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Joachim Linder (1948-2012)

Wälder, Städte und Medien:

Schauplätze fiktionaler Verbrechen

  • Melanie Wigbers: Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart. (Epistemata Literaturwissenschaft 571) Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. 264 S. Geheftet. EUR (D) 36,00.
    ISBN: 3-8260-3368-X.
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Ein Untersuchungsrichter gerät über einem Aktenband ins Sinnieren. Er blickt durch das Fenster zum Grenzwald, von dem er weiß, dass er von Räubern bevölkert ist, deren nachhaltige Verfolgung die Behörden bislang unterlassen haben. Noch ist kein Mord vorgekommen, doch einen »solchen zu entdecken, im Scheidewalde eine mit Wunden bedeckte Leiche aufheben zu können, war mein sehnlichster Wunsch, und – so paradox es auch klingen mag – ich darf ihn menschenfreundlich nennen. Denn ohne kräftige Maaßregeln war die öffentliche Sicherheit schwerlich wieder herzustellen«, und nur das schlimmste Verbrechen könnte die Behörden des Nachbarstaates dazu bewegen, »das zahlreiche und müßige Grenzmilitär zur Reinigung der Waldung von gefährlichem Raubgesindel zu requirieren«.

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Mit dieser Mordphantasie beginnt Adolph Müllners Erzählung Der Kaliber. Aus den Papieren eines Criminalbeamten (1828 1 ), und niemand wird sich wundern, dass der Wunsch des Richters alsbald in Erfüllung geht. Doch an der Lösung des Rätsels, das ihm mit dem Mord im Walde aufgegeben wird, scheitert er, und nur ein detektorisch versierterer Anwalt kann das drohende Fehlurteil abwenden.

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Adolph Müllners Text nimmt eine Sonderstellung am Beginn des detektorischen Erzählens in der deutschen Literatur ein; er vollzieht und reflektiert den Übergang von der affektgesättigten Bühnendarstellung zur prosaischen Konstruktion von Verbrechen und Strafverfolgung, und zwar vor dem Hintergrund des Wandels der Strafjustiz. Dafür steht schon die zitierte Passage, in der Müllner in den Kulissen der Schicksalstragödie und des Räuberromans ein Verbrechen inszeniert, das P. J. A. Feuerbach als Gnadenreferent seinem König vorgetragen und als Fallgeschichte veröffentlicht hatte. 2 Müllner transformiert diesen Fall erzählerisch im Lichte der Schillerschen Verbrechenspoetik und der eigenen Erfahrungen als Bühnenautor.

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Die Phantasieräume, in denen kriminalliterarische Darstellungen ihre Verbrechen und deren Aufklärung ansiedeln, unterhalten – das zeigt schon Müllners Text – vielfältige Beziehungen untereinander, denen unter produktions- und rezeptionsästhetischen Fragestellungen nachzugehen ein vielversprechendes Unterfangen ist.

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Leitfrage und Untersuchungsstrecke

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Ziel der hier zu besprechenden Arbeit ist es,

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die Veränderung der Orte in kriminalliterarischen Texten von den Anfängen bis in die Gegenwart nachzuzeichnen. [...] Der Begriff des Handlungsortes meint in der vorliegenden Arbeit einen dörflichen oder städtischen Raum mit seinen topographischen und gesellschaftlich-sozialen Merkmalen. (S. 18)
[8] 

Müllners Kaliber kommt dabei nicht vor, dennoch ist es nicht ungehörig, den Text hier zu erwähnen, da das ganze lange 19. und noch das erste Drittel des 20. Jahrhunderts – von den ›Anfängen‹ um 1820 bis zur Publikation von Heimito von Doderers Ein Mord den jeder begeht (1938) – mit genau drei »Kriminalnovellen« (S. 31) vertreten ist, nämlich mit E. T. A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi (1820), mit Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche (1842) und mit Theodor Fontanes Unterm Birnbaum (1885). Da im Titel mit »Krimi-Orte« auf das Genre des Kriminal- bzw. Detektivromans verwiesen wird, das im III., IV. und V. Abschnitt die Untersuchung auch dominiert, wird für die unausgewogene Korpusbildung eine Erklärung angeboten, die – vorsichtig ausgedrückt – fragwürdig ist:

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Dass auf ›innovative Unterhaltungskrimis‹ noch wenig eingegangen werden konnte, hat mit dem späten Zeitpunkt zu tun, an dem sich der unterhaltende Kriminalroman im deutschsprachigen Gebiet durchsetzt: Erst gegen Ende der [19]60er und verstärkt Anfang der [19]70er Jahre beginnen deutsche Autoren vermehrt Kriminalromane zu schreiben. (S. 135)
[10] 

