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Heiland, Erzfeind, Übermensch,
kongenialer Deutscher

Deutungsmuster des Napoleon-Mythos in der
deutschen Literatur von 1800 bis 1945

  • Barbara Beßlich: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800-1945. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006. 504 S. Gebunden. EUR (D) 79,90.
    ISBN: 978-3-534-20025-2.
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Theoretische Optionen

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Spricht man von ›Mythos‹ oder ›Mythisierung‹, so kann man dies heute kaum mehr tun, ohne sich im Spektrum der zahlreichen, einander bisweilen sogar diametral entgegenstehenden Mythos-Begriffe zu positionieren. In ihrer Freiburger Habilitationsschrift blendet Barbara Beßlich diese theoretische Diskussion um den Begriff Mythos, die inzwischen einen eigenen Forschungskomplex bildet, verständlicherweise »heuristisch aus« (S. 25) und spricht mit Wulf Wülfing u.a. von »Mythisierung historischer Personen« (S. 24). Dieses Konzept von Mythisierung, das schon bei Wülfing rhetorische Elemente mit solchen der kritisch-semiotischen Mythenanalyse Roland Barthes’ und der Blumenbergschen Arbeit am Mythos zusammenführt, wird von Beßlich durch zwei weitere theoretische Facetten ergänzt: zum einen das geschichtswissenschaftliche Konzept der ›Erinnerungsorte‹, mit Etienne François / Hagen Schulze verstanden als

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langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert,
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zum anderen den nicht explizit eingeführten soziologischen Terminus »Deutungsmuster«, der es gegenüber dem Mentalitätsbegriff erlaubt, auch kürzere Zeitspannen und weniger breite, sozial von vornherein homogenere Trägerschaften zum Gegenstand zu machen.

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Nun könnte man einwenden, dass man den Mythos-Begriff dann eigentlich nicht mehr braucht und besser nur noch von ›kulturellen Deutungsmustern‹ und ›Erinnerungsorten‹ sprechen sollte. Der Rekurs auf den Mythos-Begriff dient Beßlich jedoch dazu, über den soziologischen Terminus ›Deutungsmuster‹ hinaus, die von historischen Personen über längere Zeit und durch verschiedene Träger erzählten Narrationen auch als eine »ästhetisch neu- und umgedeutete, schöpferisch imaginierte Geschichte« (S. 25) zu verstehen. Diese Kombination von literatur-, geschichts- und sozialwissenschaftlichen Theoremen ermöglicht vielfältige Anschlüsse auch über die bisherigen Ansätze literaturwissenschaftlicher Mythenforschung hinaus, wie sie produktiv im Einleitungskapitel (vgl. S. 22–32) entwickelt werden. Dem integrativen Mythos-Konzept entsprechend kann Barbara Beßlich literarische Napoleon-Texte aus der Zeit von 1800 bis 1945 nicht nur immanent literaturwissenschaftlich analysieren, sondern auch als »Teil der kulturellen Sinnproduktion« (S. 22) und »Selbstwahrnehmung in Deutschland« (S. 23). Das geschieht mit dem Ziel, die bisher kaum beachteten Formen der »nationalen Vereinnahmung Napoleons« einschließlich ihrer Vorgeschichte »sichtbar zu machen, und den Weg des kulturellen Erinnerns [...] nachzuzeichnen« (S. 24).

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Desiderat: Napoleon-Mythisierung nach 1848

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Das Ergebnis ist eine »als deutsche Erinnerungsgeschichte und kulturelle Bedeutungsgeschichte« konzipierte, ausgesprochen materialreiche »Literaturgeschichte des Napoleon-Mythos« (S. 22), die vor allem diejenigen Deutungsmuster in den Blick nimmt, die Napoleon »sukzessive identifikatorisch auf Deutschland« (S. 12) bezogen haben. Dazu gehören tendenziell bereits die noch »primär der ästhetischen Selbstdefinition« (S. 32) von Autoren dienende Mythisierung Napoleons als schöpferisches Genie, dann nach 1890 die Konstruktion eines modernen »napoleonischen Nationalcharakters der Deutschen«, die literarische Napoleon-Biografik der Weimarer Republik und schließlich die im Nationalsozialismus anzutreffenden Hitler / Napoleon-Analogien. Widersprochen wird mit diesem Fokus einem in der bisherigen germanistischen Forschung weitgehend unhinterfragt herrschenden Konsens, nämlich dass die Napoleon-Mythisierung nach der 1848er Revolution »keine wesentliche Rolle mehr in Deutschland gespielt« (S. 20) habe, vielmehr nach dem »liberalen Napoleon-Enthusiasmus des Vormärz« und der demokratisch orientierten »Auseinandersetzung der Exil-Dramatik mit Napoleon« nur noch eine liberal-progressive, frankophile und kosmopolitische Angelegenheit gewesen« sei bzw. dem konservativen Nationalismus zur Tradierung des nationalen Feindbildes der Befreiungskriege gedient habe (S. 21).

