Brigitte Braun

Der Erste Weltkrieg in nationalen Kinematographien




  • Michael Paris (Hg.): The First World War and Popular Cinema: 1914 to the Present. Edinburgh: Edinburgh University Press 1999. XV, 224 S. Kartoniert. EUR 13,50.
    ISBN: 0-7486-109-95.


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Die visuelle Erinnerung an den Ersten Weltkrieg wird bis heute maßgeblich von den Medien Photographie, Film, Malerei und Graphik bestimmt, die während des Krieges und danach zahlreiche das Thema behandelnde Bilddokumente geliefert haben. Gerade das Medium Film jedoch, das sowohl räumlich als auch zeitlich eine ungleich größere Reichweite besitzt als zum Beispiel Literatur oder Feldpostbriefe, wurde von der Historikerzunft lange Zeit nicht beachtet. Erst seit Mitte der 1990er Jahre ist das geschichtswissenschaftliche Interesse am populären und popularisierenden Massenmedium Film in dieser Zeit erwacht. Mit gutem Grund: Der Erste Weltkrieg nationalisierte nicht nur die bis dahin internationale Filmindustrie und schuf gleichzeitig die Grundlagen für die bis in unsere Tage andauernde Vorherrschaft Hollywoods. Seine Thematisierung gerade in der Zwischenkriegszeit, so zeigen die Beiträge des vorliegenden Bandes, diente auch vielerorts der nationalen Identitätsstiftung an sich.

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Nationale Kinematographien

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Der von Michael Paris herausgegebene Sammelband wählt denn auch das schon bei Karel Dibbets / Bert Hogenkamp und Andrew Kelly 1 bewährte Konzept der Gegenüberstellung der filmischen Repräsentation(en) des Ersten Weltkriegs in einzelnen nationalen Kinos. Neben den von ausgewiesenen Kennern der Materie untersuchten geläufigen Kinematographien Deutschlands (Rainer Rother), Frankreichs (Pierre Sorlin), Großbritanniens (Nicolas Reeves und Michael Paris) sowie der USA (Leslie Midkiff DeBauche) werden dabei auch bisher wenig bekannte Kinos wie das polnische (Ewa Mazierska), italienische (Giovanni Nobili Vitelleschi), kanadische (Tim Travers), australische (Ina Bertrand), österreichische (Franz Marksteiner) und russische bzw. sowjetische (Denise Youngblood) ins Blickfeld der interessierten Leserschaft gerückt. Das zeitliche Spektrum der Untersuchungen reicht vom Ersten Weltkrieg bis in die 90er Jahre: Filmpropaganda während des Ersten Weltkrieges ist ebenso Thema wie die Verarbeitung des Krieges in Filmen der 20er und 30er Jahre, ferner das Aufgreifen dieses epochalen Ereignisses nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 90er Jahre hinein.

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Die meisten Beiträge begegnen sich in der Feststellung, daß mit den Filmen immer auch die Frage beantwortet werden mußte: Weshalb und wofür haben wir gekämpft?

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Einleitend gibt Pierre Sorlin einen ersten Überblick zum Thema. Er unterstreicht die Bedeutung des Films für die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg beziehungsweise das Bild, das sich folgende Generationen von ihm machten. Bis heute einflußreich, so stellt er fest, ist dabei nicht nur die Bildsprache und Ästhetik des Weltkriegsfilms der 20er und 30er Jahre. Auch die damals entwickelten Handlungsmuster haben sich erhalten.

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Im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg, so Sorlin, waren die Kampfhandlungen im Ersten Weltkrieg nur auf wenige Regionen beschränkt, die Mehrheit der Bevölkerung hatte keine Vorstellung vom Kriegsalltag an der Front. Die Rekonstruktion dieses Alltags erfolgte vor allem in den Filmen der Zwischenkriegszeit. Dort erst wurde das Leben und Sterben in den Schützengräben, situiert in einer endlos weiten, trostlosen Landschaft, zum Symbol für den Ersten Weltkrieg. Das dieses Bild ebensowenig wie die Wochenschauen des Ersten Weltkriegs die Realität transportierte, vertiefen die Beiträge von Michael Paris und Rainer Rother in diesem Band.