Die Vorstellung, dass die deutschsprachige Literatur im 19. Jahrhundert und bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zwar ›Kriminalnovellen‹ (also Texte, in denen Verbrechen und ihre Verfolgung / Bestrafung Sujet-Status haben) hervorgebracht hätte, aber keine für das Genre ›Kriminalroman‹ und seine (nationalliterarische) Entwicklung relevanten Texte, darf spätestens seit dem Erscheinen von Hans-Otto Hügels Studie Untersuchungsrichter, Diebsfänger, Detektive. Theorie und Geschichte der deutschen Detektiverzählung im 19. Jahrhundert 3 als überholt gelten. Das Material, das allein Hügels bibliographischer Aufwand zur Verfügung stellt, ist bis heute in seiner Vielfalt nicht ausgewertet und in seinem Umfang nicht übertroffen. Da aber auch Hügel in Wigbers’ Studie nicht auftaucht, ist es kein Wunder, dass sie Müllner und seine zahlreichen Nachfolger übersieht und von deren erzählerischen Konstruktionen und Reflexionen nicht profitieren kann.

[11] 

Der übrige Verlauf der Untersuchung entspricht einem literarhistorischen Genre-Konstrukt, 4 das bis in die 1960er Jahre nur ›Vorläufer‹ erkennen kann, dann die späte Durchsetzung des Genres postuliert, das von ›postmoderner‹ Literatur überwunden wird:

[12] 

• 1900–1965 (S. 73–134): Neben Doderers Erstlingsroman werden die Krimi-Œuvres von Friedrich Glauser (der als ›Erfinder des Dorfkriminalromans‹ in der deutschsprachigen Literatur apostrophiert wird, S. 102) und Friedrich Dürrenmatt untersucht. Exkurse gelten den angelsächsischen Genre-Varianten des ›Rätselkrimis‹, den Großstadtdarstellungen des US-amerikanischen Hard Boiled sowie den in Paris lokalisierten Maigret-Romanen Simenons.

[13] 

• 1965–1985 (S. 135–170): Der ›neue deutsche Krimi‹ bzw. der ›Sozio-Krimi‹ wird durch Texte von Richard Hey, -ky (d. i. Horst Bosetzky) und Fred Breinersdorfer repräsentiert; der ›internationale‹ Exkurs gilt den Anregungen, die von schwedischen Autoren (insbes. Per Wahlöö und Maj Sjöwall sowie Henning Mankell) ausgingen.

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• Nach 1985 (S. 171–225): Die Diversifizierung der deutschen Krimiproduktion wird durch Doris Gerckes feministisch inspirierte Bella-Block-Reihe, durch die Selb-Reihe von Bernhard Schlink sowie durch die Eifel-Krimis von Jacques Berndorf (d. i. Michael Preute) als Beispiele für die ›Regionalisierung‹ belegt. Exkurse behandeln hier die Florenz-Romane von Magdalen Nabb und die Venedig-Romane von Donna Leon, die am deutschen Markt nachhaltigen Erfolg haben.

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• Am Ende steht mit Georg Kleins Barbar Rosa. Eine Detektivgeschichte (2001) ein Text, der mit den Genre-Traditionen spielt und eine Großstadt als Bezeichnungs- und Bedeutungschaos inszeniert, das sich dem hermeneutischen Zugriff der Detektionsfigur entzieht (S. 226–238).

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Aspekte der Genredefinition

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Für die Definition des Genres beruft sich Wigbers auf Edgar Marsch (S. 11), 5 der vom Krimi im Grunde nichts anderes verlangt als die Bezeichnung eines Verbrechens und die Darstellung seiner Aufklärung. So entsteht schon bei Marsch tendenziell ein Maximalkorpus, dessen Beginn arbiträr festgelegt wird und das allenfalls exemplarisch zu erfassen ist. Der Krimi ist in dieser Menge zwar enthalten, aber die Besonderheiten, die seine historische Entwicklung ausmachen, werden unterdrückt und die ohnehin schon spärliche Forschung wird ignoriert: Hügels literarhistorische Rekonstruktionen konzentrierten sich auf die ›Darstellung von Detektion als Arbeit‹, während etwa im Gefolge Todorovs das detektorische Erzählen in den Blick genommen wurde, sodass der Detektivroman als Genre erkannt wurde, in dem das Erzählen selbstreflexiv zum Thema wird. 6 Thomas Wörtche hat zudem darauf aufmerksam gemacht, dass das Genre als ›nicht-subventionierte Literatur‹ am Markt Erfolg findet. 7 Nimmt man diese Perspektiven zusammen, dann zeichnet sich für die Genregeschichte (auch in der deutschsprachigen Literatur) ein definitorischer Rahmen ab, in dem die beliebigen Setzungen von Beginn und Verlauf aufgehoben werden können. Gleichzeitig würde man in diesem Rahmen auch die krimi-spezifischen Strukturen der Beobachtung und Selbstbeobachtung, über die in dieser Weise kein anderes erzählerisches Genre verfügt, berücksichtigen können.

