht. Der »Dichter« ist gerade nicht »von der Absicht getragen, seiner Gesellschaft einen Spiegel vor die Augen zu halten« (S. XX), weil es keine Ständekritik gibt, sondern nur das kritikwürdige Verhalten von Beaflors Vater und Mais Mutter.
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Die auffällige Sentimentalität der Liebenden musste der älteren Forschung als Indiz mangelnder Qualität herhalten. Classen weist dies zurück, kann aber nicht mehr bieten, als »daß wir damit in bemerkenswerter Weise Einblick in emotionale Mentalitäten gewinnen, auf die sich der Dichter sowieso an erster Stelle konzentriert« (S. XXI). Das soll alles sein?
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Da Texteditionen gemeinhin den literaturwissenschaftlichen Forschungsstand ihrer Zeit überdauern, können sie sehr wohl ohne dezidierte Interpretationsvorschläge auskommen und sich auf die Darstellung der ›hard facts‹ konzentrieren. Classens Anspruch ist ein anderer, aber er wird ihm nicht gerecht.
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Überlieferung und Editionsprinzip
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Ausführungen zur »Handschriftliche[n] Überlieferung« (S. XXIII–XXIX), zur Übersetzung (S. XXIX f.) und zur Textgestalt (S. XXX–XXXIII) erläutern Grundlagen und Prinzipien der Edition. Die textuelle Varianz der beiden Handschriften (A, BSB München, Cgm 57, fol. 1r–52v, 14. Jh., unvollständig und mit z.T. verbundenen Lagen
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und C, Codex 6, Landesbibliothek Fulda, 15. Jh.) hält sich in Grenzen. Die Handschriftenbeschreibungen entnimmt Classen vollständig und wörtlich aus der Sekundärliteratur. Er entscheidet sich aufgrund von Alter und Sprachstand für A als – dann weitgehend diplomatisch abgedruckte und nur geringfügig normalisierte
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– Leithandschrift und zieht C lediglich zur Auffüllung von größeren (durch Blattverlust bedingten) und auch kleineren Lücken sowie zur Begründung (seltener) textkritischer Entscheidungen heran, die ansonsten in den Fußnoten der jeweiligen Editionsseite dokumentiert werden (die C-Passagen erscheinen in der Ausgabe in anderer, ästhetisch wenig befriedigender Schrifttype). Dabei führt er auch eine neue durchlaufende Verszählung ein, die sich jeweils rechts neben dem Editionstext und der Übersetzung findet. Die alte Zählung nach Spalten und Vierzigergruppen sowie die Blatt- und Spaltenzählung der Handschrift A werden durchgängig mitabgedruckt (Vollmers Zählung links neben der Übersetzung, Spalten und Zeilen von A links neben dem Editionstext).
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Gegenüber der alten Ausgabe, die ebenfalls zumeist A privilegiert, aber dennoch die beiden Handschriften miteinander kontaminiert, liest man bei Classen mitunter (kursiv markierte) Zusatzverse, die sich nur in A finden; auch vermerkt er am Rand Zusatzverse von C gegenüber A. Wo Vollmer gegen die Hss. Verse umstellte, wird dies ebenfalls am Rand vermerkt. Dort werden auch – allerdings nur für die ersten 500 Verse – Abweichungen von C gegenüber A dokumentiert, sofern sie nicht bloß Orthographie und Lautstand betreffen.
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Übersetzung
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Die Übersetzung strebt nach Wörtlichkeit, nicht nach Eleganz; nur in der Syntax erlaubt sich Classen dort, wo es ihm nötig scheint, Freiheiten (S. XXIX). Die Übersetzung ist, wenigstens nach Stichproben, weitgehend korrekt (kleinere Bedenken allerdings gäbe es: V. 3530 f. [89,18 f.] »Spise, phenning vnd gewant/ hiez er in miltechlichen geben« – »Er befahl, daß ihnen mildtätig Speise, Geld und Kleidung gegeben würde« – nicht eher, dem adeligen Selbstverständnis entsprechend, ›großzügig‹ oder ›freigebig‹ statt ›mildtätig‹?)
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Auffällig ist, dass die Syntax der Übersetzung mitunter stark von derjenigen der Edition abweicht, weil Classen in beidem unterschiedlich interpungiert.
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Jede Interpunktion führt zu einer stimmigen Syntax, aber man sollte sich durchaus für eine Variante entscheiden:
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Dar um gechronet wart sin leben, daz er sich vber die armen chunde wol erbarmen. Des wart sin heil gemeret vnd ouch hoch geeret von got vnd von den luten. (V. 3532–3537 [89,20–25])
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Dafür erhielt er die Krone in seinem Leben. Weil er auch für die Armen Mitleid empfand, steigerte sich seine Seligkeit, denn er wurde von Gott und den Menschen hoch geehrt.
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Stellenkommentar
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Der Stellenkommentar findet sich am Ende des Bandes (S. 465–488). Hochgestellte Anmerkungsziffern in der Übersetzung beziehen sich auf ihn. Bei tatsächlich schwierigen interpretatorischen Problemen hilft er allerdings nicht weiter. Nachdem Beaflors Vater das Mädchen mit seinem inzestuösen Gelüst konfrontiert hat, heißt es:
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Sy waint pitterleich. Ir clag was gleich der schoenen
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Ysalden clag, die sy do het an dem tag, do sy nach Tristannen starb. Ir clagents wunschen verdarb, das sy des todes gert. Niemant sy des wert. (V. 1101–1108, nach Handschrift C [28,35–29,2])
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Sie weinte bitterlich. Ihre Klage war genauso heftig wie die der schönen Isolde, die solche zu dem Zeitpunkt geäußert hatte, als sie gleich nach Tristan starb. Ihre Klagen waren nutzlos.58 Niemand hinderte sie daran, sich den Tod herbeizuwünschen.
