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Arbeit am Mythos: Medea

  • Inge Stephan: Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur. Köln, Weimar: Böhlau 2006. VI, 332 S. 75 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3-412-36805-0.
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Seit Horkheimer/Adorno den Mythos als Produkt der Aufklärung bestimmten, Hans Blumenberg ihn als Resultat einer Arbeit am Mythos vorstellte und Roland Barthes ihn als Aussage verstand, die lediglich formale, keineswegs aber inhaltliche Grenzen auferlegt, hat sich der Blick auf die ästhetische Mythenrezeption, insbesondere jene durch die Literatur, gewandelt: Mit jeder Neuinszenierung des Mythos rezipiert der literarische Text den Mythos nicht nur, sondern produziert ihn auch, erfüllt damit eine mythopoietische Funktion, die in der Auseinandersetzung mit der vorausgehenden Stoffgeschichte stets auch mythenkritische Reflexionen leistet. 1

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Die Kulturgeschichte der Medea-Figur macht diese »Arbeit am Mythos« in besonderer Weise deutlich – angesichts einer langen und annähernd ungebrochenen Tradition medialer Inszenierungsversuche. Der Mythos von der Tochter des kolchischen Königs, die aus Rache am untreuen Partner Jason die eigenen Kinder tötet, hat unzählige Texte aller Epochen beflügelt und dabei durchaus heterogene Deutungen hervorgebracht. Lüdger Lütkehaus spricht in seiner Textsammlung Mythos Medea von über 300 »Medea-Metamorphosen« und erhebt damit zugleich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da er Adaptionen etwa durch den Film unberücksichtigt lässt. Innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung ist die ungeheure Präsenz dieser mythologischen Figur nicht unbemerkt geblieben und hat gerade zu Beginn des dritten Jahrtausends zu zahlreichen Studien geführt, die dem Reichtum an literarischen Medea-Versionen gerecht zu werden versuchen. 2

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Methodisches Vorgehen

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Vor dem Hintergrund dieser umfangreichen Stoffgeschichte des Medea-Mythos zum einen und dem nicht versiegenden literatur- und kulturwissenschaftlichem Interesse daran zum anderen versteht Inge Stephan Medea in ihrer jüngsten Studie als immer schon ambivalent besetzte Bezugsfigur (S. 1), die in die Kulturgeschichte als Täterin und als Opferfigur zugleich eingegangen ist. Um die unterschiedlichen Facetten der Figur ausleuchten zu können und der Bandbreite des Mythos gerecht zu werden, legt sie ihrem Überblick ein beeindruckend umfangreiches Material zugrunde, das neben internationalen literarischen Texten zugleich filmische und musikalische Adaptionen sowie Werke der bildenden Kunst berücksichtigt.

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Dabei reflektiert Stephan die mythologische Figur ausgehend von vier »großen Konfliktfeldern«, in welche sie Medea konstitutiv eingebunden glaubt und die sie als den argumentativen Rahmen ihrer Untersuchung voraussetzt: Sie bestimmt Medea erstens als positive wie negative Identifikationsfigur weiblicher Emanzipation, zweitens als zentrale Bewältigungsfigur, an der sich die Überwindung politischer und familiärer Krisen gleichermaßen manifestiere und drittens als Projektionsfigur, über die Fragen nach Ethnizität und Rassismus ästhetisch verhandelt würden. Zuletzt wird Medea als Reflexionsfigur gedeutet, die nach der grundsätzlichen Bedeutung von Gewalt und ihrer Legitimität zu fragen scheint. (S. 4 f.) Die fünfzehn thematisch gebündelten Kapitel des Buches nehmen diese vier einleitend skizzierten Konfliktfelder auf, durch die sie gleichzeitig – wenngleich recht lose – inhaltlich zusammengehalten werden.