[18] 

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen bei Produzenten, Distribuenten und Rezipienten Vorstellungen über die Charakteristika und die Grenzen des Genres, die sich beispielsweise in der Verwendung von ›Criminalroman‹ als Genrebezeichnung ausdrücken, aber auch in Rezensionen, die zunehmend das Bewusstsein erkennen lassen, einem spezifischen (zunächst meist abgelehnten) Genre gegenüberzustehen. Als dessen beständigste Regel erweist sich seine Innovationsfähigkeit, mit der es sich als Ordnung erhält, indem es gleichzeitig Ordnungen in Frage stellt. 8 Die klassische Konstellation, die die Detektivfigur als Bürgen für die Durchschaubarkeit der Welt und die Dauer der Ordnung vorsieht, muss als Ausnahme gelten.

[19] 

Wigbers verzichtet vollständig auf die Auseinandersetzung mit neueren theoretischen Überlegungen zum Genre und seiner Entwicklung. Sie legt ihrer Untersuchung ein Korpus zugrunde, das beliebig gewählt ist, sodass die Einzelanalysen nicht einmal exemplarischen Charakter erhalten. Die Extrapolationen zur Genre-Entwicklung (im Hinblick auf Konstanz und Wandel der Ortsgestaltung), die in einer Reihe von Zusammenfassungen vorgelegt werden (vgl. S. 71, S. 134, S. 168 f., S. 242) haben allenfalls heuristischen Wert.

[20] 

Medialisierung von Tatort und Tatzeit

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Wigbers folgt Richard Alewyn, wenn sie ihren Gang durch die kriminalliterarischen Raumkonstruktionen mit E. T. A. Hoffmanns Erzählung Das Fräulein von Scuderi (1820) beginnt (S. 32–44). Alewyn hat den Text an den Beginn der deutschsprachigen Entwicklung der Detektivliteratur gesetzt, obwohl ihr erzählerischer Clou gewiss nicht darin besteht, dass die Protagonistin Ansätze zu detektorischem Handeln zeigt, mit dem sie ihren Schützling und Quasi-Sohn Brusson rettet. Viel wichtiger ist, dass die Erzählung ›authentisches‹ Fallmaterial (die Giftmorde von Sainte Croix und Brinvillier nach Gayot de Pitaval und Richer) mit ›Phantasiekriminalität‹ (Cardillac) so verbindet, dass Verbrechensgeschichten entstehen, die die ›Wirklichkeit der Kriminalität‹ als Produkt ihrer medialen Konstruktion und Vermittlung erscheinen lassen.

[22] 

Ohne Zweifel ist das dargestellte Paris ein Ort der Angst, die sowohl vom Verbrechen als auch von der Polizei ausgeht, deren Hilflosigkeit in wahllose Repression umschlägt. Der Giftmord verbreitet sich in und durch die Geschichten, mit denen die Marquise von Brinvillier zu einer seiner ›Heroinen‹ werden wird (Willibald Alexis 1842). Mit poudre des succession haben die Pariser einen Begriff gefunden, der sowohl Mittel als auch Motiv bezeichnet. Durch die Festnahme einzelner Täter ist die »Aufklärung der Giftmordserie« (S. 35) keineswegs bewerkstelligt, denn Mittel, Motive und Gelegenheiten bleiben ebenso erhalten wie die Geschichten, die zukünftigen Tätern als Vorbild dienen können (und werden); die Geschichtenproduktion sorgt in doppelter Hinsicht für die Ausbreitung des Verbrechens.