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Als Leser stolpert man hier über die befremdliche, wenn nicht gar ungeheuerliche und höchst deutungsbedürftige Aussage, dass das unschuldig inzestuös bedrängte Mädchen mit der um ihren illegitimen Liebhaber trauernden Isolde verglichen wird (wobei Beaflor sich zudem im folgenden mit ihrer Verweigerung von Essen und Trinken wie eine Minnekranke verhält).
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Man erhofft sich also vom Stellenkommentar zu Anmerkung 58 Aufschluss, findet aber auf S. 467 nur Literaturangaben zum Inzest im Mittelalter allgemein.
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Nicht allein, dass man sich von dem Kommentar mitunter im Stich gelassen fühlt – ab und an findet sich darin auch Überflüssiges (wie die Übersetzung von mhd. ›bîten‹ ›warten‹ in Anm. 55) oder gar ausgesprochener Unfug: Als Beaflors Pflegeeltern Roboal und Benigna aus dem Munde des Mädchens von den geplanten Untaten des kaiserlichen Vaters erfahren, antizipiert ihre Klage die Schande, die dies über Herrscher und Land bringen würde: »ez erhillet vber elliv lant/ vnd wirt ein vinger zeigen/ vf den er vaigen« (V. 1234–1236 [32,8–10]). Classen übersetzt: »Es wird im ganzen Land bekannt und ein Schandmal63 für den Erbärmlichen«; Anmerkung 63 auf S. 467 bietet dann »Wörtlich: Fingerzeichen«, obwohl doch ganz einfach gemeint ist, dass man mit Fingern auf den Ehrlosen zeigen wird. Oder es wird auf S. 465 in Anmerkung 12 behauptet, »Nur bei Mai handelt es sich um einen König«, wo dieser König doch bloß ein Graf ist. Einige Doubletten in den Anmerkungen sind schlicht überflüssig: Die Anmerkungen 86 und 131 befassen sich mit dem Sachverhalt, dass offene, unbedeckte Haare die Jungfräulichkeit ihrer Trägerin indizieren; dabei werden jeweils zwar einschlägige, aber völlig unterschiedliche Literaturnachweise gegeben. Offenbar waren unterschiedliche Helfer beim Zusammentragen der Sachinformationen beteiligt, ohne dass jemand sich zu einer vereinheitlichenden Schlussredaktion bemüßigt gefühlt hätte.
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Trotz vieler nützlicher Hinweise lässt der Stellenkommentar Sorgfalt und Instruktivität vermissen.
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Editionstext
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Abschließend stellt sich die Frage, ob die Ausgabe wenigstens einen zuverlässigen Text bietet. Ich vergleiche stichprobenartig Handschrift A (Cgm 57) mit der Edition und beschränke mich auf Eindeutiges: Groß- und Kleinschreibung an den Zeilenanfängen entsprechen nicht der Handschrift, da Classen jene entsprechend der von ihm vorgenommenen Interpunktion regelt. Rote und blaue Initialen werden im Abdruck durchgängig nicht markiert. Schon die ›diplomatische‹ Wiedergabe des ersten Doppelblatts enthält eine Fülle von Flüchtigkeitsfehlern:
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Fol. 1rb: Z. 4: das »selichen wart« der Handschrift wird unmarkiert zur sinnvolleren »selichen vart« emendiert; Z. 24: ich lese »helfechleicher«, nicht »helfecleicher«; fol. 1va: Z. 5: dito »stund«, nicht »stunde«; Z. 21: dito »si«, nicht »sie«; Z. 30: dito »ofte«, nicht »oft«; Z. 32: dito »Di«, nicht »Die«. Unzutreffend ist die Fußnote 1 zu fol. 1rb, Z. 8: »›v‹ ist Fehler, durchgestrichen«, denn die Durchstreichung erfasst auch das dem »v« direkt vorausgehende »dev«. Dass in fol. 1rb am Anfang von Z. 5 das »z« in »ze himel« nicht mehr vorhanden ist, wird nicht angegeben.
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Solche Ungenauigkeiten beeinträchtigen den Wert der Edition, zumal sie sich als eine diplomatische ausgibt.
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Fazit
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Dem sympathischen Ansinnen des Herausgebers, den weithin unterschätzten Text wieder zugänglich zu machen, hätte mehr Sorgfalt gut getan. Darüber, dass die angekündigten Interpretationsansätze ihren eigenen Ambitionen nicht gerecht werden, mag man noch hinwegsehen, weil derlei nicht notwendig zu den Aufgaben einer Edition zählt. Aber man möchte wenigstens einen zuverlässigen Text und einen zuverlässigen Kommentar lesen. So, wie die Ausgabe jetzt vorliegt, ist sie leider nur bedingt zu empfehlen. Eine gründlich überarbeitete Neuauflage wäre sehr zu wünschen.
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