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Diskursfelder des Mythos

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Stephan greift in den einzelnen Kapiteln, jenseits einer chronologischen oder nach Künstlern orientierten Anordnung, Diskursfelder auf, welche die kaum noch überschaubare Tradition an Medea-Inszenierungen in Vergangenheit und Gegenwart prägen und zugleich klassifizieren. Einige Themen lenken den Blick dabei auf durchaus populäre Motivfelder, etwa wenn Medea in ihrem Gegensatz von »[m]örderischer Mutter und Heroine der Mütterlichkeit« (S. 7), als Figurierung des ›Fremden‹ oder genderorientiert des ›Anderen‹ (S. 49), als »›Bewältigungsfigur‹ in politischen Umbruchzeiten« (S. 141) oder als favorisiertes Objekt feministischer Diskurse (S. 158) thematisiert wird.

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Andere Kapitel hingegen fächern diskursive Kontexte auf, die bislang weniger berücksichtigt wurden und folglich das noch immer nicht ausgeschöpfte Innovationspotential der mythologischen Figur belegen: So liefert etwa das zweite Kapitel zu »Medea im Schnittpunkt zwischen alter und neuer Familienordnung« aufschlussreiche Ergebnisse, die vorrangig aus dem Vergleich bekannter und weniger prominenter Texte des 20. Jahrhundert mit den Inszenierungen der Antike, Euripides’ und Senecas Medea, resultieren. Im Rahmen ihrer diachronen Analyse familialer Strukturen in der Medea-Literatur erkennt Stephan ein unübersehbares Interesse an der Figur bei Autoren und Autorinnen des 20. Jahrhundert und sieht dieses gerade in der »paradoxen Einbindung der Figur in familiale Ordnungen, die zunehmend verfallen« begründet. (S. 47) Insgesamt gelingt es ihr, einen überzeugenden Bogen zwischen antiker Figur und moderner Adaption zu spannen, der die zwischen Wandel und Beständigkeit changierende kulturgeschichtliche Tradition ausstellt.

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Zu Recht gilt ein Schwerpunkt der Studie über die Medea-Figur hinaus dem Kontext, der den Mythos entscheidend prägt. Jason und die Argonauten werden ebenso wie die Paarkonstellation Medea-Jason und auch die Semantik des goldenen Vlieses anhand zahlreicher repräsentativer Beispiele in ihrer Bedeutung erarbeitet. Der besondere Verdienst Stephans liegt dabei in ihrer bewussten Überschreitung von Epochen- und Gattungsgrenzen begründet. So schließt sich etwa an die Analyse der Medea-Trilogie Grillparzers, Das goldene Vließ (1822), ein Blick auf kaum bekannte Inszenierungsversuche, wie Ruth Tesmars zwanzig Objekte und Bilder umfassenden Medea-Zyklus aus den späten 1990er Jahren und Helga M. Novaks Gedicht ich erzähl dir vom Vlies (1985), an. (S. 90–96)

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Der erklärte Verzicht auf in separate Kapitel gebannte literaturwissenschaftliche Einzelanalysen oder eine chronologische Darstellung der Medea-Figurationen kommt den interdisziplinären Ansatz der Studie zugute, impliziert allerdings auch die latente Gefahr einer allzu subjektiven Selektion und damit einer möglicherweise reduziert erscheinenden Lesart mancher Texte. So können etwa die vorhandenen Analyseansätze zu Christa Wolfs Medea. Stimmen durchaus überzeugen, die zum einen den Text als »Familienroman« (S. 41–46), zum anderen – gendertheoretisch motiviert – Medea als »eine positiv besetze Identifikationsfigur« (S. 155), die das Thema ›Mütterlichkeit‹ neu aufwerfe, deuten. Dennoch lässt sich fragen, warum gerade dieser Text im Kapitel zum diskursiven Feld »Rasse und Geschlecht« nicht mehr auftaucht, obwohl die Wolf’sche Umsetzung des Mythos insbesondere von der jüngeren kulturwissenschaftlichen Forschung als Text gelesen wird, der in seiner Medea-Figur vorrangig die Diskurse Rasse und Geschlecht verhandelt und der das ihm eignende mythenkritische Potential gerade in Auseinandersetzung mit diesen zentralen Diskursen entfaltet. 3