[23] 

Der Giftmord überschreitet mediengestützt die privaten Räume, in denen er begangen wird, während auf den Straßen die Kavaliere in den Blick geraten, die auf heimlichen Wegen sind und den Schutz der Privatheit suchen, wobei sie nicht nur Opfer Cardillacs werden, sondern auch in die spöttischen Verse des Fräuleins von Scuderi – und damit in die Öffentlichkeit, die sie scheuen – gelangen. Es täuscht sich also, wer meint, dass die »privaten Wohnhäuser der Figuren [...] kontrastiv zur Straße als Ort des Verbrechens« stünden und »Schutzfunktionen« erfüllen könnten (ebd.). Wigbers übersieht, dass bei Hoffmann (wie bei Müllner) Räume nicht nur Orte des Verbrechens und seiner Verfolgung sind, sondern auch Anknüpfungspunkte der Selbstreflexion. Die narrative Konstitution von Verbrechen ist auf Medien angewiesen, in denen sie realisiert, verbreitet und gespeichert wird. Als Medienprodukt überwindet das Verbrechen seine Bindung an Tatort und Tatzeit (was im Übrigen schon eine Voraussetzung für das Strafverfahren ist).

[24] 

Hinter diese Reflexion fallen die übrigen Texte der ›Hochliteratur‹ (ob von Doderer oder von Georg Klein) nicht mehr zurück. Der Raum bedarf der Narration und der Medien, um seine Bedeutung als Ort der Tat zu er- und behalten. Das ist so bei Droste-Hülshoff, wo in der dörflichen Sozialstruktur Geschichten von Verbrechern und ihren Tätern produziert werden, die niemals mit Gewissheit bestätigt – aufgeklärt – werden können. Die Schrift an der Buche und die Narbe am Bein des Erhängten sind Signifikanten, die Imaginäres bezeichnen und Handeln veranlassen. Weil der Wald in der Tat »Assoziation ermöglicht« (S. 52), wird er zur Projektionsfläche für die Phantasien vom Verbrechen, die dann auf den vaterlosen Außenseiter Friedrich Mergel übertragen werden. Die Dialektik zwischen der scheinbaren Stabilität der dörflichen Gesellschaft und der Erweiterung des Raumes durch Straßenbau, Reisemöglichkeiten und Flucht und Verschleppung, die in der Judenbuche aufgespannt wird, bleibt von Wigbers ungenutzt.

[25] 

Man kann die Raumkonzeptionen bei Hoffmann und bei Droste-Hülshoff aufeinander beziehen – Wigbers tut dies allenfalls oberflächlich: Während bei Hoffmann die Verbrechensentstehung mit großstädtischer Zirkulation von Kunst und Waren, von Geschichten und Wissen korreliert ist, ist bei Droste-Hülshoff die Abwesenheit von Zirkulation (die Abgeschlossenheit des Dorfes B., die Unmöglichkeit, Erfahrungen durch Reisen zu machen, usw.) gleich in den ersten Absätzen als eine Ursache für die »Verwirrung« von »Recht und Unrecht« bezeichnet.

[26] 

Realismusanspruch und
kulturelles Wissen im Genretext

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Die Beschreibungen der Tat- und Verfolgungsorte, der Räume von Angst und Gewalt, bleiben allzu brav an den Oberflächen orientiert, sie nehmen Häuser / Wohnungen als gelegentlich unsichere Rückzugsorte und als Szenerie in den Blick, in denen Verbrechens- und Aufklärungshandlungen vollzogen werden. Sie zeigen, dass dörfliche Sozialstrukturen so unübersichtlich / undurchsichtig sein können wie städtische. Sie lassen die Vermutung aufkommen, dass die deutschsprachige Literatur das Verbrechen eher im dörflichen Milieu erscheinen und aufklären lässt (Droste-Hülshoff und Fontane), als gäbe es die Groß- und Residenzstädte als Tatorte erst für die Genre-Texte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die dafür einstehen müssen, dass die Genre-Entwicklung wesentlich durch englisch- und französischsprachige Einflüsse vorangetrieben worden sei, um dann mit dem (problematisierten) ›Sozio-Krimi‹ auf den deutschen Plan zu treten.

