IASLonline

Wie die Neue Welt als imaginärer Raum entstand

Amerika in frühneuzeitlichen Dokumenten

  • Christian Kiening: Das wilde Subjekt. Kleine Poetik der Neuen Welt. (Historische Semantik 9) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 311 S. 32 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 32,90.
    ISBN: 3-525-36709-0.
[1] 

Einführung in das Thema

[2] 

Die Beschäftigung mit nicht-europäischen Gegenden der Welt und deren Spiegelung in deutschsprachigen Texten hat mittlerweile triumphierenden Einzug in der deutschen Literaturwissenschaft gehalten. Die vorliegende Studie ist Teil dieses Phänomens.

[3] 

Was in der Anglistik und Romanistik, bedingt durch die Kolonialgeschichte, immer schon Thema war, ist in der Germanistik bis auf vereinzelte Ausnahmen (Bitterli beispielsweise) 1 lange nicht zur Sprache gekommen: nämlich die Untersuchung und kritische Analyse der systematischen Teilhabe von deutschsprachigen Autoren, Künstlern, Wissenschaftlern und anderen Reisenden an der Entdeckung und Formung der nicht-europäischen Welt, im Diskurs wie auch in der Praxis.

[4] 

Lange hat sich nach dem Krieg die Germanistik mit der deutschen Kulturgeschichte und dem Holocaust beschäftigt, was notwendig und vollkommen verständlich war, was aber den Nebeneffekt hatte, dass andere Themen wie beispielsweise die deutsche Kolonialgeschichte, ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen, an den Rand gedrängt wurden.

[5] 

Die Nachkriegsgeneration hat sich nicht in erster Linie als Vertretung einer postkolonialen Macht verstanden mit allen Verpflichtungen, die damit zusammenhängen (und zwar gleichermaßen im Osten wie im Westen). Durch den Verlust der deutschen Kolonien im Zuge der Verhandlungen des Versailler Vertrages ist Deutschland nach dem ersten Weltkrieg nicht mehr als Kolonialmacht aufgetreten und wurde auch nicht als solche weder in Europa noch in Übersee rezipiert.

[6] 

Es gibt relativ wenig Wissen und Bewusstsein über die deutsche Kolonialzeit in der Dritten Welt und in der Bundesrepublik selbst. Deutschland ist nicht bevölkert von postkolonialen Subjekten, die laut auf ihre Rechte pochen und aktiv ihre Geschichte schreiben. Es gibt keine deutschsprachigen postkolonialen Schriftsteller wie Salman Rushdie in England oder Franz Fanon in Frankreich und es gibt schon gar keine Lehrstuhlinhaber wie Homi Bhabha 2 oder Gayatri Spivak 3 an amerikanischen Universitäten. Deutsche Institute fühlen keine Verpflichtung, dieses Gebiet abzudecken (undenkbar in der Romanistik beispielsweise, wo jedes Institut, das etwas auf sich hält, Frankophonie lehrt). Von daher ist dieses Thema im deutschsprachigen Kontext nicht so brisant wie anderswo.

[7] 

Da scheint sich aber in letzter Zeit etwas zu verändern. Im Zuge der kulturwissenschaftlichen Wende des Faches schauen Germanisten jetzt verstärkt auch auf kulturelle Austauschprozesse und globale Transformationen. Der Kanon von Dokumenten hat sich erweitert, die Analyse von Darstellungsmustern tritt in den Vordergrund, diskursive Schnittfelder werden kritisch untersucht.

[8] 

Christian Kienings Monographie gehört in diese Tendenz und will als Beitrag zu einem komplexeren Verständnis ästhetischer und diskursiver Strukturen über die Neue Welt gelesen werden. Die Studie ist gut geschrieben und wendet sich an Fachleute wie auch an interessierte Laien, insgesamt eine sehr lohnende Lektüre.

