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Ungehobene Schätze des Wissens

Der barocke Polyhistorismus

  • Gerhild Scholz Williams: Ways of Knowing in Early Modern Germany. Johannes Praetorius as a Witness to his Time. (Literary and Scientific Cultures of Early Modernity) Ashgate 2006. 260 S. 30 s/w Abb. Hardcover. GBP 47,50.
    ISBN: 0754655512.
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Mit der vorliegenden Studie über das Werk von Johannes Praetorius (1630–1680) hat Gerhild Scholz Williams ein wichtiges Buch geschrieben. Es vermag über disziplinäre Grenzen hinweg Impulse dahingehend zu setzen, wie Kultur-, Literatur- und Wissensgeschichte ertragreich kombiniert werden können und sollten. Nicht nur aus methodischer Perspektive ist der Monographie eine breite Aufnahme zu wünschen: War der Leipziger Praetorius im 17. Jahrhundert einer der meist gelesenen Autoren, so ist die Beschäftigung mit den Exponenten der so genannten Kuriositäten- oder Kompilationsliteratur des Barock heute weiterhin unpopulär. Exakt darum geht es Scholz Williams: um die Erweiterung eines erstarrten Kanons der Literaturgeschichte, der die Werke volkstümlicher Polyhistoren im Zuge eines Trivialitäts-Urteils weiterhin allenfalls mit »mild interest, bordering on condescension« (S. 5) zur Kenntnis nimmt. Scholz Williams‘ Einspruch: »They [die Werke der Polyhistoren] are a treasure trove for studies on seventeenth-century literature and culture« (S. 5). Über die Analyse von Schlüsseldiskursen im Werk von Praetorius möchte Scholz Williams ihn als ›Zeitzeugen‹ eines nicht nur krisenhaften, sondern auch produktiven Jahrhunderts zeigen und die Interpretation der »Ways of Knowing« aus den historischen Voraussetzungen entwickeln.

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Kein Platz im Gattungskanon

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Schon die Nomenklatur einer Gattungssystematik stellt ein solches Vorhaben vor Probleme. Mehr oder weniger treffende terminologische Hilfsgebäude versuchen die verwirrende Komplexität der Wissensliteratur des Barock zu etikettieren: Buntschriftstellerei, Reihenwerke, Kuriositäten- oder auch »Theatrum literature« (S. 5). Sie repräsentiere ein Ideal des Wissens, das über den beschränkten Fokus heutiger Spezialisierung hinausreicht und auf das Vertrauen setze, die Gesamtheit des Wissens und Lernens zugänglich zu machen. Praetorius sei in diesem Kontext insofern Polyhistor, als er sein disparates Material kompiliert und Informationen neu arrangiert, um so zum Fortschritt des Wissensprozesses beizutragen. Neben einem präzise entwickelten begrifflichen Instrumentarium offenbart das Einleitungskapitel eine instruktive Makroperspektive. Scholz Williams sieht Grundstrukturen des 17. Jahrhunderts als Schwellenzeitalter in Praetorius’ Wissensbestand reflektiert: Etwa das Miteinander von Alt und Neu, von lokalen und globalen Bezügen, von magischer Weltsicht und empirischer Spekulation, der Deutung des Wunderbaren und der Beschleunigung der Kommunikation.

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Kreative Schwellenzeit

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Verschiedene Wege des Wissens schlossen sich bei Praetorius nicht aus: »old and new inspired variant explantory patterns« (S. 7). Dass Inkohärenz im Hinblick auf die Organisation der gewaltigen Materialmengen damit vorprogrammiert ist, wertet Scholz Williams nicht länger als rückständiges Symptom, sondern als Teil des »creative potential of the age« (S. 16). Die Einleitung ist vorbildlich in ihrer weiten Kontextualisierung auch insofern, als Scholz Williams auch die infrastrukturellen Prämissen in Rechnung stellt: Praetorius konnte in Leipzig aus zwei Bibliotheken seinen Wissensfundus zusammentragen, auch war die Position der Stadt als aufstrebender Standort der Buchmesse und innerhalb der Zeitungsproduktion entscheidend. Praetorius habe die Konsumbedürfnisse einer wachsenden, gebildeten Leserschicht im Hinblick auf ökonomische, politische, religiöse und kulturelle Phänomene zu befriedigen versucht. Wie dies im Einzelnen aussah, möchte Scholz Williams an der Analyse von insgesamt acht Werken zeigen, »that speak most effectively to his time, his culture, and his ways of knowing« (S. 13).