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Medea – an allen Orten, zu allen Zeiten

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Insgesamt liefert Inge Stephan eine Materialdichte, die mit Blick auf jüngste Werke der Forschung, etwa die Sammlung von Medea-Texten von Lüdger Lütkehaus 4 oder die kulturgeschichtliche Studie von Matthias Luserke-Jaqui 5 , konkurrenzlos bleibt und sämtliche bisherige Versuche, die unterschiedlichen Metamorphosen des Mythos systematisch zu erfassen, weit hinter sich lässt. Der reiche Ertrag der annähernd zehn Jahre umfassenden Beschäftigung mit der Medea-Figur, die Stephan in ihrer Einleitung für sich in Anspruch nimmt, zeigt sich gerade in Kapiteln wie dem letzten, »Grenzüberschreitungen«, in dem internationale Bühneninszenierungen der Medea-Figur, etwa in Griechenland, Georgien, Südafrika und Japan, untersucht werden und dabei die Relevanz des jeweiligen Aufführungsorts für gegenwärtige Diskurse über Ethnizität und Multikulturalität sichtbar gemacht wird.

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Stephan gelingt es zu zeigen, welche dezidiert politische Aufladung die mythologische Figur erfährt, liest man sie etwa im Kontext des Zusammenbruchs der Sowjetunion oder des Bürgerkriegs in Georgien, so geschehen durch die Inszenierung einer auf Euripides basierenden Adaption der griechischen Autorin Olga Taxidou (S. 245). Diskurse über das »Fremde« und das »Eigene« gewinnen an Brisanz gerade auch durch südafrikanische Inszenierungen des 20. Jahrhundert, in denen Medea nach Stephan eine »politische Provokation ersten Ranges« (S. 247) darstellt und Deutungsansätze provoziert, die im Kontext von Apartheid, Rassismus und Kolonialismus angesiedelt und unmittelbar an den Ort der Aufführung gekoppelt sind. Da Stephan von einer möglichst breiten Materialbasis ausgeht, die Kulturgeschichte der Medea-Figur sowohl diachron als auch synchron entfaltet, überzeugen ihre Schlussfolgerungen und gelingt es ihr dem Ansatz der Studie gerecht zu werden, nämlich interkulturelle, überzeitliche Ordnungen und Strukturen des Mythos zu etablieren, die seine heterogene Stoffgeschichte konstituieren.

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Vor dem Hintergrund der mythentheoretischen und –kritischen Texte der letzten Jahrzehnte legt der Medea-Mythos seine besondere Brisanz offen, da es ein literarischer ist, der das zentrale Mythologem, den Kindsmord nämlich, erst begründet. Die von Blumenberg konstatierte permanente »Arbeit am Mythos« spiegelt sich hier bereits in den Anfängen der Stoffgeschichte, da nicht etwa früheste nachweisbare Quellen das die Medea-Metamorphosen in bildender Kunst, Musik und Literatur dominierende Hauptcharakteristikum prägen: Erst die Tragödie Euripides’ inthronisiert 431 v. u. Z. Medea endgültig als vielleicht berühmteste Kindsmörderin der Kulturgeschichte und vergegenwärtigt damit das Initial einer mythologischen Karriere, die in der Untat des Kindsmordes ihre überzeitliche Prägung erhält. Insofern ist es auch Verdienst der Studie Stephans, die Vorherrschaft Euripides über die Stoffgeschichte einmal aufgebrochen zu haben und sich damit gegen jenes Diktum aufzulehnen, das noch Ludger Lütkehaus in seinem Medea-Band proklamiert: »Wer heute ›Medea‹ sagt, sagt immer auch ›Euripides‹.« 6 Inge Stephan ist es zu verdanken, den Blick zum einen auf voreuripideische Quellen wie die Argonautika des Apollonios von Rhodos zu lenken, zum anderen aber nach den Gründen für die ungebrochene Tradition der literarischen Bezugnahme auf Euripides zu fragen.