[9] 

Quellen und Aufbau
der Untersuchung

[10] 

Das wilde Subjekt entwirft eine »Kleine Poetik der Neuen Welt«. Das Primärmaterial hierfür ist naturgemäß sehr divers. Es enthält das europäische Schrifttum über die Neue Welt aus der frühen Neuzeit – mit einigen Ausblicken in die Aufklärung und die Moderne. Deutschsprachige Texte und Dokumente stehen in dieser Poetik eher am Rand, was zunächst enttäuscht, aber bei näherer Hinsicht konsequent ist. In dieser Periode waren es die Spanier und Portugiesen gefolgt von Franzosen, Engländern, auch Holländern, die die Neue Welt entdeckt und beschrieben haben.

[11] 

Kienings breit angelegte Studie analysiert eine Fülle von Berichten, Briefen, Fiktionalisierungen, essayistischen Schriften, philosophischen Traktaten, Tagebüchern und auch Bildmaterial, teilweise im Original, teilweise, wo vorhanden, in deutscher Übersetzung. Dazu gehören – um einen Eindruck von der Bandbreite der Dokumente zu geben – Kolumbus’ erster Brief aus der neuen Welt, Cabeza de Vacas Schiffsbruchbericht, Defoes Robinson Crusoe, Albrecht Dürers Schriften, Galileis Nachricht von neuen Sternen, das Gebetbuch Kaiser Maximilians, Grimmelshausens Simplicissimus, Montaignes Essays, Shakespeares Sturm, Vespuccis Mundus Novus, die Schriften Leonardos da Vinci und Voltaires Candide. Das ist nur eine kleine Auswahl von Texten und Dokumenten, die Kiening analysiert.

[12] 

An speziell deutschsprachigen Quellen außer den eben schon erwähnten kommen die folgenden in den Blick: Sebastian Brants Narrenschiff, die Volksbücher von Faust und Wagner, Sebastian Francks Weltbuch, Hulsius’ Reisebeschreibung, Andreas Pixners Beschreibung der ost-indianischen Frauens-Personen, Casper Schmalkaldens Wundersame Reisen, Ulrich Schmidels Reise nach Süd-Amerika, Hans Stadens Wahrhaftige Historia, das Trachtenbuch des Christoph Weidnitz, und im Ausblick Chamissos Reise um die Welt und Robert Müllers Tropen.

[13] 

Dabei werden die Schwerpunktsetzung und Unterteilung des Materials nach tropischem Prinzip vorgenommen: die einzelnen Kapitel widmen sich dem Wechselspiel zwischen Alterität und Mimesis, der Formulierung einer Poetik der Passion, der Analyse der kannibalischen Logik, dem Prinzip der sinnlichen Vergegenwärtigung, dem Diskurs utopischer Inseln und dem der frühneuzeitlichen Periode nachfolgenden Phänomen der Reisen ins Selbst.

[14] 

Die Studie tendiert von daher zur Synthese anhand des entworfenen poetischen Rasters. Es werden viele Geschichten erzählt, viele Schicksale nachempfunden, viele Bilder beschrieben, aber auch analysiert und in die Poetik eingeordnet.

[15] 

Argumentationsgang

[16] 

Die Einleitung skizziert die Art und Weise, wie in der frühen Neuzeit die Neue Welt imaginiert wurde. Es war eine Welt, die von Wilden bevölkert war, wo das Neue »erfunden« wurde (Rhetorik der Innovation), wo die Bedeutung von Augenzeugenschaft und Selbsterleben zunimmt (Rhetorik der Erfahrung), wo man sich an Modellen der Tradition orientiert, die aber gleichzeitig ausgehöhlt werden, wo »mit der Pluralisierung existierender und möglicher Welten auch eine Zunahme widersprüchlicher und partieller Sinnstiftungen« entsteht (S. 28). Mit anderen Worten: trotz Rückgriff auf bekannte Modelle wird durch die frühneuzeitlichen Texte, die sich mit der Neuen Welt beschäftigen, eine Differenz hervorgebracht, die diese Modelle unterhöhlt.