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Wie die Studie von Barbara Beßlich überzeugend darstellen kann, hat die bisherige germanistische Forschung damit die Bedeutung der Napoleon-Mythisierung in der deutschen Literatur für die Zeit von 1848 bis 1945 völlig unterschätzt: Napoleon wird auch zwischen 1848 und 1945 als figuraler Ort kulturellen Erinnerns genutzt, was möglich ist, weil Napoleon eine Projektionsfläche für ganz verschiedene Formen der Mythisierung bietet, an denen sich selbst divergierende Diskurspositionen kristallisieren können. Falsch wäre jedoch, im Umkehrschluss anzunehmen, für die Zeit vor 1848 sei der Napoleon-Mythos bereits ausreichend erforscht, denn das ist ganz und gar nicht der Fall, wie Beßlich immer wieder zeigen kann, etwa am Beispiel der nahezu völlig außer acht gelassenen ›verhüllten Napoleon-Dramen‹ (vgl. S. 77 ff.), für die Werner, Kleist, Körner, Kotzebue, Rückert und Müllner solche historischen Figuren wie Attila, Soliman und Yngurd nutzen.

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Eine besonders wichtige Leistung der Arbeit von Barbara Beßlich liegt demnach darin, auch für anscheinend bekannte Texte immer wieder solche Elemente der Napoleon-Mythisierung aufzuzeigen, die jene nationale Vereinnahmung mal direkt vorbereitet, mal indirekt ermöglicht, mal nur offen gehalten haben, die sich dann im 20. Jahrhundert in so frappierendem Umfang beobachten lässt. Dazu gehört neben der durchgängig zu konstatierenden Faszination durch das Phänomen Napoleon vor allem das in der Napoleon-Mythisierung von Beginn an zu beobachtende Denken in Polaritäten (Heiland vs. Höllensohn, Enthusiasmus vs. Empörung, Positivwertung durch Analogisierung mit europäischen ›großen Männern‹ wie Alexander oder Karl dem Großen auf der einen, Negativwertung durch Analogien zu Attila, Dschingis Khan u.a.), aber auch eine Tatsache wie diejenige, dass die deutsche Napoleonkritik vor 1804, also vor Jena und Auerstätt, den ›Revolutionsbeender‹ und innenpolitischen ›Despoten‹ in den Blick nahm und eben nicht den Nationalfeind (S. 63). Solche Ambivalenzen des Napoleon-Mythos bleiben durchgehend erhalten, auch wenn nach Napoleons Tod die Vergleiche mit anderen Figuren – Prometheus ausgenommen – zurücktreten und Napoleon stattdessen selbst zum Analogon wird (so nach 1870 / 71 im Falle der Bismarck-Mythisierung).

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Materialanalysen

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Nicht alle der rund 250 für den Gesamtzeitraum herangezogenen Napoleon-Texte werden »gleichmäßig einläßlich analysiert«, vielmehr wechseln »intensive Analysen repräsentativer« Texte und eher extensiv angelegte »Überblicksdarstellungen« miteinander ab (S. 37). Die Anordnung folgt fast immer der Chronologie des Erscheinens, wobei die drei Hauptkapitel als synchrone Schnitte angelegt sind, innerhalb derer eines oder doch wenige Deutungsmuster dominieren. Jedem der Hauptkapitel ist ein gegenüber den schon im einleitenden Abschnitt gelieferten Zusammenfassungen noch einmal erweiterter Überblick vorangestellt. Das mag man bei durchgehender Lektüre als redundant empfinden, ist aber für den selektiven Einstieg in einzelne Kapitel zur Orientierung ungemein hilfreich und dient zudem einer gewissen Arbeitsteilung: Stellen die Resümees nämlich die jeweiligen Deutungsmuster klar heraus, so sind die darstellend-analytischen Teile zu den einzelnen literarischen Zeugnissen der Napoleon-Mythisierung genuin philologisch-textnah an Form / Inhalt-Bezügen orientiert, bei produktiver Einbindung historischen und sozialgeschichtlichen Wissens.

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Die einzelnen Textanalysen stehen jedoch keineswegs bloß additiv nebeneinander, vielmehr ist es ein großes Verdienst dieser Arbeit, eine auch evolutive Literaturgeschichte der Napoleon-Mythisierung zu liefern. So wird immer wieder deutlich gemacht, welche ideologischen Optionen, Gedanken und Darstellungsformen aufgenommen und wie diese weiterverarbeitet werden, und zwar weit über offensichtliche intertextuelle Bezüge hinaus. Auf diese Weise erhält der Leser nicht nur eine Literaturgeschichte des Napoleonstoffes, sondern im ersten Teil en passant auch eine sehr genaue Napoleon-Biografie und für die Zeit nach 1821 einen Abriss der jeweiligen sozialgeschichtlichen Umstände der Napoleon-Rezeption. Theoretisch bleibt der Übergang von Einzeltextanalysen zu Deutungsmustern dagegen eher offen, doch ist das auch nicht das genuine Erkenntnisinteresse.

