IASLonline

Bewegliche Ziele sind schwer zu verorten

Ein Sammelband versucht die Historisierung des Essayismus um 1900

  • Wolfgang Braungart / Kai Kauffmann (Hg.): Essayismus um 1900. (Beihefte zum Euphorion 50) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2006. XII, 246 S. 2 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 49,00.
    ISBN: 3-8253-5125-4.
[1] 

Essays als polymorpher
Gegner und Gegenstand der Wissenschaft

[2] 

Essays wollen überraschen. Essayistisch denken und schreiben bedeutet, etwas Neues auszuprobieren. Der Essay ist, womöglich mehr noch als der Roman, die offene und moderne Form. Vielfach wurde die Form des Essays schlechthin im negativen Modus bestimmt als undefinierbar. Denn das Wesen des Essays sei gerade seine polymorphe, transgressive Beweglichkeit. Etwas weniger negativ, freilich auch nicht viel genauer, sind die Bestimmungsversuche, die den Essay in einer fundamentalen Zwischenlage verorten. Essayistisches Schreiben situiere sich zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Analyse und Einfühlung, zwischen Politik und Ästhetik, zwischen Alltagsprosa und Poesie, zwischen Kreativität und Kritik, zwischen Zitat und Originalität.

[3] 

Über den Geburtsmoment des Essays um 1600 in den prominenten Sammlungen von Montaigne und Bacon, die den Begriff als Buchtitel verwendeten, herrscht Einigkeit. Eine Entwicklungsgeschichte des Essays im engeren Sinne ist nicht noch geschrieben – und fraglich scheint, ob eine solche Gattungsgeschichte angesichts des immer neu einsetzenden Schreibverfahrens des Essayismus überhaupt sinnvoll wäre. So versuchte man den Essay weniger durch ein solches historisches Narrativ, sondern durch die additiven Sammelformen der Anthologie einzukreisen und zu dokumentieren; in Deutschland etwa Ludwig Rohners klassische Sammlung von 1966 oder neuerdings die letzte Abteilung von Reich-Ranickis Kanon-Projekt. Seit 1997 auch durch eine große Encyclopedia of the Essay. 1

[4] 

Wissenschafts- und Mediensoziologische
Einbettung der Essayblüte

[5] 

Ein aus einer Tagung des Interdisziplinären Forums für Kulturwissenschaften in Wien im Januar 2004 hervorgegangener Sammelband versucht nun, den Essay als Schreibform und den Essayismus als Denkform – stärker als es die bisherige Essayforschung unternahm – zu historisieren. Die einleuchtende Ausgangsthese lautet, man müsse die Essayistik kontextualisieren; mediengeschichtlich in Hinsicht auf ihre Publikationsorgane sowie wissenschaftsgeschichtlich, d.h. vornehmlich als Ort der Popularisierung und Einheitsstiftung sich ausdifferenzierender Fachwissenschaften. So erst könne man die Spezifik einzelner Essays und die Entwicklungsstufen der Gattung besser verstehen. Der Untersuchungszeitraum der Jahrhundertwende wurde einerseits aufgrund der (auch durch die Kanonisierung durch Anthologien bestätigte) Blüte des Essayschaffens in der Phase der klassischen Moderne gewählt; andererseits wegen der um 1900 zu beobachtenden Medienrevolution und Wissenschaftsentwicklung. Für diese ertragreiche Phase des Essayschaffens sollen nun die »wissens- und kultursoziologischen Funktionen der Essayistik« beleuchtet werden (S. VII). Auf ihre diskursive Prägekraft hin zu analysieren seien Autorpositionierungen zwischen Wissenschaft, Publizistik und Literatur; Publikationsorte (Hörsäle, Zeitschriften, Zeitungen, Bücher) sowie Institutionen (Bildungs- oder Weltanschauungsgesellschaften) als Gestalten der Öffentlichkeit, in denen Essays florierten.