[17] 

Die Subjektpositionen verwischen sich, die Textsorten changieren (S. 31). Die Texte schaffen so genannte dritte Räume (Bhabha), in denen zeitgenössische Diskussionen inszeniert werden: »Einerseits materielle Dinge, andererseits imaginäre Entwürfe, fordern sie beständig dazu auf, Sinn herzustellen, gleichzeitig verweigern sie die Preisgabe der einen unumstößlichen Bedeutung« (S. 33).

[18] 

In Kienings »Kleiner Poetik der Neuen Welt« sprechen überwiegend die europäischen Reisenden. Indigene Stimmen kommen nur indirekt vor. Es geht nicht, wie in der Ethnologie, um die Rekonstruktion indigener Kulturen, sondern um die Analyse des europäischen Diskurses der Imagination der Neuen Welt, also um eine Selbstanalyse, wenn man so will. Trotz thematischer Öffnung des Faches auf außereuropäische Gebiete empfinden wir die Notwendigkeit der indigenen Korrektur europäischer Imaginationen noch nicht als zwingend. Dies ist vielleicht eine unnötige Beschränkung, die im Fach diskutiert werden müsste.

[19] 

Was die Untersuchung der Reaktionen Einheimischer auf den Kulturkontakt mit Europäern anbelangt, die auch möglich wäre, wie Kiening mit Verweis auf die aztekischen Bilderhandschriften zugibt, aber nicht näher verfolgt (S. 37), müsste man allerdings zunächst auf ethnologische Forschungen rekurrieren, um das kulturelle Umfeld solcher Quellen überhaupt erst verstehen zu können. Vielleicht beißt sich da die Katze in den Schwanz. Sind die aztekischen Bilderhandschriften und anderen Dokumente, die das indigene Wissen sammeln, Teil der Grundlage für die ethnographische Rekonstruktion der Kultur oder sind sie Epiphänomene, die mit Hilfe der ehtnographischen Forschung erklärt werden können? Was wären die spezifisch aztekischen Imaginationen europäischer Kultur und wie können wir diese verstehen? Das wäre auch einmal eine lohnende Untersuchung.

[20] 

Alterität und Mimesis

[21] 

Praktiken der Mimesis bestimmen den Diskurs der Neuen Welt. Die Begriffe Alterität und Mimesis werden wie folgt definiert: Alterität deutet auf »die grundsätzliche Unverfügbarkeit der sowohl in der Zeit wie im Raum von uns getrennten Welten und Sinnformationen« (S. 48), wogegen Mimesis als Vermögen der Nachahmung und damit allgemein als Möglichkeit zu verstehen ist, »kulturelle Objekte und Bedeutungen hervorzubringen« (S. 49). Kiening geht es also um Pluralisierungen, die komplexe Verhältnisse wiedergeben, nicht um schematische Vereinfachungen.

[22] 

Anhand eines Beispiels soll diese Vorgehensweise hier diskutiert werden: Hans Stadens Wahrhaftige Historia von 1557, die erste selbstständige deutschsprachige Amerikaschrift, in der es sich um die Beschreibung einer neunmonatigen Gefangenschaft des Helden bei den brasilianischen Tupinamba handelt. Diese Schrift ist in der Ethnologie wörtlich genommen worden und zu einer Art Gründungsurkunde des Faches wie auch der Geschichte Brasiliens avanciert. Dagegen setzt der Literaturwissenschaftler die Kenntnis der rhetorischen Dimension des Textes.

[23] 

In seiner Analyse kommt er immer wieder auf die Hybridität des Textes zu sprechen, als Dokument von Vermischungen und Übergängen auf thematischer Ebene, aber auch auf der Ebene der Textorganisation, wobei die eingefügten Bilder die Indianer präsent werden lassen, gleichzeitig aber auch »das Eindringen des Subjekts in die fremde Welt und deren Verstehbarkeit« zur Darstellung bringen (S. 63). Das Fremde wird also intensiviert und den daheimgebliebenen Lesern wird eine Möglichkeit der Teilhabe, Unmittelbarkeit und Nähe suggeriert.