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Medea – multimedial

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Ihrem Untertitel »Multimediale Karriere einer mythologischen Figur« wird die Studie nicht nur durch Berücksichtung der darstellenden Künste, etwa der verschiedenen internationalen Filmprojekte und Theateraufführungen, sowie Medea-Figurationen der bildenden Kunst gerecht: Besonders hervor sticht auch die großzügige Aufbereitung des Bandes, die an Abbildungen – wenngleich schwarz-weiß gehalten – nicht spart und so den Blick freigibt auf die Versuche der visuellen Kunst, Medea ein immer neues Gesicht zu verleihen. Die Bandbreite der Darstellungen reicht dabei von Medea-Skulpturen aus frühchristlicher Zeit über mittelalterliche Entwürfe bis zu zahlreichen Gemälden aus dem 19. Jahrhundert, in dem die mythologische Figur ganz offenbar zum favorisierten Objekt der bildenden Kunst avanciert. Werke von Künstlern wie Eugène Delacroix, der sich »nahezu dreißig Jahr mit dem Medea-Mythos beschäftigte« (S. 17), oder Anselm Feuerbach, geradezu »vom Medea-Thema besessen«, zeigen dabei die Bandbreite der Darstellungen, die zum einen die Stilisierung der Medea zur Femme fatale offen legen, zum anderen in ihr eine »Heroine der Mutterliebe« (S. 20) feiern.

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Inge Stephan behandelt die Entwürfe der bildenden Kunst bewusst in keinem separaten Kapitel und betont dadurch den kulturwissenschaftlichen Wert ihrer Studie, die Medea nicht allein als literarischen Mythos, sondern als bevorzugtes Objekt einer Kulturgeschichte versteht, die in allen Bereichen medialer Repräsentation für die Ausbildung des Mythos verantwortlich ist. Dabei sind es gerade die interdisziplinären Analysen, denen sich das Innovationspotential der Studie verdankt. Denn Stephan belässt es nicht etwa bei einer bloßen Darstellung der verschiedenen Medea-Versionen in den einzelnen Künsten, sondern deckt deren reziproke Verschränkungen auf. So wertet Stephan etwa die Malerei des 19. Jahrhunderts als konsequenten Versuch, »die Provokation der mörderischen Tat auf elegante Weise« zu umgehen, Medea entweder vor oder nach dem Kindsmord zu zeigen oder die Figur einer derart starken Sexualisierung zu unterwerfen, »dass vom eigentlichen Skandalon des Kindermordes« abgelenkt wird. (S. 22) Die Darstellung der »mordenden Mutter« aber bleibt – so wird nachgewiesen – der Literatur des 20. Jahrhunderts vorbehalten, die damit zum Vorreiter einer medialen Repräsentation wird, die erst nach 1968 auch in der visuellen Kunst zu weitaus provokativeren Versionen der Medea-Gestalt führt. (S. 22 f.)

