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Mit ethnologischem Blick auf die Literaturgeschichte

  • Helmut Kreuzer (Hg.): Deutschsprachige Literaturkritik 1870-1914. Eine Dokumentation. Unter Mitarbeit von Doris Rosenstein. 4 Bände. Bd. 1: 1870-1889, Bd. 2: 1890-1899, Bd. 3: 1900-1909, Bd. 4: 1910-1914. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2006. CXXVII, 2224 S. Gebunden im Schuber. EUR (D) 198,00.
    ISBN: 3-631-52129-4.
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Wer war Heinrich Staerk, wer Else Feldmann? Muß man heute noch wissen, was Karl Schrattenthal 1888 aus »Frauenschritftthum« mit »Freude und Dank« entgegennahm? Ist es für uns noch von Bedeutung, was Ida Häny-Lux 1902 im Magazin für Literatur für »Einwendungen« gegen Johannes Schlafs Roman Die Suchenden machte, durch die »das Verdienst Schlafs natürlich nicht geschmälert werden« sollte? Seit Nietzsches Unzeitgemäßen Betrachtungen fällt es schwer, den philologischen Bemühungen um eine »antiquarische Historie« nicht mit Skepsis, ja Verwunderung zu begegnen. Zeigen sie nicht tatsächlich das – wie Nietzsche meinte – »widrige Schauspiel einer blinden Sammelwuth, eines rastlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen«?

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Auch Nietzsche leugnete indes nicht, dass es historischer Bildung bedürfe, sie solle allerdings nur »zum Zwecke des Lebens« betrieben werden. Und dem Zweck des Lebens ist es durchaus dienstbar, die Vergangenheit nicht nur daraufhin zu durchmustern, was der Gegenwart noch bekömmlich erscheint. Mit ethnologischem Blick die eigene Geschichte ins Visier zu nehmen, schärft den Blick für die Relativität des scheinbar Unmittelbaren und die Mechanismen des Stil- oder gar Epochenwandels.

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Helmut Kreuzers vierbändige Dokumentation zur Deutschen Literaturkritik zwischen 1870 und 1914 bietet beides: Sie enthält historische Zeugnisse, die Anknüpfungspunkte an aktuelle Debatten enthalten, sie gestattet aber auch (und vor allem) einen historisierenden Zugang zu dieser für die Geschichte Deutschlands überaus folgenschweren Umbruchzeit. Dadurch rücken im Unterschied zur üblichen Praxis in Literaturgeschichten die damals vorherrschenden Wertungskriterien in den Mittelpunkt. Plastisch zeichnet sich nicht nur im literarischen, sondern auch im literaturkritischen Diskurs eine Entwicklung ab, die zunächst durch politische und soziale Veränderungen wie Reichsgründung und Industrialisierung geprägt war, um die Jahrhundertwende in Abkehr vom Naturalismus jedoch zunehmend von kunstimmanenten Überlegungen ihren Ausgang nahm.

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Die Dokumentation erschließt eine Fülle von Material aus Zeitungen und Zeitschriften, das nicht überall zugänglich ist. Sie ist daher eine vorzügliche Ergänzung der Reihe Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur, 1 aber auch des dritten Bands der von Hans Mayer herausgegebenen Deutschen Literaturkritik. 2 Während Mayers Sammlung für den Zeitraum von 1870 bis 1900 nur fünf Texte enthält, liefert jene Kreuzers weit über 300.

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Ausdrücklich (und zum Glück) versammelt sie nicht nur »Meisterwerke der Literaturkritik«, lässt bei der Auswahl also nicht literarische Gesichtspunkte dominieren wie das zum Beispiel bei der Edition der Theaterkritiken Theodor Fontanes geschehen ist. Nur dadurch ermöglicht Kreuzer überhaupt eine kulturhistorische Sondierung. Dass er ein sehr breites Autorenspektrum vorstellt, hat allerdings einen nicht zu unterschätzenden Nachteil. Auch von herausragenden Kritikern sind nur zwei oder drei Texte berücksichtigt, so dass man von ihnen lediglich einen ersten und leider nicht in jeder Hinsicht exemplarischen Eindruck gewinnen kann. Alfred Kerrs Vorliebe für Otto Brahms Bühnennaturalismus bei seiner gleichzeitig hartnäckigen Geringschätzung Max Reinhardts lässt sich als Leitlinie seiner Theaterkritiken genauso wenig erkennen wie der cantus firmus der Arbeit Siegfried Jacobsohns, der Reinhardt mit konstruktiver Kritik begleitete, mit Brahm dagegen fast immer ungnädig ins Gericht ging.