[24] 

Kiening orientiert sich an einem Mimesisbegriff, der an Adornos Gebrauch dieses Begriffs (im Sinne von mimetischer Teilhabe) erinnert. Das wird zwar nicht direkt dokumentiert, wie überhaupt die Auseinandersetzung mit Forschungspositionen eher implizit erscheint. Aber dieses Beispiel zeigt die Vorgehensweise Kienings gut an: zunächst Darstellung des Textes, der den meisten Lesern unbekannt sein dürfte, dann eine auf Differenzierung zielende Textarbeit und zum Schluss die Einordnung in eine Poetik der Neuen Welt.

[25] 

Die Strukturen der europäischen Imaginierungen der Neuen Welt kommen so in ihrer Komplexität zum Vorschein. Der Leser ist eben nicht nur angezogen von den Szenen, die auf den Holzschnitten abgebildet sind, sondern im gleichen Atemzug auch abgestoßen von den damit verbundenen Gefährdungen (Verlust des Gottesglaubens etc.). Der Zauber, der in der indianischen Welt schlummert, ist ein genuin ambivalenter.

[26] 

Poetik der Passion

[27] 

Auch in diesem Abschnitt kann Kiening einen der Gründungstexte der modernen Ethnogeschichte, Cabeza de Vacas Bericht über eine Expedition nach Florida, in seinen rhetorischen und literarischen Dimensionen erleuchten, die von der Ethnologie bislang übersehen wurden. Kiening ordnet diesen Text als pikaresk ein, was seinen Status als Informationsquelle für geschichtliche und ethnographische Probleme sehr in Frage stellt. Vielmehr handelt es sich um ein Übergangsphänomen, worin ständig die Perspektive der Spanier mit der indianischen (indirekt projektiv gestaltet, natürlich) wechselt.

[28] 

Cabeza de Vaca gelingt hier etwas, was erst im späten 18. Jahrhundert von Georg Forster weiterentwickelt wird: nämlich die Möglichkeit eines doppelten Blicks auf die Geschehnisse. Dadurch wird Fremdheit erzeugt und zugleich die Beherrschbarkeit des Fremden behauptet. »Das Erlebnis der Männer um Cabeza de Vaca wird zur Allegorie der kolonialen Situation: Ausdruck der Möglichkeit, sich aus der Gefahr, in der indigenen Welt aufzugehen, zu befreien, ja diese Gefahr in einen Gewinn umzumünzen« (S. 95). Eine solche Interpretation ist nur möglich, wenn man sich auf die literarische Dimension dieses Textes einlässt und dessen argumentativen Brüche und rhetorischen Verschiebungen aufspürt.

[29] 

Kannibalische Logik

[30] 

Dieses Kapitel ist der Kern der vorliegenden Studie und soll ausführlicher diskutiert werden. Kiening hat auch hier eine dezidiert kulturwissenschaftliche Perspektive. Es geht nicht darum festzustellen, ob es in der Neuen Welt Kannibalen gegeben hat oder nicht. Es geht um die Charakterisierung der – textlichen wie auch ikonographischen – Darstellung von Kannibalismuszuschreibungen »an indigene Völker durch die Europäer oder an indigene Völker durch andere indigene Völker im Blickwinkel der Europäer« (S. 114).

[31] 

Der Kannibalismus wird zu einer kulturellen Sinnfigur, die oft Hand in Hand geht mit anderen Zuschreibungen, etwa des Vampirismus oder der Kastration. Die frühneuzeitlichen Texte arbeiten mithilfe dieser Zuschreibungen an der Ausgestaltung des Zentrums des Imaginären der Neuen Welt.