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Wunderbare Rassen

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Im ersten Kapitel wendet sich Scholz Williams dem Anthropodemus Plutonic / Das ist / Eine Neue Welt-Beschreibung / von allerley / Wunderbaren Menschen (1666) zu. Praetorius’ Sammlung allerlei menschlicher und menschenähnlicher ›Wunder‹ ist charakteristischer Ausdruck eines weiteren publizistischen Phänomens. Wie sehr die Wirklichkeit auch für Praetorius von der Erfahrung des Wunderbaren durchsetzt war, zeigt Scholz Williams eindrücklich durch autobiographische Einsprengsel im Anthropodemus. Hinsichtlich seiner Anlage sei der Anthropodemus nichts Neues, es sei allerdings auch bewusst nicht um thematische Originalität, sondern um Arrangierung und Vermittlung des gesammelten Quellenmaterials gegangen. So entlehnt Praetorius Aspekte aus der Geographie, der Geschichte, der Dämonologie, der Kosmologie und Naturgeschichte – »in order to explain, instruct, amaze, and amuse his readers« (S. 32).

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Ordnung von
neuen und alten Autoritäten

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Als Prinzip der Ordnung betont Scholz Williams das hohe Gewicht der alphabetischen Anlage, die aus dem Anthropodemus eine lemmaartige Wunderliste macht. Praetorius verteidigt mehrmals diese unsystematische, weil zusammenhangslose Organisation. Die Methode des Schreibens selbst böte einen »mix of the scholarly, the learned, and the popular« (S. 40). Scholz Williams findet pointierte analytische Kommentare und auch hier gelingt die Einbettung in kultur- und wissensgeschichtliche Verläufe vorbildlich: etwa in der Diskussion der Auseinandersetzung Praetorius’ mit der populären Naturphilosophie von Paracelsus. Letztlich dominiere im Anthropodemus ein typisches Oszillieren zwischen Glauben und Skepsis. Die Wunder-Topographie erreiche im Ganzen ihre Prämisse, »namely to present, order, categorize, and, where possible, explain the world in all its diversity to its reader« (S. 53).

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Topographie und Dämonologie:
Die Landschaft und Rübezahl

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Besonders die Motive zweier Werke vermochten die Vorstellungswelt des 17. Jahrhunderts besonders zu prägen: Die episodische Sammlung über die Riesenfigur des Rübezahl (Daemonologia Rubinzalii, 1668–1673) und die Hexen-Dämonologie Blockes-Berges Verrichtung (1669). In beiden Fällen besticht besonders, dass Scholz Williams die Verschmelzung von realer Topographie und mythologisch-magischen Landschaften herausarbeitet: Rübezahl ist nur im Riesengebirge denkbar, die Hexen vom Blocksberg sind es nur im Harz. Als gleichermaßen imaginären und realen Landschaften komme geographischen Orten eine narrativ bestimmende Rolle zu. Scholz Williams spricht von »geo-demonologies« (S. 67). Sie arbeitet die Komposition des Werks klar heraus, identifiziert die verschiedenen Überlieferungsstränge und betont die charakteristische formale Anlage durch eine akrostische Textorganisation. Als maßgebliches Problem ergebe sich die Frage der Positionierung des Riesen zwischen positiven und dämonischen Assoziationen. Es bleibe bei einer »Giant´s Ambiguity« (S. 77). Deutlich entwickelt das Kapitel, wie Praetorius’ disparate Argumentationsmuster und frühneuzeitliche Theorien des Außernatürlichen in einem »mythographic narrativ« (S. 72) zusammenbringt, »that is open to variant interpretations« (ebd.).

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Hexenglauben und
empirische Naturwissenschaft

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Anders als bei der Deutungsunsicherheit gegenüber Rübezahl herrscht über die dämonische Natur der Hexen vom Blockes-Berg kein Zweifel. In einer »Excursion into the Harz Mountains« (S. 87) entwirft Scholz Williams erneut auf plastische Weise den Zusammenhang von Topographie und Dämonologie. Sie zeigt, wie Praetorius nicht nur eine Debatte über die wirklichen oder imaginären Kräfte der Hexen liefert sowie exakte Angaben über ihre Versammlungsorte im Harzgebirge, der »mother of all German forests« (S. 91). Das Kompendium gehe in seiner Informationsvielfalt phasenweise so weit, dass selbst mineralogische, botanische und zoologische Details ausgebreitet werden. Die Beschreibung des Blocksbergs selbst liefere einen detaillierten Rückblick auf zweihundert Jahre literarischer Tradition: Materialbezogen sei demnach das, was geboten wird, für den in Dämonologie Bewanderten nichts Neues. Originär sei jedoch Praetorius‚ »narrative pragmatism« (S. 91): eine Verbindung aus der Vermittlung ›praktischen Wissens‹ um reale Räume und der Information über außer- und übernatürliche Ereignisse. Auf diese Weise erziele er die Leistung, »diverse methods of knowledge production« (S. 91) zu verschmelzen. Die Integration protowissenschaftlicher und volkstümlicher Glaubenssysteme, die Offenheit für eine ganze Bandbreite neuer Wege der Wissensgenerierung streicht Scholz Williams dabei überzeugend als ein Charakteristikum des Jahrhunderts im Allgemeinen heraus.