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Da Kritiken Jacobsohns, Kerrs und auch Alfred Polgars leicht in umfangreichen Auswahlausgaben greifbar sind, 3 kann man dieses Manko in ihrem Fall verschmerzen. Weniger leicht fällt das dagegen bei Fritz Mauthner und Paul Schlenther, die eine schärfere Profilierung verdient hätten. Man erfährt in Kreuzers Dokumentation nichts über Mauthners ebenso beherzte wie bedenkenswerte Vorschläge, dramatische Mehrteiler wie Shakespeares Heinrich IV./V. zu einem überschaubaren Bühnenabend zu kondensieren. 4 Man erfährt auch nichts über den heftigen Streit, den Schlenthers emphatische Besprechung einer Inszenierung von Ibsens Gespenster im Januar 1887 auslöste. 5 Das ist deshalb so bedauerlich, weil die dort zu Tage tretenden Meinungsunterschiede von großer Aktualität sind. Gestritten wurde nämlich über die Frage, welche gesellschaftlichen Folgen eine Gefährdung traditioneller familiärer Strukturen mit sich bringen würde, und so mutierte der Kulturteil der Vossischen Zeitung für einen damals noch seltenen Augenblick zum Debattenfeuilleton, in dem über weit mehr als nur ästhetische oder kulturpolitische Fragen diskutiert wurde.

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Ein anderes Versäumnis ist überraschend: Hätte man von Herbert Ihering nicht wenigstens eine Kritik aufnehmen müssen? Und wäre es nicht sinnvoll gewesen, den Texten kurze kontextualisierende Einleitungen voranzustellen wie es Norbert Jaron, Renate Möhrmann und Hedwig Müller in ihrer Dokumentation Berlin – Theater der Jahrhundertwende. Bühnengeschichte der Reichshauptstadt im Spiegel der Kritik (1889–1914) 6 und Günther Rühle in seiner zweibändigen Sammlung Theater der Republik im Spiegel der Kritik 7 getan haben?

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Je länger man sich in Kreuzers Dokumentation vertieft, desto weitreichender werden die Phantasien, was sich alles ergänzen ließe. Man darf darüber aber nicht den Blick für das hier Geleistete verlieren, denn das ist viel, sehr viel sogar, und das Ergebnis konkurrenzlos. Alfred Estermann hatte zwar Ende der 1970er Jahre eine Reihe von sieben Dokumentationsbänden zur Geschichte der deutschen Literaturkritik konzipiert, aber nur zwei konnten dann auch erscheinen: der von Peter Uwe Hohendahl bearbeitete Band 4 für den Zeitraum von 1848 bis 1870 8 und der von Jost Hermand bearbeitete Band 7 für den Zeitraum von 1945 bis 1980. 9 Kreuzers Dokumentation schließt eine Lücke, die längst hätte beseitigt sein müssen, und es ist sehr zu wünschen, dass dies bald auch für die Zeiträume geschieht, zu denen entsprechende Sammlungen immer noch fehlen.

 
 

Anmerkungen

Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur. 5 Bde (Bd. 1, 2: Realismus und Gründerzeit; Bd. 3: Naturalismus; Bd. 4: Jahrhundertwende; Bd. 5: Weimarer Republik). Stuttgart: Metzler 1976, 21981.   zurück
Hans Mayer (Hg.): Deutsche Literaturkritik. Vom Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik (1889–1933). Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 1978 (zuerst 1965 unter dem Titel »Deutsche Literaturkritik im zwanzigsten Jahrhundert. Kaiserreich, Erster Weltkrieg und erste Nachkriegszeit (1889–1933)« bei Goverts in Stuttgart).   zurück
Siegfried Jacobsohn: Gesammelte Schriften. Hg. von Gunther Nickel und Alexander Weigel in Zusammenarbeit mit Hanne Knickmann und Johanna Schrön. Göttingen: Wallstein 2005 – Alfred Kerr: »Ich sage, was zu sagen ist«. Theaterkritiken 1893–1919. Hg. von Günther Rühle. Frankfurt/M.: S. Fischer 1998 – Alfred Kerr: »So liegt der Fall«. Theaterkritiken 1919–1933. Hg. von Günther Rühle. Frankfurt/M.: S. Fischer 2001 – Alfred Polgar: Kleine Schriften. Hg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. Bd. 5 und 6: Theater I und II. Reinbek: Rowohlt 1985 und 1986.   zurück
Fritz Mauthner: Heinrich IV. im Deutschen Theater. In: Berliner Tageblatt, 20.2.1896, Abend-Ausgabe.   zurück
Vgl. dazu Gunther Nickel: Die Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Theaterkritik zwischen 1870 und 1933. In: satt.org [12.09.2006]. URL: http://www.satt.org/literatur/06_09_theater.html (Datum des Zugriffs: 02.01.2007).   zurück
Norbert Jaron / Renate Möhrmann / Hedwig Müller: Berlin – Theater der Jahrhundertwende. Bühnengeschichte der Reichshauptstadt im Spiegel der Kritik (1889–1914). 2 Bde. Frankfurt/M.: S. Fischer 1967, 21988.   zurück
Günther Rühle: Theater der Republik im Spiegel der Kritik. 2 Bde. Tübingen: Niemeyer 1986.   zurück
Vaduz: Topos 1984.   zurück
2 Teilbde., Vaduz: Topos 1988.   zurück