[32] 

Amerigo Vespuccis Texte werden hier beispielhaft behandelt. Aber auch wieder Stadens Historia, in der der Kannibalismus als kulturelle Sinnfigur erscheint, und zwar als Teil eines Systems von Rache und Vergeltung, nicht nur als Ausdruck von wilder Primitivität. Die Gefahr des Einverleibt-Werdens ist, wie Kiening zeigt, eng mit Begehren verbunden: »Anthropophagie und Erotik sind durch ein Band verbunden, das Angst und Lust, Angst des grausamen Selbstverlusts und Lust der ungezwungenen Triebbefriedigung, aneinander kettet« (S. 127). Das ist eine ganz zentrale Erkenntnis, die in den folgenden Jahrhunderten, etwa in dem Diskurs über die Südsee, sich entfalten wird.

[33] 

Wichtig auch der Hinweis auf den performativen Charakter des kannnibalischen Szenarios als Inszenierung von Exzess. Kiening trifft hier den Kern der Diskursbildung von Fremdheit. In der Nacherzählung von diesen frühneuzeitlichen Texten und deren Analyse entstehen komplexe Sinngeschichten, die die Imagination der Neuen Welt charakterisieren.

[34] 

Kiening führt auch Jakobsons Unterscheidung von Metonymie und Metapher in die Analyse ein: »Als Metonymie war der Kannibalismus [...] Teil und Ausdruck komplexer sozialer Beziehungen auch in der Neuen Welt. [...] Als Metapher eröffnet der Kannibalismus nun neue Optionen, eine aus den Fugen geratene Alte Welt zu veranschaulichen« (S. 143). Es geht also nicht nur um eine Imaginationsstruktur, sondern gleichzeitig auch um eine Art und Weise, Selbstkritik zu üben und diese durch den Filter des Fremden wirksam zu machen.

[35] 

Sinnliche Gegenwärtigkeit

[36] 

Ein zentrales Element dieser kannibalischen Logik ist es, Präsenz zu erzeugen, was auch erklären mag, dass die Texte und Bilder die Imagination der Neuen Welt bedeutender prägen als das zeitgenössische Auftreten realer Indianer in der Alten Welt. Insofern unterscheidet sich die frühe Neuzeit von späteren Jahrhunderten (man denke etwa an den Erfolg von Zoos oder Völkerschauen zur Jahrhundertwende).

[37] 

Die Texte inszenieren Wahrhaftigkeit und Naturtreue besser als die leibhaftigen Indianer in ihren Auftritten, die zum Zeitpunkt des vorgeführten Szenarios bereits halb zivilisiert erscheinen. Kienings Paradebeispiel ist die Geschichte von Pocahontas, der Tochter von Powhatan, die am englischen Hof in Erscheinung tritt und deren Auftreten die problemlose Anpassung an englische Gepflogenheiten symbolisiere. Die Figur Pocahontas signalisiert für Kiening die positive Seite des Kolonialismus: das wilde Subjekt unterwirft sich freiwillig unter die kulturell überlegene Nation und bahnt Friedensverhandlungen an, die zu unangefochtenen territorialen Ansprüchen führen – eine Wunschprojektion, wie man leicht sieht (S. 181).

[38] 

Die Gegenseite der sinnlichen Vergegenwärtigung symbolisieren die Bilder des niederländischen Malers Albert Eckhout, die Stilleben mit exotischen Früchten und Ganzkörperansichten von Indianern darstellen und damit quasi ein Inventar von sinnlicher Gegenwärtigkeit liefern.

[39] 

Utopische Inseln

[40] 

Der Tropus der utopischen Insel hatte bereits in der Antike symbolisches Kapital, das eine Fülle von verschiedenen Sinnstiftungen zugelassen hat und in der frühen Neuzeit von Thomas Morus und anderen voll zur Entwicklung gebracht wird. Die Insel als perfektes Staatswesen, aber auch die Insel als Ort des Schreckens sind Teil dieser Imagination. Shakespeares Sturm führt vor, wie eins ins andere übergehen kann.