[28] 

Auch wo Versuche diskutiert werden, über die Darstellung ›realer‹ Orte (und / oder ›realer‹ Sozialstrukturen) dem Realismusanspruch des ›neuen deutschen Krimis‹ gerecht zu werden, bleibt die Analyse auf halber Strecke stehen. So beispielsweise bei Selbs Justiz (1987) von Schlink und Popp: Er wird als literarisch anspruchsvoller Text (S. 191) abgehoben von der Masse der ›Sozio-Krimis‹, die seit den siebziger Jahren erschienen sind. Doch auch davon abgesehen bietet er der Untersuchung reichliches Material: Mannheim und das benachbarte (fiktionale) Chemiewerk als Rückzugsorte für unterschiedliche Formen der ›Verarbeitung‹ bzw. Verdrängung der Schuld, die die Protagonisten während der Endphase des ›Dritten Reichs‹ auf sich geladen haben. Selb, der Detektiv, macht darüber hinaus in San Francisco eine Phase der Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit durch, die er durch die Tötung seines Freundes an dessen Urlaubsort in Frankreich folgenlos beenden kann.

[29] 

So weit, so richtig. Exemplarisch für die Untersuchung Wigbers’ ist jedoch, dass sie die Appelle des Textes an das kulturelle Wissen der Leser übergeht. Mannheim beispielsweise ist, wie richtig konstatiert wird, durch die topographisch korrekte Nennung bestimmter Örtlichkeiten präsent, womit sich jedoch, was nicht bemerkt wird, eine Leerstelle auftut, die mit dem ›Ausflug‹ in das chaotische San Francisco noch an Bedeutung gewinnt: Mannheim ist in der historischen Realität als eine ›Reissbrettstadt‹ erbaut worden, in deren rationalistischer Anlage (die man eher mit US-amerikanischen Stadtbildern verbindet) Orientierung leicht fallen müsste. 9 In Mannheim bildet sich der Wille ab, Ordnung im Raum und als Raum zu verwirklichen – die Stadt repräsentiert in ihrem Grundriss den Ordnungswillen und den absolutistischen Gestus ihres Gründers, um deren Erhaltung als Fassade die ›Stadtväter‹ über Jahrhunderte geradezu rührend besorgt waren und noch sind. Mannheim ist der logische Ort für die Fassadenexistenz Selbs, der Text bringt Stadt und Detektiv in ein Verhältnis, in dem sie sich gegenseitig beleuchten.

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Fazit

[31] 

Wigbers hat sich ein großartiges Thema für ihre Dissertation gewählt, und dagegen, dass die Lektüre dazu verleitet, die angelegten Perspektiven weiter auszuziehen, kann man keine prinzipiellen Einwände erheben. Dennoch enttäuscht Krimi-Orte im Wandel, und zwar nicht nur, weil die Korpusbildung unreflektiert bleibt und die Genregeschichte verkürzt wird, sondern auch deshalb, weil die Komplexitätserwartungen an die vorgestellten Texte auf ein zu niedriges Niveau eingestellt sind und damit letztlich den alten Trivialitätsverdacht reproduzieren. 10 Man wird der Autorin aber die Enttäuschung über ihre Arbeit nur zum Teil zurechnen können, denn sie repräsentiert auch die Wertschätzung, die dem Krimi in der deutschen Literaturwissenschaft entgegengebracht wird. Spätestens seit der Wende zum 20. Jahrhundert ist unübersehbar, dass das Genre mit all seinen Innovationen und Wandlungen sich als Genre am literarischen Markt etabliert hat und seitdem allen Versuchen, es zu unterdrücken, widerstanden hat. Es ist, auch weil es in dieser Zeit robuste Strukturen der Thematisierung und Selbstthematisierung entwickelt hat, Teil der gesellschaftlichen Verständigung über Kriminalität und Strafverfolgung. Trotzdem hat die Literaturwissenschaft bis heute darauf verzichtet, seine Beobachtung auch nur ansatzweise zu institutionalisieren; ›Krimiforschung‹ wird gleichsam nebenbei und fast immer vereinzelt betrieben. Dies irritiert um so mehr, als das Thema ›Literatur / Medien und Kriminalität / Strafverfolgung‹ seit geraumer Zeit regen Zulauf hat, sodass nicht nur literar- und diskurshistorische Ergebnisse präsentiert werden konnten, sondern auch die Theoriebildung vorangetrieben wurde. Beides wartet nur darauf, für die Genregeschichte des Krimis fruchtbar gemacht zu werden.