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Zeitgenössische Schwierigkeiten
der Kriegsdarstellung

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Nicholas Reeves gibt in seinem Beitrag über die britische Filmpropaganda während des Weltkrieges Einblick in die zeitgenössischen Erwartungen an das Medium Film einerseits und seine tatsächlichen Möglichkeiten andererseits. Exemplarisch führt er für England aus, was auch für die meisten anderen kriegführenden Nationen gilt: die gezeigten offiziellen Kriegsbilder entsprachen oft nicht den Erwartungen des Publikums, das Originalaufnahmen von den Kriegshandlungen sehen wollte. Nach anfänglichem Enthusiasmus über die ersten Bilder vom Krieg wurde jedoch klar, daß nur Filmsujets aus der Etappe oder Re-enactments in die Kinos gelangten, da die militärischen Führungen zu mehr nicht bereit waren. Trotzdem waren solche Wochenschaubeiträge zunächst die einzige Möglichkeit, ein annähernd realistisches Bild von den Kriegsschauplätzen zu bekommen.

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Spätestens 1916 war der Bevölkerung aller kriegführenden Nationen klar, daß ein Ende des Krieges nicht abzusehen war, die militärischen Führungen unternahmen nun verschiedene propagandistische Versuche, die Moral ihrer Bevölkerung zu heben. Beispielhaft behandeln Nicholas Reeves und Rainer Rother in ihren Beiträgen den englischen Propagandafilm The Battle of the Somme von 1916 und die deutsche Antwort Bei unseren Helden an der Somme von 1917. Während, so Reeves, der englische Film im In- und Ausland ein großer Erfolg wurde, scheiterte der deutsche Film vor allem im Ausland. Im Gegensatz zu Bei unseren Helden an der Somme, der vor allem Filmmaterial aus Manövern etc. verwendete, wurden die Zuschauer in The Battle of the Somme auch gezielt mit der Grausamkeit des Krieges konfrontiert und konnten sich so tatsächlich ein annäherndes Bild vom Kriegsalltag machen. Das Ziel wurde durch den englischen Film erreicht: der englischen Bevölkerung wurde deutlich, daß alle nur möglichen Anstrengungen unternommen werden müßten, um diesen Krieg zu beenden und zu gewinnen.

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Leslie Midkiff DeBouche beleuchtet eine andere Seite der Kriegspropaganda am Beispiel der USA: Er zeigt, wie gut Patriotismus und wirtschaftliche Interessen im Ersten Weltkrieg Hand in Hand gehen konnten. Es wäre wünschenswert, das Zusammenspiel von Politik und Industrie auch in anderen kriegsteilnehmenden Staaten in dieser Weise untersucht zu sehen.

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Erklärungsversuche

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Michael Paris stellt in seinem Beitrag über den Ersten Weltkrieg im britischen Spielfilm exemplarisch die entscheidenden Fragen: Wie wurde der Erste Weltkrieg in der Spielfilmproduktion rekonstruiert? Was führte zu der unterschiedlichen Darstellung des Krieges in den verschiedenen nationalen Kinematographien und im Laufe der Zeit? Und nicht zu vergessen: Was machte womöglich diese spezifischen Darstellungen notwendig? Nicht alle Beiträge können oder wollen diese grundlegenden Fragen beantworten, bleiben bei der reinen Filmbeschreibung und -aufzählung.

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Auch Rainer Rother, der über die deutsche Filmproduktion schreibt, analysiert zunächst die produzierten Filme. Er erläutert das Scheitern der Kriegspropaganda, bemerkt das unklare Feindbild, das gerade in den Filmen der Zwischenkriegszeit auffällt. Während die besprochenen Filme der Weimarer Zeit vorwiegend pazifistische Inhalte transportierten (Westfront 1918, G. W. Pabst) oder einen eher dokumentarischen Charakter hatten (Der Weltkrieg I + II, Leo Lasky), so Rother, unterstrichen die Nationalsozialisten die Möglichkeiten der männlichen Bewährung in diesem Krieg. Nach 1945 wurde der Erste Weltkrieg wie auch in den anderen nationalen Kinematographien als Thema vom Zweiten Weltkrieg verdrängt.

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Es wäre wünschenswert, gerade den deutschen Film der Weimarer Zeit mehr in seinem politischen Kontext zu verorten, diplomatische Fallstricke für die Filmproduktionen dieser Zeit zu berücksichtigen, um die Konstruktion des Krieges in der Weimarer Republik besser zu verstehen. 2 Wie, so könnte die Frage lauten, verarbeitet ein Kriegsverlierer den Ersten Weltkrieg?