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Das Wunderbare in der
Evolution der Medien

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Im dritten Kapitel »The Global and the Local: Wonders in the News« wendet sich Scholz Williams erneut dem Kernthema des Wunderbaren zu und setzt es in den Kontext der medien- und pressegeschichtlichen Evolution der Zeit. Die Autorin sieht die Modernität von Praetorius in diesem Kapitel vor allem in seiner Fähigkeit zur Auswertung auch neuester Quellengattungen und Presseerzeugnisse, die ihn zum Chronisten seiner Zeit machen. Im Rahmen der entstehenden periodischen Presse waren Wunder so aktuell und breit verfügbar wie niemals zuvor. Zunächst gibt Scholz Williams einen konzisen Abriss der Kommunikationsrevolution durch das dichter werdende Postnetz und die entstehenden Zeitungen. Aktuelle »Relationen« aus Leipzig, wo gegen Mitte des Jahrhunderts auch die erste Tageszeitung überhaupt entstand, seien als Rohmaterial in die eigene Textproduktion Praetorius’ eingeflossen. Wie sehr seine heterogenen Texte vom neuen Medientypus profitierten, zeigt Scholz Williams anhand des Kometentraktates Adanatus Cometologus (1665), der jährlichen Weltchronik Zodiacus Mercurialis (1666, 1667, 1668) sowie Deutschlandes Neue-Wunder Chronick (1678). Besonders charakteristisch dürfte der Adanatus Cometologus für den ambivalenten Status der Wunderzeichen-Produktion im Jahrhundert der ›Wissenschaftlichen Revolution‹ sein: Das Erscheinen von Kometen, bis dato untrügliche Zeichen göttlichen Zorns und drohenden Unheils, wird nicht länger monokausal gedeutet – neue astronomische Kenntnisse destabilisieren alte Gewissheiten. Das von Scholz Williams gezogene Resümee ließe sich im Hinblick auf einen gradweisen Bedeutungsverlust alter Zeichen im 17. Jahrhundert verallgemeinern: »Here as in other writings, Praetorius struggles to separate the role of comets as natural phenomena from their role as warnings from God´s wrath« (S. 120).

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Von der Erzählung zur Meldung

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Präsentiert sich Praetorius im Kometen-Traktat als Interpret von Himmelserscheinung, so erweitert sich in der jährlichen Chronik Zodiacus Mercurialis das Spektrum des Wunderbaren: Außergewöhnliche Ereignisse und phantastische Phänomene aller Art qualifizierten sich zur Aufnahme in die Sammlung, aber auch Medizinisches und Politisches. Einerseits setze sich im Zodiacus das schon im Kometen-Traktat konstatierbare Charakteristikum der Buntschriftstellerei weiter durch, vermischte Sensationsmeldungen unter der Prämisse der Information und Unterhaltung zu publizieren. Andererseits sieht Scholz Williams die Tendenz zur Flüchtigkeit in der Jahreschronik als narratives Prinzip noch weiter zugespitzt. Sie zeigt schlüssig, wie die Reportage von Neuigkeiten den Textstil von Praetorius transformiert. Da Praetorius zudem weitgehend auf eine Kommentierung verzichtet, werden neue Anforderungen an die Lesekompetenz gestellt. Mit dieser Textorganisation lehne sich Praetorius an die erfolgreichste Chronik des Jahrhunderts an, das Theatrum Europaeum. Völlig zu recht nimmt Scholz Williams Praetorius’ wiederholtes Ausschreiben der größten Jahrhundertchronik zum Anlass, ihre »importance in seventeenth-century publishing history« (S. 124) mit einem Exkurs zu würdigen – bis dato bleibt eine größere Studie ein Forschungsdesiderat. Am Beispiel der geographisch stärker begrenzten Deutschlandes Neue-Wunder Chronick (1678) zeigt Scholz Williams abschließend noch einmal überzeugend die charakteristische Vermengen von Wunder und Wissenschaft im Rahmen von Nachrichten-Meldungen.