[6] 

Gliederung und Fallstudien des Bandes

[7] 

Rolf Pfarr eröffnet den Band mit einem theoretischen Beitrag »Zum interdiskursiven Status des Essays«. Ausgangsthese ist die Annahme, daß Essayistik wie alle Literatur und wie Populärphilosophie und Populärreligion je spezifisch realisierte Formen von Interdiskursivität seien. All diese Mischdiskurse haben dabei die Funktion, die in der Moderne immer stärker ausdifferenzierten Spezialdiskurse wieder zusammenzubringen. Essays ließen sich demnach typisieren nach der jeweiligen Mischung von (fachwissenschaftlichen) Spezialdiskursen und literarischen Interdiskurselementen (etwa narrativen Schemata, Charakterbildern oder Kollektivsymbolen wie ›Organismus/Körper‹, Schiff, Haus). Neben dieser Typik nach Diskurselementen und Mischungen schlägt Pfarr noch drei weitere Anleitungen künftiger Essay-Forschung unter der Logik der Interdiskursanalyse vor: »Intellektuelle als Trägerschaft«, der »Publikationsort Zeitschrift« und die Popularisierung von Spezialwissen könnten so studiert werden. Inwieweit das semantische Instrumentarium der Diskursanalyse dabei wirklich ganz neue Erkenntnisse stiftet oder nicht doch eher alter Wein (der Wissenssoziologie, der Zeitschriftenforschung und der vorliegenden Essayforschung) in neue terminologische Schläuche verpackt wird, scheint fürs erste noch offen. Kai Kauffmann und Erdmund Jost geben anschließend einen hilfreichen Überblick über »Diskursmedien der Essayistik um 1900« (d.h. über Zeitschriften, Redeforen, Autorenbücher), den sie mit einem informativen Fallbeispiel zu den Transformationen der Zeitschrift ›Der Grenzbote‹ anschaulich abschließen.

[8] 

Es folgen 12 Fallstudien, die sich überwiegend einzelnen Autoren widmen. Nietzsche als Gründungsfigur modern essayistischen Philosophierens wird dabei zweimal bedacht: Stefan Greifs philosophierende Studie versucht, Nietzsche als einen radikal ästhetischen Denker zu profilieren, der als Sprach‑ und Erkenntniskritiker ein dezidierter »Verächter des modernen Essayismus« (S. 124) sei. Weit überzeugender ist die klar strukturierte Argumentation von Simon Jander, der Nietzsches Perspektivismus systematisch erhellt und die philosophischen und poetologischen Konsequenzen dieses Leitgedanken skizziert. Das für die weitere Essay-Entwicklung folgenreiche Zusammenspiel von wahrheitsskeptischem Perspektivenpluralismus und aggressiver Setzung von Thesen wird von Jander relationiert mit den jeweiligen Sprachformen Nietzsches, etwa seinen aphoristischen, metaphorischen oder prophetisch apodiktischen Stilfiguren.

[9] 

Wilhelm Bölsche wird als wichtiger Popularisator der Evolutionslehre von Wolfgang Braungart und Silke Jakobs als »Gestalt des ästhetisch-wissenschaftlichen Diskurses um 1900« präsentiert. Die narrativen, subjektivistischen, vereinheitlichenden poetischen Elemente seiner Schriften werden analysiert. Birgit Giesecke profiliert Wittgensteins Essayismus als ein Möglichkeitsdenken unter Rückgriff auf Emerson und Musil. Wittgensteins Prosa als »verkettete Reihe von Textstücken, die weder eingeleitet noch resümiert werden«, habe sich nicht nur vom Essay als Schreibform, sondern von jeglichem Genre verabschiedet. Giesecke pointiert diese Überbietung des Essays durch philosophisches, essayistisches Versuchsdenken und Möglichkeitsschreiben in der Formel: »Je mehr Essayismus, desto weniger Essay.« (S. 175)

[10] 

Otthein Rammstedt präsentiert als Herausgeber und profunder Kenner den Korpus der ca. 50 Essays Georg Simmels. Nach einer Darstellung der Teil-Ganzes-Problematik im Werk Simmels und ihrer Konsequenz für sein Denken der Formen und der ›anschaulichen Gestalt‹ weitet Rammstedt im Modus vorsichtigen Fragens die Reichweite des Essayismus auf Simmels Gesamtwerk aus. Womöglich bleibe des Methode des Essaiysmus nicht auf die kleineren publizistischen Arbeiten Simmels beschränkt, sondern umfasse auch seine großen Monographien seit 1900. Die Philosophie des Geldes wäre demnach ebenso wie die große Soziologie (mit ihren allemal essayistischen Exkursen) und die Bücher über Goethe und Rembrandt auf ihr Verhältnis von Theorie und Essay hin zu untersuchen. Das Leitmotiv des Bandes, die Frage nach medialen und kultursoziologischen Kontexten der Essayistik traktiert Rammstedt freilich kaum. Simmel ist in seiner Darstellung ein weithin selbstschöpferischer Autor; determiniert sind für ihn nur seine abschreibenden Epigonen (Lukács) oder sein ihn aus verdrängtem Erbe heftig attackierender Nachfolger Adorno. Eine gelungene Kontextualisierung von Siegfried Kracauers Essayistik bietet dagegen Dirk Oschmann. Husserls Erkenntnismethode werde unter dem Einfluß Simmels und durch die mediale Prägung des Feuilletons als Publikationsrahmen von Kracauer zu einem Darstellungsverfahren einer materialen Phänomenologie weiterentwickelt. Profane Gegenstände wie Das Monokel oder Die Hosenträger werden in ihrer Konkretion und in ihrer Interaktion mit dem Einzelnen beschrieben.