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I. 1796–1821

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Kapitel I behandelt die Literatur zu Lebzeiten Napoleons (1796–1821), beginnend mit »der frühen Verehrung für den Revolutionsgeneral der Italienfeldzüge« (Hölderlin, Wieland), zeigt auf, wie aus dem »zunehmend kritisch beäugten Revolutionsbändiger ein Nationalfeind konzipiert wird« (Arndt, Kleist, Görres), behandelt die »Schicksalsdramen von Werner, Körner, Kotzebue, Rückert und Müllner«, die »Napoleons Untergang prophetisch vorwegzunehmen« suchen, thematisiert am Beispiel E.T.A. Hoffmann das Zusammenspiel von Literatur und Religion, macht deutlich, wie der nach Elba verbannte Napoleon bei Platen, Rückert und Heine zunehmend zu einer entrückten Figur ästhetisiert wird und analysiert schließlich die literarischen Reaktionen von Grillparzer, Byron, Manzoni, Goethe, Fouqué und Chamisso auf Napoleons Tod, der »als Epochenschwelle inszeniert wird, jenseits derer nur noch eine epigonale Selbstbestimmung möglich ist« (S. 37 f.). Gerade Goethes Napoleon-Mythisierung steht aber nicht nur am Ende einer Entwicklung, sondern weist bis ins 20. Jahrhundert voraus, indem er einerseits den Realisten Napoleon betont, ihn aber auch bereits als ein über die Sturm und Drang-Konzeption von Genialität hinausweisendes »Kraftgenie« (S. 158) bestimmt.

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II. 1821–1900

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Die Napoleon-Mythisierung im dann nur noch ›kurzen‹ 19. Jahrhundert ist Gegenstand von Kapitel II (1821–1900). Die hier untersuchten Texte von Immermann, Platen, Hauff und Zedlitz konzipieren die napoleonische Zeit nicht mehr als Teil der Gegenwart des eigenen Lebens, »sondern schauen mit einem epigonalen Blick erinnernd zurück und betonen so den Kontrast zwischen erinnerter Größe und gegenwärtig erlebter Nichtigkeit« (S. 38); ein Deutungsmuster, mit dem Napoleon »zur Chiffre für Größe schlechthin« wird, die den zeitgenössischen Zuständen dann wiederum mit kritischem Impetus gegenübergestellt werden kann. Über die bisherige Forschung deutlich hinausgehend zeigt Beßlich für Heines Napoleon-Texte auf, wie sie »dialogisch auf die Befreiungskriegsliteratur antworten« (S. 38) und in den 1850er Jahren bereits einen ersten Schritt in Richtung der dann für das 20. Jahrhundert symptomatischen »parahistorischen Texte« (S. 245) der Napoleon-Mythisierung vollziehen.

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Dass Napoleon auch in trivialeren literarischen Formen und zielgruppenspezifisch (Alter und Geschlecht) mythisiert wird, ist ein wichtiger Befund für die Zeit nach 1850. Indem Napoleon zwar weiterhin als Feind erscheint, allerdings als einer, dem ob seiner ›Größe‹ Respekt zu zollen ist, »bereitet sich ein Deutungsmuster des 20. Jahrhunderts vor, das den großen Feind ehrt, weil er Deutschland seine zentrale Lektion in Nationalismus und heroischer Härte erteilt habe« (S. 39). Die beiden letzten Abschnitte dieses zweiten Kapitels sind auf Nietzsches Napoleon-Rezeption ausgerichtet. Für Nietzsche selbst wird zunächst »die fundamentale Uminterpretation« Napoleons »von der bürgerlichen Vorbildfigur zum atavistischen Anti-Bürger« (S. 39) und »spätzeitliche[n] Künstler-Tyrann« (S. 283) herausgearbeitet, um dann der Wirkung dieses Konzepts auch über Nietzsche selbst hinaus »an den postnaturalistischen Dramen von Bleibtreu und Carl Hauptmann« (S. 39) nachzugehen. Nietzsches »kulturkritisches Napoleon-Bild wird« dabei »zum Prätext fast aller deutscher Napoleon-Texte des frühen 20. Jahrhunderts« (S. 177), sodass man Nietzsches Einfluss in dieser Hinsicht kaum unterschätzen kann.