[41] 

Später werden sich nationalsprachliche Traditionen bilden, allen voran der englische Reiseroman mit dem berühmtesten Beispiel, Defoes Robinson Crusoe. Hiermit verlässt Kiening die Folie der frühen Neuzeit und skizziert Perspektiven, die bis in die Moderne hineinragen. Nun tritt ein gespaltenes Subjekt auf, das ein Anderes erfindet und es damit gleichzeitig auslöscht: »Das handelnde Subjekt trifft hier auf ein beherrschbares Subjekt, das erzählende auf ein gestalterisch brauchbares, das die Möglichkeiten von Kultur und Erziehung bezeugt, von ihnen aber auch absorbiert wird« (S. 242).

[42] 

Ausblick in die Moderne

[43] 

Im Gegensatz zu den frühneuzeitlichen Dokumenten geht es in den Texten des 18., 19. und 20. Jahrhunderts, worin sich die Strukturen der Imagination der Neuen Welt verfestigen, um individuelle Selbsterfahrungen. Chamissos Bemerkungen und Ansichten zeigen diesen Aspekt deutlich: die Reise um die Welt mutiert zu einer Reise ins Selbst, speziell einer Reise in die eigene verschüttete Vergangenheit.

[44] 

Robert Müllers expressionistischer Roman Tropen folgt Joseph Conrads Flussmetapher und beschreibt eine Vorwärtsbewegung auf dem Wasser als »Rückwärtsbewegung ins Prähistorische wie ins Pränatale« (S. 272). Die Reise in die Tropen exploriert die Möglichkeiten der Imagination der Neuen Welt für die Konstruktion des modernen Subjekts und in ihr wird die ältere Tradition noch einmal durchgespielt.

[45] 

Fazit

[46] 

Kienings Studie über die frühneuzeitliche Imagination der Neuen Welt liefert einen wesentlichen und klugen Beitrag zu einem Feld, das nur interdisziplinär erfasst werden kann. Die Materialfülle ist beachtenswert, ohne dass eine Materialschlacht gekämpft wird. Darstellung und Analyse halten sich die Waage.

[47] 

Der Rahmen der Analyse ist kulturwissenschaftlich angelegt, ohne die Grundlagen der Disziplin – Analyse von Textstrukturen – zu vergessen. Die Klassiker der postkolonialen Theorie sind verarbeitet. Bei der Fülle und Heterogenität des Materials ist es verständlich, dass nicht bei jedem genannten Autor die gesamte Forschungsdebatte bekannt ist und zitiert wird. Hier wird der eine oder andere Leser, je nach Vorkenntnissen, Lücken entdecken. Beispielsweise war ich erstaunt, dass die Ergebnisse von Susanne Zantop über die Strukturen der Imagination der Neuen Welt nicht verarbeitet wurden.

[48] 

Diese »Kleine Poetik der Neuen Welt« ist nichtsdestotrotz Pflichtlektüre für alle, die sich mit Strukturen der Imagination von Fremdheit auseinandersetzen. Wichtig wäre nun, entlang der hier vorgelegten Ergebnisse diese Strukturen der Imagination der Neuen Welt mit den Strukturen der Imagination Afrikas, Chinas, der Südsee etc. zu vergleichen und in einem zweiten Schritt zu fragen, wie sich dann später der Beitrag der deutschsprachigen Autoren von dem anderer nationalsprachlicher Traditionen unterscheidet. In der frühen Neuzeit ist diese Unterscheidung noch nicht möglich, aber bereits im 18. Jahrhundert machen sich erste nationalsprachliche Vereinzelungen geltend (man denke beispielsweise an den unterschiedlichen Ton der schwärmerischen Tahiti-Kapitel von Bougainville und der nüchternen Prosa von Captain Cook, dagegen dann die ethnographische Reflexion von Georg Forster). Kienings Studie legt die Grundlage für Untersuchungen, die sich auch mit jüngeren Dokumenten beschäftigen.

 
 

Anmerkungen

Bitterli, Urs: Die »Wilden« und die »Zivilisierten«. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München: Beck 1976.   zurück
Vgl. Bhabha, Homi: The Location of Culture. London: Routledge 1994.   zurück
Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: A Critique of Postcolonial Reason. Toward a History of the Vanishing Present. Cambridge: Harvard University Press 1999.   zurück