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Historische Erzählungen sind immer gut - Hauptsache: gut

Ulrich Kittstein schreibt über geschichtliche Narration zwischen 1918 und 1945

  • Ulrich Kittstein: Mit Geschichte will man etwas. Historisches Erzählen in der Weimarer Republik und im Exil (1918-1945). Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. 380 S. Geheftet. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 978-3-8260-3323-0.
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Die Studie beginnt mit einem Hinweis auf die »Wiederkehr der Narrativität« (S. 10) und bestätigt am Ende, dass »von einem ›Tod des (historischen) Erzählens im zwanzigsten Jahrhundert‹ [...] keine Rede sein« könne (S. 340). So darf derjenige, der sich mit historischem Erzählen zwischen 1918 und 1945 befasst, sicher sein, ein aktuelles Thema aufzugreifen. Dieser Rechtfertigung hätte es freilich gar nicht bedurft, denn das Forschungsgebiet zeichnet sich durch große Vielseitigkeit und die längst anerkannte Relevanz des immensen Textkorpus in der untersuchten Epoche aus. Den Verfasser interessieren zunächst jedoch vor allem systematische Aspekte: er geht nicht von konventionellen Genres, dem historischen Roman oder der Romanbiographie aus, auch nicht von ideengeschichtlichen und zeithistorischen Kontexten, sondern vom historischen Erzählen als interdisziplinärem Phänomen, wobei ebenso fiktionale Erzählungen gemeint sind wie geschichtliche Fach- und Sachliteratur in Erzählform.

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Interdisziplinäre Problemlage und drei historische Debatten

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Kittstein nimmt für seine Studie in Anspruch, die theoretischen Grundlagen dieser interdisziplinären Problemlage erstmals zusammenhängend im Blick auf historische Erzählungen der Jahre 1918 bis 1945 zu entfalten. Die prominentesten theoretischen Positionen zum historischen Erzählen in Literatur und Historiographie werden in den einleitenden Kapiteln referiert: Arthur C. Danto und Hayden White, Gérard Genette und Paul Ricoeur, Reinhart Koselleck und Jörn Rüsen usw. Dabei fasst die Exposition bekannte Thesen eher zusammen, problematisiert sie kaum in neuer Weise. Das Ergebnis wird daher niemanden überraschen: Das narrative Schema erlaube eine historische Modellbildung in Literatur wie Wissenschaft, wobei dennoch zwischen Historiographie und Fiktion kategorial unterschieden werden könne.

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Der Hauptteil der Arbeit basiert auf dem ausführlichen Referat dreier historischer Debatten: der Artikulation einer dramatisch empfundenen »Krisis des Historismus« in der Zeit seit dem ersten Weltkrieg, der Polemiken um die Romanbiographien der späten zwanziger Jahre und der Diskussionen um die Funktion historischer Romane im Exil nach 1933. Die einzelnen Textanalysen stehen deutlich im Banne dieser in der Forschung übrigens schon gut aufgearbeiteten Debatten, und zwar so sehr, dass die ausgewählten Erzähltexte durchweg als Illustrationen dieser diskursiven Kontexte vorgeführt und die systematischen Aspekte aus der Einleitung zweitrangig werden. Während die »Krisis des Historismus« durch keine speziellen Erzähltexte erhellt wird oder aber sämtliche interpretierten Erzählungen noch in ihrem Zusammenhang stehen, gibt Emil Ludwig die Probe aufs Exempel, wenn es um die »biographie romancée« geht: schließlich entzündete sich die Polemik vornehmlich an seinen Büchern.

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Im Zusammenhang der zeitgenössischen Polemiken um die Romanbiographie sieht Kittstein auch Bert Brechts Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar, Siegfried Kracauers Jacques Offenbach und Heinrich Manns Henri Quatre, womit schon Titel genannt sind, die erst nach 1933 abgeschlossen wurden. Wieder im Zeichen der aktuellen Debatten steht das Kapitel über Henri Quatre: Es setzt sich ganz überwiegend mit Georg Lukács’ Reaktionen auf den ersten Band im Kontext der antifaschistischen Literaturpolitik auseinander.

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Bei den weiteren Analysen zu einigen Erzähltexten Stefan Zweigs, Lion Feuchtwangers und Alfred Döblins geben die ausführlichen Selbstkommentare oder programmatischen Texte der Autoren den Interpretationsrahmen. Kittstein nutzt die gut erschlossene Überlieferung also durchgehend da, wo die wechselseitige Erhellung von diskursiven und narrativen Texten der Analyse den Weg vorzeichnet.