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Die Abwesenheit des Krieges

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Im Gegensatz zu Deutschland, das immerhin seit der Mitte der 20er Jahre wieder Kriegsfilme produzierte, verbannte Österreich, der zweite große Verlierer dieses Krieges, den Ersten Weltkrieg nach 1918 fast vollständig aus dem Film, obwohl während des Krieges die Sascha-Film zusammen mit Messter erfolgreich Kriegswochenschauen angeboten hatte. Franz Marksteiner beschreibt diesen Vorgang als Rückzug in die glückliche Vergangenheit des Habsburger Reiches mit schmucken Offizieren und feschen Militärparaden, in der Liebe und Ehre noch Wert hatten und der Kaiser als deus ex machina alles zum Besten richtete. Im Film verleugnete Österreich den Einzug der Moderne, der mit dem Krieg einherging.

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Ganz anders die Situation in der Sowjetunion: Dort, so Denise Youngblood, gehörte der Krieg zur überwundenen Vergangenheit unter dem Zaren und war aus diesem Grund ebenfalls (fast) kein Thema für die Nachkriegsfilmproduktion. Der Weltkrieg war hier der Beginn weit wichtigerer Ereignisse, der Umwälzung von der Monarchie zur Sowjetrepublik. Und während das zaristische Regime nicht in der Lage war, den Film für patriotische Propaganda zu nutzen, propagierten die Sowjets nach dem Krieg die Revolution.

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Nationale Identitätsstiftung

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Im Gegensatz dazu schildern Ina Betrand und Ewa Mazierska die Funktion des Weltkriegsfilms in Australien und Polen gerade in der Zwischenkriegszeit als identitätsstiftend und für das nationale Selbstbild von großer Bedeutung.

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Ewa Mazierska verweist auf den extremen nationalistischen und pariochalistischen Impetus der in den 20er und 30er Jahren entstandenen Filme. Polen, das erst durch den Krieg wieder nicht nur als Nation, sondern auch als Staat existierte, konstituierte sich im Film als Land einer Nation, einer Sprache und einer Religion. Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit erscheinen im historischen Kontext nicht verwunderlich, so Mazierska. Sie stellt richtig fest, daß Filme eben auch nur Kinder ihrer Zeit sind und oft ideologischen Zwecken dienen und zeigt dies an der veränderten Haltung zum Weltkrieg in den Filmen nach 1945, als auch nationale Mythen umgeschrieben werden mußten.

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Ina Betrand vertieft in ihrem Beitrag ihre bereits im Band von Dibbets publizierten Forschungen 3 zum australischen Film. Sie kann zeigen, wie die Weltkriegsfilme dazu beitrugen, Australien über geographische und soziale Herkunftsgrenzen hinweg zu einer homogenen Nation zu formen und einen vereinenden nationalen Mythos zu schaffen.

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Fazit

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Trotz kleinerer Schwächen – so entpuppt sich zum Beispiel der Artikel über Italien leider vor allem als Aneinanderreihung von Filmtiteln – ist der von Paris herausgegebene Band eine Bereicherung der Forschung zum Thema Erster Weltkrieg im Film. Alle Autoren nutzen ausgiebig die ihnen zur Verfügung stehenden Primärquellen, also die Filme selbst, einige schauen auch über den filmischen Tellerrand hinaus und versuchen erfolgreich, Filmgeschichte als Sozial- und Gesellschaftsgeschichte zu schreiben. Genau dieser Ansatz sollte auf jeden Fall weiter verfolgt werden. Spannend ist und bleibt die Frage, wie der Erste Weltkrieg in welcher politischen Situation dargestellt und eventuell auch instrumentalisiert wurde. Der Ansatz, nationale Kinematographien einander gegenüberzustellen, bietet so auch den Anreiz, eine vergleichende politische Filmgeschichte zu betreiben.


Brigitte Braun, M.A.
Universität Trier
FB II - Medienwissenschaft
Universitätsring 15
DE - 54286 Trier

Ins Netz gestellt am 13.07.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Uli Jung. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Brigitte Braun: Der Erste Weltkrieg in nationalen Kinematographien. (Rezension über: Michael Paris (Hg.): The First World War and Popular Cinema: 1914 to the Present. Edinburgh: Edinburgh University Press 1999.)
In: IASLonline [13.07.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=180>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Karel Dibbets / Bert Hogenkamp (Hg.): Film and the First World War. Amsterdam 1995. Andrew Kelly: Cinema and the Great War. London, New York 1997.    zurück
Forschung zu diesem Thema: Bernadette Kester: Film Front Weimar: Representations of the First World War in German films of the Weimar Period (1919–1933). Amsterdam 2003.   zurück
Ina Bertrand: The sentimental bloke: realism and romance. In: Karel Dibbets / Bert Hogenkamp (Hg.): Film and the First World War. Amsterdam 1995, S. 125–135.   zurück