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Besonderen Wert neben den Medea-Skizzen der Malerei besitzen die zahlreichen Szenenfotografien aus Theateraufführungen, von Filmsets und die Abbildungen von Theater- und Kinoplakaten sowie Ausschnitte aus Programmheften. Nicht nur gelingt es Stephan damit, den Überblick über Visualisierungsversuche der Figur zu vervollständigen, gleichzeitig zeigt sie derart, wie die mythologische Aufladung der Medea-Figur für eine Ikonisierung der Schauspielerinnen sorgt, die ihre Rolle übernehmen. Im Fall der Opernsängerin Maria Callas führt dies zu einem gesonderten Kapitel, das sich mit der Medea-Rolle der Sängerin auseinandersetzt und nur auf den ersten Blick ein wenig anekdotenhaftig anmutet, wenn es ausführliche Einblicke in die Callas-Biografie nimmt. Tatsächlich ist der Exkurs berechtigt, zeigen doch gerade die fremdbestimmte Ikonisierung der Maria Callas in ihrer Rolle als Medea zum einen und die distanzlosen Selbstinszenierungsversuche der Sängerin (»... während ich Medea bereits bin.« S. 189) zum anderen das nicht versiegende mythenstiftende Potential der Figur, das zudem die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit nur allzu leicht aufzuheben scheint.

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Weibliches Schreiben

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Ein unübersehbarer Fokus der Studie liegt bei einem explizit weiblichen Schreiben, dem insbesondere in den Kapiteln VI (»›Der Beste der Argonauten‹. Jason in Filmen und literarischen Arbeiten von Autorinnen«), IX (»Medea als ›Bewältigungsfigur‹ in politischen Umbruchszeiten) und X (»›Medea, meine Schwester?‹ Medea-Entwürfe in feministischen Diskursen«) Rechnung getragen wird. Dieser gendercodierte Zugang zum Mythologem bleibt dem erklärten Anliegen der Studie verpflichtet, »den Anteil der Autorinnen an der Rezeptionsgeschichte des Medea-Mythos gebührend herauszustellen«, (S. 5) und damit einem Forschungsdesiderat nachzukommen, das sich mit Blick auf die noch immer nicht aufgearbeitete Ausschließung literarischer Produktion weiblicher Autorinnen aus dem Kanon sowie aus der Literatur- und Kulturgeschichte auch gegenwärtig noch stellt. In ihrem erklärten Bemühen, die Materialbasis ihrer Studie möglichst komplex zu gestalten, greift Inge Stephan dabei auch auf unveröffentlicht gebliebene Manuskripte zurück, etwa das bereits in den 80er Jahren begonnene, jedoch unvollendete Romanprojekt der Autorin Marianne Gruber, das hier in Auszügen vorgestellt wird. (S. 165 ff.)

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Eine auffällige Distanzierung von der euripidesschen Medea-Interpretation glaubt Stephan insbesondere in Texten weiblicher Autorinnen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu bemerken. (S. 9 ff.) So vergegenwärtigen Medea-Texte von Autorinnen wie Marie Luise Kaschnitz, Helga M. Novak, Ursula Haas und Christa Wolf den Versuch, Medea vom Vorwurf des Kindermordes freizusprechen und dabei Quellen zu reflektieren, die vor Euripides liegen. Gleichzeitig aber lässt sich Stephan keineswegs – wie es in der Forschungsliteratur nur allzu oft der Fall ist – von einer allein geschlechterspezfischen Lesart verführen, sondern vergisst nicht, Texte von Autorinnen wie Elfriede Jelinek (Lust, 1989) und Dea Loher (Manhattan Medea, 1999) zu erwähnen, die in der Darstellung des Kindsmordes die Plastizität und Drastik männlicher Kollegen noch übertreffen. Stephans Einsicht, dass sich die literarische Praxis damit vielgestaltiger darstelle, »als geschlechterstereotypische Annahmen erwarten lassen« (S. 12) bleibt der Komplexität und dem Bemühen um größtmögliche Differenzierung verhaftet, das die Studie insgesamt auszeichnet.