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Sozialkritische Perspektiven:
Der männliche Blick auf
die frühneuzeitlichen Frau

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Das letzte Kapitel »Gender and Class: The Woman´s Lot« gefällt in seiner komplementären Rolle ausnehmend. Praetorius publizierte nicht nur Wunder. Scholz Williams zeigt die Vielfalt im Werk eines Polyhistors, der den gesellschaftlichen wie geschlechtlichen Status Quo nicht nur dokumentiert, sondern auch moralisiert. In zwei Traktaten geht das Kapitel dem männlich vermittelten Blick auf die frühneuzeitliche Frau nach. Zwar relativiere der Dulc-Amarus Ancillariolus. Das ist: der süß-wurtzligte und saur-ampfertige Mägdte-Tröster (1663) die misogynen Voraussetzungen des Zeitalters nicht. Es handele sich um ein Beispiel der populären Unterweisungsliteratur, konzipiert für ein bürgerliches Milieu. Doch so fände sich andererseits im Vergleich der unterschiedlichen sozial-ökonomischen Bedingtheiten von »Magd« und sozial privilegiertem »Fräulein« ein sozialkritischer Unterton. Sein »verbal crusade« (S. 181) gegen Eitelkeit macht ihn auch zum Prophet drohenden politischen Unheils: Bei zunehmender ›Verweiblichung‹ Deutschlands sei eine kriegerische Niederlage gegen den türkischen ›Erz-Feind‹ sicher. Mit Apocalypsis Mysteriorum Cybeles: Das ist eine Schnakische Wochen-Comedie (1662) wechselt die Perspektive in das frühneuzeitliche Geburtszimmer und das Ausgeschlossensein des Mannes aus dieser Sphäre für die Bettphase der Mutter nach der Geburt. Deutlich akzentuiert Scholz Williams die sozialen und geschlechtlichen Implikationen des Szenarios: Praetorius präsentiert dem Leser fiktive Konversationen, die spionierende Männer an der Tür zum Geburtszimmer protokolliert hätten. Dabei ironisiere er männliche Neugier und den vermeintlichen weiblichen Hang zum Klatsch gleichermaßen. Doch gehe es mit der Intention der Belehrung auch um Weiterreichendes: Erreicht würde eine »symbiosis between the small private room and the larger public space« (S. 202), die letztlich ein besseres Verständnis für die Determinanten weiblicher Existenz im städtischen Kontext des 17. Jahrhunderts befördere.

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Zum Schluss:
Nicht nur das ›Dunkle Jahrhundert‹

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Polyhistoren wie Praetorius gehörten zu den erfolgreichsten Autoren ihrer Zeit. Sie sind für Fragestellungen unterschiedlicher Disziplinen eine reiche Grundlage, um über populäre Lesestoffe den prägenden Wissensdiskursen des Jahrhunderts nachzugehen. In ihrem enormen wie disparaten Oeuvre reflektiert sich die Janusköpfigkeit eines Jahrhunderts, das traditionelle und ›moderne‹ Formen des Wissens noch weitgehend zu integrieren versucht. Populärer Polyhistorismus richtete sich gleichermaßen an Laien wie gebildete Leser, wollte simultan belehren, unterhalten, informieren und stand vor dem Problem, das erweiterte Wissen um die Welt neu zu kategorisieren. Vor jeder Spezialisierung liegen in den universalen Zügen der Zeit doch die Anfänge späterer Spezialdisziplinen. Dem Anspruch, die verschlungenen »Wege des Wissens« durch die Feder eines einzigen Polyhistors aufzuzeigen, wird Gerhild Scholz Williams vortrefflich gerecht – durch die repräsentative, weil heterogene Quellenauswahl, durch die analytische Qualität und die komplexe Argumentation, durch die jeweilige Kontextualisierung: Besonders die vielfältigen Anmerkungen zur polyhistorischen Methode der Textorganisation lassen Parallelen zu anderen seines ›Fachs‹ erkennen, etwa zu Eberhard Werner Happel. Nicht zuletzt fällt der gut lesbare Stil auf. Das Fazit des Buches zeigt einer Forschung, die bereit ist, über die etablierten Kerntexte hinauszublicken, welche Perspektiven auf das 17. Jahrhundert noch offen stehen: Praetorius’ Oeuvre biete »a reflexion of seventeenth-century Germany that is surprinsingly textured and alive with narrative detail.« (S. 220). Das einzig Ernüchternde ist der Preis des Buches.