 
 

Anmerkungen

Wie so viele für die Kriminalliteraturforschung des 19. Jahrhunderts wichtige Texte ist auch Müllners Kaliber zunächst in Fortsetzungen erschienen, nämlich im Mitternachtsblatt für gebildete Stände. Inzwischen liegt eine Neuausgabe vor, hg. und mit einem Nachwort von Heike Mayer im Liliom Verlag, Waging 2002.   zurück
Paul Johann Anselm Feuerbach: Merkwürdige Rechtsfälle. 2 Bde. Giessen: Tasché und Müller 1808/11.   zurück
Stuttgart: Metzler 1978. Auch die vielversprechenden Ansätze zur Erforschung der deutschen Kriminalliteratur der 1930er und 1940er Jahre ignoriert Wigbers, s. z.B. Carsten Würmann: Deutsche Kommissare ermitteln. Der Kriminalroman im ›Dritten Reich‹. In: Banalität mit Stil. Zur Widersprüchlichkeit der Literaturproduktion im Nationalsozialismus. Hg. von Walter Delabar, Horst Denkler und Erhard Schütz. Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge. Beiheft 1 (1999). Bern u. a.: Lang, S. 217–240; ders.: Zum Kriminalroman im Nationalsozialismus. In: Verbrechen als Passion. Neue Untersuchungen zum Kriminalgenre. Hg. von Bruno Franceschini und C. W. (Juni. Magazin für Literatur und Politik) Berlin: Weidler 2004, S..143–188; Vgl. inzwischen auch Mirko Schädel: Illustrierte Bibliographie der Kriminalliteratur 1796–1945 im deutschen Sprachraum. 2 Bde. Butjadingen: Achilla Presse 2006. Schädels Bibliogaphie ist literarhistorisch freilich nur von begrenztem Wert, da sie ausschließlich selbständig erschienene Texte verzeichnet.    zurück
Vgl. dazu auch die Online-Rezension von Evelyne Polt-Heinz (Portal Literaturhaus Wien), URL: http://www.literaturhaus.at/buch/fachbuch/rez/WigbersKrimiorte/ (03.03.07).   zurück
Edgar Marsch: Die Kriminalerzählung. Theorie. Geschichte. Analyse. 2. durchges. u. erweiterte Auflage. München: Winkler 1983, S. 14–17 und passim.   zurück
Tzvetan Todorov: La poétique de la prose. Paris: Edition du Seuil 1971; Elisabeth Schulze-Witzenrath: Die Geschichten des Detektivromans. Zur Struktur und Rezeptionsweise seiner klassischen Form. In: Poetica 12 (1979), S. 233–258; Peter Hühn: Der Detektiv als Leser. Narrativität und Lesekonzepte in der Detektivliteratur. [1987]. In: Der Kriminalroman. Poetik. Theorie. Geschichte. Hg. von Jochen Vogt. (UTB für Wissenschaft 8147, Große Reihe) München: Fink, S. 239–254.   zurück
Thomas Wörtche: Art. Kriminalroman. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte gemeinsam mit Georg Braungart [u. a.] hg von Harald Fricke. Bd. II H–O. Berlin und New York: de Gruyter, S. 342–345; Auf die Verbindung der Entwicklung des literarischen Genres mit dem filmischen hat Gabriela Holzmann nachhaltig hingewiesen: Geschichte des Krimis als Mediengeschichte (1850 – 1950). Stuttgart und Weimar: Metzler 2001 (auch diesen Aspekt vernachlässigt Wigbers).   zurück
Vgl. dazu Tony Hilfer: The Crime Novel. A Deviant Genre. Austin: University of Texas Press 1990.   zurück
Es ist heutzutage nicht mehr aufwendig, sein diesbezügliches kulturelles Wissen aufzufrischen: Auf der Internetpräsenz der Stadt findet sich eine aufschlussreiche Selbstbeschreibung:
Seit Kurfürst Friedrich IV. von der Pfalz im Jahre 1606 den Grundstein zum Bau der Festung Friedrichsburg legte, musste die Stadt insgesamt vier Mal nach Zerstörungen wieder neu aufgebaut werden. Stets erhalten geblieben ist jedoch das einzigartige gitterförmige Straßennetz der Innenstadt. Deshalb kann sich in Mannheims City auch niemand verlaufen. Denn wo in anderen Städten Straßen die Namen berühmter Menschen tragen, gibt es in Mannheim stattdessen Buchstaben und Zahlen. (URL: http://www.mannheim.de/io2/browse/Webseiten/Stadtgeschichte, 03.03.07).
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10 
Der Text der Dissertation (Universität Hannover) wurde für die Drucklegung anscheinend nicht überarbeitet; auch auf ein Register wurde verzichtet. Dass gelegentlich auch nonchalant mit den philologischen Standards verfahren wird, sei nur am Rande erwähnt, etwa wenn die untersuchten Texte selbst im Literaturverzeichnis ohne Untertitel und ohne ihre Genrebezeichnungen aufgeführt werden.    zurück