[11] 

Das Verdienst, Autoren übergreifende thematische Panoramen der Essayistik zu entwerfen kommt drei Beiträgen zu. Wolfgang Pircher widmet sich dem Essay in den Gesellschaftswissenschaften bei Hume, Adam Ferguson und Marcel Mauss. Er diagnostiziert, daß sich im Essay ein Blick aufs Ganze und auf den Mensch schlechthin mit individueller Selbsterkenntnis verschränke. Eine Spezifik der Essayistik um 1900 oder ihre Kontextualisierung kommen hier nicht in den Blick. Jan Andres stellt den Essayismus der Kulturkritik und der ›Konservativen Revolution‹ dar. Dabei kommt er zum leicht zirkulären Schluß, daß Essays das zentrale Kommunikationsmedium der kulturkritischen Konservativen seien und regelmäßig auf ästhetische Vorbilder (Goethe, Rembrandt etc.) und Traditionen Bezug nehmen. Freilich würde erst eine Verhältnisbestimmung von Essayistik und anderen Gattungen im Schreiben der Konservativen Revolutionäre sowie ein Vergleich mit der links engagierter Essayistik ein genaueres Bild der Formen, Funktionen und des Stellenwerts kulturkritisch konservativer Essayistik liefern. Carola Hilmes Aufsatz über Essayismus und Weiblichkeitsentwürfe um 1900 unternimmt eine solche gattungsübergreifende Situierung von Frauenbildern der Jahrhundertwende. Die femme fatale wird neben der femme fragile, der Schauspielerin, der ›neuen Frau‹ und der intellektuellen Frau als Motiv in Ibsens Dramen sowie in den Schriften Lou Andreas-Salomés und Franziska zu Reventlows skizziert. Leider kommt neben der (bekannten) Galerie diverser Imaginationen von Weiblichkeit die Spezifik des Essays als Schreib- und Denkverfahren dabei etwas zu kurz.

[12] 

Glanzstücke zu Hermann Grimms Diashows;
Robert Walsers Bildlichkeit; Hofmannsthal und Nadler

[13] 

Der Leser von Forschungen zum Essayismus freut sich, wenn die Studien selbst auch etwas von der Frische des Gedankens und der Eleganz der Formulierung aufweisen, die man von einem gelungenen Essay erwartet. Dies trifft leider nicht auf alle hier versammelten Studien zu. Hervorgehoben werden sollen jedoch drei Aufsätze, die sich solcherart auszeichnen. Andreas Beyers Darstellung von Hermann Grimms Einführung der Diaprojektion als Standardmedium der Kunstgeschichte ist in der Sache nicht unbedingt neu. Heinrich Dilly ist der disziplinprägenden Verwendung der Lichtbilder schon wiederholt nachgegangen. Beyers Referat der Grimmschen Überlegungen zu den (gar gegenüber den Originalkunstwerken) vorteilhaften Qualitäten der Großprojektionen veranschaulicht jedoch in klarer und einleuchtender Weise, wie Grimms Vortragspraxis parallel zu seiner (im 19. Jahrhundert bekanntlich titelgebenden und bahnbrechenden) schriftstellerischen Essayistik ästhetische Erfahrung und deren Analyse ermöglicht:

[14] 
Um dieses Selbstvertrauen in die eigenen schöpferische Subjektivität, ihren eminenten Erkenntnischarakter, zu wecken, hat Grimm den Hörsaal verdunkelt und sein Skioptikon angeworfen. Gewiß lief er dabei Gefahr, das Auditorium in Platons Höhle zu verwandeln, in der bekanntlich die Schatten für die wahren Bilder gelten. Aber es scheint, als habe er gerade diese Einübung, im Dunkeln sehen zu lernen, als unverzichtbare, reinigende und transitorische Station auf dem Weg hin zu einer wirklich selbstbestimmten Position vor dem Kunstwerk begriffen, die überhaupt erst in die Lage versetzt, seiner Geschichtlichkeit auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. (S. 47 f.)
[15] 

Grimm erhielt seinen Ruf auf das Berliner Ordinariat (einen der ersten und gewiß prominentesten Lehrstühle für Kunstgeschichte) gerade auch wegen seiner höchst publikumswirksamen Vortragskunst und Publizistik. Medieneinsatz und essayistisches Schreiben war hier nicht nachträgliche Popularisierung akademischer Erkenntnis, sondern Vorstufe zur akademischen Etablierung von Sache und Person.

[16] 

Almut Todorow präsentiert Robert Walsers Essayistik, vornehmlich anhand seiner zahlreichen Kleist-Essays, als ein intermediales Schreiben. Walsers häufig selbstreflexive Essays kreisen um Fragen der Visualisierung im Medium der Schrift. Medialität wird hier, im Rahmen moderner Massenkommunikation problematisiert; meist auf implizite, bildhaft-poetische Weise im Plauderton. Durch Rückblicke auf die Bildlichkeit Montaignes und seine medienhistorische Verortung gelingt es Todorow, Walsers spezifisch moderne Reflexion auf Schrift, Bild und Lektüre historisch zu profilieren.

[17] 

Friedemar Apel ist der wohl eleganteste Beitrag zu dem Sammelband zu verdanken. Auf knappen neun Seiten skizziert er das auf Nähe wie Distanz beruhende Verhältnis von Hofmannstahl und dem berüchtigten Literaturhistoriker Josef Nadler. Beide teilen einen »Affekt gegen die Vorherrschaft des Geistes und des Begriffs«. (S. 215) Beide suchen »die Aufhebung der Vereinzelung des Subjekts auf dem Grund eines vermöge der Sprache beseelten Elementaren zu denken«. (S. 213) Apel rekonstruiert den wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund von Hofmannsthals wie Nadlers Ideen einer durch Dichtung beseelten Landschaft, einer emphatischen Kommunikation der Dinge, einer Vermittlung von Ich und Du, von Traum und Wirklichkeit. Bezugspunkte hierfür seien Herders Organisationslehre und der sogenannte ›Aktualismus‹. Wilhelm Wundt und der Geologe Charles Lyell versuchten mittels dieses Denkmodells, die Erfahrung der Welt durch kausale Einwirkung auf die Sinnesrezeptoren physiologisch zu erklären. Sprache – und für Hofmannsthal a fortiori poetische Sprache – soll gemäß dieses Aktualismus unmittelbar eine sinnliche Realität der Erfahrung produzieren.

[18] 

Hofmannsthal teile zwar Nadlers Verbindung von Landschaft und Menschen, beharre jedoch gegen Nadler auf der ästhetischen Differenz, die sich in der Individualität des Künstlers und des Kunstwerks äußere. Aus dieser widersprüchlichen Position werde auch verständlich, daß Hofmannsthal seinen lange geplanten Aufsatz zu Nadlers (bewunderter) Literaturgeschichte nicht schreiben konnte. Gegen den in Nadler verkörperten zeittypischen Hang zur Stiftung von Einheit und Gemeinschaft, der den Essay als kulturkritischen Interdiskurs auszeichne, der aber politisch furchtbare Folgen hatte, bewahre Hofmannsthal sein ästhetizistisches Beharren auf Form und auf Philologie:

[19] 
Daß Hofmannsthal ›eine neue deutsche Wirklichkeit, an der die ganze deutsche Nation teilnehmen könnte‹, trotz der politisch klingenden Kategorie der ›konservativen Revolution‹ ausschließlich als Form, nämlich ästhetisch denkt, setzt ihn in unüberbrückbare Distanz zu jeglicher Spielart des zeitdiagnostischen Essayismus der 20er Jahre, der die Einheit durch Atomisierung der Phänomene hindurch erzwingen will. (S. 221)
[20] 

Hofmannsthal gelinge es im Gegensatz zu Nadler »auch die leidvoll erfahrenen Widersprüche der Moderne gestaltend aus- und offenzuhalten«, indem er für die Steigerung der Vereinzelung und der Autonomie des Subjekts als »provokative Überbietung des neuzeitlichen Individuationsprogramms« optiere. (S. 221) Apel wiederum gelingt es, entscheidende ästhetische und letztlich politisch-weltanschauliche Differenzen im kulturkritischen Denken zweier zeittypisch Vermittlung suchender Essayisten zu profilieren.