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Fazit

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Inge Stephans hervorragend recherchierter Überblick über die »multimediale Karriere« der Medea-Figur sowie die zahlreichen komparatistisch und interdisziplinär ausgerichteten Analysen richten sich weniger an explizit literaturwissenschaftlich geschulte als vielmehr kulturwissenschaftlich interessierte Leser, denen mit diesem Band ein in dieser Breite noch nicht vorhandenes und wohl nur schwer zu überbietendes Kompendium an die Hand gegeben wird. Insgesamt scheint die Autorin Claude Lévi-Strauss’ Aufforderung »jeden Mythos durch die Gesamtheit seiner Fassungen zu definieren« 7 gefolgt zu sein und bemüht sich in ihrer Studie um eine ebenso komplexe wie heterogene Materialbasis, die die Kulturgeschichte der Medea-Figur in ihrer Dichte und Breite zu dokumentieren sucht. Dabei gelingt es Inge Stephan, das noch immer vorhandene innovative Potential der Figur zu erschließen, ohne jedoch die deutliche Akzentverschiebung zu verschweigen, die ihre Bearbeitung zu Beginn des 21. Jahrhunderts kennzeichnet. In ihrem die Studie abschließenden »Ausblick« prognostiziert Stephan nicht das Ende des Mythos, konstatiert jedoch dessen ästhetische Überfütterung, die in eine »Reduzierung und Trivialisierung« der Figur gemündet sei. (S. 258) Dort aber, wo Medea nicht zur Leinwand-Actionheldin oder Kitschfigur im Groschenroman mutiert ist, wird sie vorzugsweise kritisch reflektiert: Das jedenfalls lassen jüngste Bühnenbearbeitungen von Neil LaBute und Fritz Kater (S. 257 ff.) vermuten, die den Mythos nicht mehr produzieren, sondern ihn von allen »Überhöhungen« befreien, ihn letztlich nur überleben lassen, indem sie seine Dekonstruktion herbeiführen.

 
 

Anmerkungen

Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M.: Fischer, 2003 (Erstausgabe New York 1944); Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1979; Roland Barthes: Der Mythos heute. In: RB., Mythen des Alltags. Dt. von Helmut Scheffel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1964, S. 85–113.   zurück
James Clauss; Sarah Iles Johnston (Hg.): Medea. Essays on Medea in Myth, Literature, Philosophy, and Art. Princeton: Princeton University Press 1997; Annette Kämmerer, Margret Schuchard und Agnes Speck (Hg.): Medeas Wandlungen. Studien zu einem Mythos in Kunst und Wissenschaft. Heidelberg: Mattes 1998; Edith Hall, Oliver Taplin (Hg.): Medea in performance. 1500–2000. Oxford: Legenda 2000; Horst Albert Glaser: Medea. Frauenehre – Kindsmord – Emanzipation. Frankfurt/M. u. a.: Peter Lang 2001; Christoph Steskal: Medea und Jason in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Aktualisierungspotential eines Mythos. Regensburg: S. Roderer 2001 [=Theorie und Forschung, Bd. 739 / Literaturwissenschaften, Bd. 31]; Ludger Lütkehaus (Hg.): Mythos Medea. Leipzig: Reclam Leipzig 2001; Matthias Luserke-Jaqui: Medea: Studien zur Kulturgeschichte der Literatur. Tübingen/Basel: Francke 2002.    zurück
Vgl. etwa: Friederike Mayer: Potenzierte Fremdheit. Medea – die wilde Frau. Betrachtungen zu Christa Wolfs Roman ›Medea. Stimmen‹. In: literatur für leser, 20/2 (1997), S. 85–94; Sabine Wilke, Die Konstruktion der wilden Frau: Christa Wolfs Roman ›Medea. Stimmen‹ als postkolonialer Text. In: The German Quarterly 76.1 (2003), S. 11–24.   zurück
Lütkehaus: Mythos Medea (Anm. 2)   zurück
Luserke-Jaqui: Medea (Anm. 2)   zurück
Ludger Lütkehaus, »Der Medea-Komplex«. In: Mythos Medea. Hg. von Ludger Lütkehaus (Leipzig: Reclam, 2001) 11–24, hier 19.   zurück
Claude Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen. In: Ders.: Strukturale Anthropologie. Übers. von Hans Naumann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967. S. 226–254, hier 238 f.   zurück