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Grenzüberschreitung zwischen
historiographischen und fiktionalen Texten

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Der Untertitel, der die Grenzüberschreitung zwischen historiographischen und fiktionalen Texten andeuten soll sowie die Kontinuität zwischen Weimarer Republik und Exil, erweist sich dabei als irreführend. Kracauers Offenbach kann als einziges Beispiel für einen Sachtext ganz bestimmt nicht die ganze Bandbreite nichtfiktionaler Geschichtserzählungen vertreten, die der Einleitung zufolge doch ausdrücklich berücksichtigt werden sollte. Wenn es denn um Narration als Medium historischer Konstruktion schlechthin gehen sollte, hätten sich wissenschaftliche Biographien zünftiger Wissenschaftler sicher mit Gewinn neben die sogenannte biographie romancée stellen lassen. Die Geschichtswissenschaft erweise sich in der fraglichen Epoche als unflexibel und rückständig, so Kittstein, wohl deswegen bedarf es keiner Belege aus diesem Feld. Mit Brecht und Kracauer gelangt eine soziologische und wirtschaftsgeschichtliche Perspektive in die historische Erzählung. Wie Psychoanalyse und Theologie, Kunstgeschichte und Ethnographie oder andere innovative Disziplinen der Zeit Geschichte erzählen, ist nicht das Thema der Arbeit. Die Einleitung deutete es schon an: Die einzige Alternative zur disziplinären Geschichtsschreibung bildet in dieser Untersuchung eine moderne (oder postmoderne) Erzählpoetik. Der Leser erfährt von rückständigen Wissenschaftlern und mehr oder weniger originellen Literaten. Warum im übrigen die Wahl ausgerechnet auf die ausführlich bedachten Texte von Emil Ludwig, Brecht, Kracauer, Heinrich Mann, Stefan Zweig und Döblin fiel, wird nicht begründet; sicherlich gehören sie zu den besterforschten Texten aus einem fast unerschöpflichen Korpus denkbarer Beispiele.

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Epochengrenzen und ihre Überschreitung

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Auch die zweite Grenzüberschreitung, die der Untertitel benennt, die Ausdehnung des Berichtszeitraumes von 1918 bis 1945 erweist sich als problematisch. Tatsächlich hat die Forschung, die sich umfassend und nicht nur exemplarisch mit historischen Erzählungen der Zeit befasst hat, meist nur die frühere oder spätere Phase untersucht. Die Zusammenfassung beider Abschnitte gelingt Kittstein jedoch nur zum Teil. Die Jahre bis 1933 rekonstruiert er nämlich fast ausschließlich als Folie jener Debatten um Historismus und Romanbiographie, als deren Verlängerung die Auseinandersetzungen über die Funktion des historischen Erzählens im Exil dann erscheint und vor deren Hintergrund demnach auch die Produktion nach 1933 zu verstehen wäre. Der einzige ausführlicher behandelte Erzähltext aus dieser ersten Phase ist Emil Ludwigs Napoleon. Gelegentlich wird diese Wahl mit der Popularität des Titels begründet, ein Kriterium, das dann keine Rolle mehr zu spielen scheint.

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Wenn wir aber von der Erzählproduktion vor 1933 eigentlich nichts erfahren, so stellt sich natürlich die Frage nach dem literaturgeschichtlichen Verhältnis zwischen Weimarer Republik und Exil, um das es ja ausschließlich geht. Es gebe einen Bruch, aber keinen totalen, sagt Kittstein. Dass das Exil nur einen Teil der deutschsprachigen Literatur vor 1933 fortsetzt, scheint selbstverständlich. Leicht kann so der Eindruck entstehen, historisches Erzählen zwischen 1918 und 1933 sei ausschließlich die Sache linksintellektueller und jüdischer Autoren gewesen, nur wer entkam, interessiert, und die Literatur im nationalsozialistischen Deutschland kann getrost sich selbst überlassen bleiben.

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Spielen aber historische Entwicklungen und politische Dimensionen überhaupt eine Rolle, da es doch hauptsächlich um systematische Aspekte zu gehen scheint, die an Exempeln zu verdeutlichen sind? Um Erzählperspektiven, um zugrunde gelegte Strukturmodelle des Historischen, um mimetische oder konstruktive Darstellungen der Geschichte? Um das Verhältnis zwischen programmatischen Äußerungen und Erzählung? Doch Kittstein will die historischen Erzählungen gar nicht von der gesamtgeschichtlichen Entwicklung abtrennen. Er selbst ist es, der uns auf Originalität und Konventionalität der Erzählungen verweist, auf Weimarer Republik und Exil, auf fiktionale und historiographische Erzählungen. Damit markiert er Relationen voller Implikationen, von denen leider meist nur eine Seite beleuchtet wird oder die zweite nur punktuell. Die entscheidende Frage sei aber nicht, heißt es am Ende, »ob Geschichte überhaupt erzählt werden soll, sondern wie man sie gut erzählen kann« (S. 340). So erfahren wir im Fazit, dass ein Autor »vom Schlage Emil Ludwigs« Vorurteile bestärke, während Döblin den Menschen auf die Gestaltung der Zukunft verweise und Brecht zum konstruktiven Mit-Denken auffordere (S. 339). Gut kann man also nur im Exil erzählen?

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Fazit

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Die Studie ist übersichtlich gegliedert, anschaulich und flüssig geschrieben, sachlich insgesamt zutreffend. Wer einen Überblick über die relevanten Debatten der zwanziger und dreißiger Jahre gewinnen, sich auf den einen oder anderen Erzähltext einlassen will, dem kann das Buch empfohlen werden. Einen differenzierten Aufriss jener Fülle und Vielfalt, die der Titel bezeichnen könnte, gibt es uns nicht.