[21] 

Fazit und Ausblick: Kontexte des Essays
und seiner Erforschung heute

[22] 

Die Einzelstudien profilieren teils auf recht fruchtbare Weise Wissenschafts- und Medienkontexte der jeweiligen Essayisten. Gleichwohl fällt es schwer an eine allzu lineare Determination der jeweiligen Essays aus ihren kultursoziologischen, medialen und wissenschaftshistorischen Rahmenbedingungen zu glauben. Zu groß dürfte in jedem Essay-Einzelfall die spezifische idiosynkratische Mischung aus Autor-Subjektivität nebst Zeitdruck, medialen Formatvorgaben und diskursiver Prägung sein, als daß man von generativen Diskursregeln des essayistischen Interdiskurses sprechen könnte.

[23] 

Die Auswahl der Fallbeispiele ist plausibel und bietet ein akzeptables Panorama der damaligen Essaylandschaft. Eine weitergehende Historisierung, welche die Spezifik der Situation um 1900 überzeugender herauspräparieren könnte, müßte freilich stärker auf historische Vergleiche eingehen. Welches wären etwa die Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen der Essayistik (und ihren epistemischen und medialen Rahmen) 1600, 1800, 1900 und 2000? Denn einen Verlust einheitlicher Wissenschaft und Kultur gibt es, ebenso wie Medienevolution – zumindest graduell – eben immer wieder. Wer die Situation um 1900 verstehen will, kommt wohl kaum ohne profilierende Vergleiche zum Vorher und Nachher aus. In solch tiefer gestaffelt historischer Weise aufgebaut ist die etwa zeitgleich entstandene Dissertation von Christoph Ernst Essayistische Medienreflexion. Die Idee des Essayismus und die Frage nach den Medien (Bielefeld, transcript Verlag 2005), die freilich eher spekulativ philosophierend denn positivistisch kontextualisierend argumentiert.

[24] 

Aus dem Zusammentreffen dieser beiden Neuerscheinungen zum Essayismus, nebst Reich-Ranickis Gleichberechtigung der Essays als fünfte Abteilung seines Kanons (nach Romanen, Erzählungen, Dramen und Lyrik) oder der amerikanischen Encyclopedia of the Essay sowie der Zeitschrift zur Sachbuch-Forschung Non Fiktion (hg. von Erhard Schütz u.a.) läßt sich ein gestiegenes Interesse am Essay und seiner Erforschung ablesen. Denn nicht nur um 1900 hatte die Essayistik Hochkonjunktur. Auch unsere Gegenwart besitzt mit Zeitschriften wie dem Merkur, der Neuen Rundschau oder Lettre International, mit den Feuilletons der großen Zeitungen und mit auflagenstarken populärwissenschaftlichen Sachbüchern bedeutende Orte der Essaypublikation. Inwieweit Internetblogs oder die jüngst zu beobachtende Welle an dokumentarischen Filmen als Phänomene des Essayismus zu verstehen sind, wäre gleichfalls ein ergiebiges Forschungsfeld.

[25] 

Eine Wissenschaft vom Essay bleibt allemal eine spannungsreiche Angelegenheit. Denn der proteische Essayismus ist beides: Vermittlung und Popularisierung der Wissenschaften, aber auch Kritik und Alternative zur Wissenschaft und ihren Darstellungsformen. Forschungen zum Essay als Denk- und Schreibform sind mithin auch ein wichtiges Moment der Selbstreflexion der Wissenschaft, wie sie im allgemeinen Trend der Science Studies und des Public Understanding of Science sowie im engeren, literaturwissenschaftlichen Bereich von ›Literatur und Wissenskulturen‹ auf der Tagesordnung stehen.

 
 

Anmerkungen

Tracy Chevalier (Hg.): Encyclopedia of the Essay. London: Fitzroy Dearborn 1997.   zurück