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III. 1900–1945

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Um die Jahrhundertwende war Napoleon im System der deutschen Mythologie konkurrenzlos, denn der Königin-Luise-Mythos war anachronistisch geworden, woran auch einzelne Versuche seiner Re-Aktivierung im Zuge der 100-Jahr-Feiern der Befreiungskriege nichts ändern konnten. Der entlassene Bismarck war vielleicht noch rückblickend, aber kaum mehr für die Zukunft konzeptionell mythisierbar; Wilhelm II. kam ganz und gar nicht in Frage und Hindenburg wurde erst nach Tannenberg und dann nur für eine sehr kurze Zeitspanne zur Mythen-Alternative. In dieser Situation »wird in einer verzwickten rhetorischen Übertragung Napoleon als Figur mit dem deutschen Volk analogisiert« und in die »nationale Mythologie der Deutschen eingebunden« (S. 311), sodass er ein Stück weit zum Protagonisten des imaginierten kollektiven deutschen Nationalcharakters werden kann, der »gewissermaßen den Stab des Heroismus weltgeschichtlich an Deutschland« (S. 313) weiterreicht. Dabei lässt sich gerade für die Zwischenkriegszeit ein Boom der Napoleon-Mythisierung feststellen, der sich daraus erklärt, dass Napoleon selbst von antagonistischen Positionen in Anspruch genommen werden kann:

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Er wird gleichermaßen von vormaligen Expressionisten dämonisiert wie vom George-Kreis heroisiert, von Emil Ludwig zum ersten Demokraten Paneuropas erklärt und in konservativ-revolutionären Kreisen zum idealen Vorbild des starken Mannes erhoben, der ersehnte Retter aus der demokratischen Krise. [...] Während Emil Ludwig mit Napoleon für die Weimarer Republik wirbt, wird Napoleon gleichzeitig zum heldischen Gegner der Moderne im George-Kreis. (S. 315)
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Ähnlich sieht die Polarisierung im Falle von Hitler-Napoleon-Analogien aus, denn auch hier sind es gleichermaßen Parteigänger (Rudolf Hohlbaum, Wulf Bley und Philipp Bouhler) wie Kritiker (unter ihnen Thomas Mann, Arnold Zweig und Joseph Roth), die Napoleon-Mythisierungen auf der einen Seite nutzen, »um Hitlerantizipationen zu stilisieren«, auf der anderen, um Unterschiede und Unvergleichbarkeit zu betonen (was zu einem relativ positiven Napoleonbild führt) bzw. ihre Kritik an Hitler und am Nationalsozialismus – wie Ferdinand Bruckner und Heinrich Frank – »im antinapoleonischen Gewand formulieren« (S. 319), was immerhin bedeutet, die Analogie erst einmal anzunehmen.

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Anschlüsse

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Können der Königin Luise-, der Bismarck- und auch der Hermann-Arminius-Mythos trotz unterschiedlicher theoretischer Basisannahmen bereits seit einiger Zeit als weitgehend erforscht gelten, so hat Beßlich die bisher für Napoleon verbleibende Lücke mit ihrer umfassend angelegten Arbeit weitestgehend geschlossen und zugleich vielfältige Möglichkeiten für über die deutsche Literatur hinausgehende Forschungen bereitgestellt. Wäre man nicht gerade durch die vorliegende Arbeit vorsichtig geworden, so könnte man den Napoleon-Mythos in der deutschen Literatur jetzt für erschöpfend behandelt ansehen. Um der Vorsicht Genüge zu tun, seien Anschlussüberlegungen in drei Richtungen formuliert:

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a) Da es um kulturelles Erinnern geht, wäre noch etwas stärker, als es an einigen Stellen durchaus geschieht (vgl. z.B. S. 246), eine Verortung Napoleons im System der anderen im 19. Jahrhundert mythisierten Figuren herauszuarbeiten, da die in Frage kommenden mythisierten Figuren funktional zum Teil durchaus äquivalente Elemente aufweisen können. Das wird bei Beßlich beispielsweise an den Passagen deutlich, in denen es um die Kopplung von Religion und Nationalismus auf dem Wege der Literatur geht, zu der es in Preußen-Deutschland als kompensatorisch gegen Napoleon gerichtet die Mythisierung der Königin Luise durch Novalis gab, deren Ziel es war »ächte Religiosität« und »ächten Patriotism« durch »unaufhörliche Mischung der Götterwelt in das Leben« zu erreichen. Ähnlich sieht es für die Texte aus, die Napoleon zum schöpferischen Genie oder wie Goethe zum »Kerl« (vgl. S. 158) erklären und sein Tun entweder mit dem eines Künstlers vergleichen oder die reale Umsetzung idealer Pläne loben. Das ist eine der Positionen, die auch für die Bismarck-Mythisierung nach 1870 genutzt wird. Die kulturellen Deutungsmuster könnten auf diese Weise noch zusätzliches Gewicht bekommen, würden sie doch dann durch die kohärente Mythisierung gleich mehrerer historischer Personen noch zusätzlich gestützt.

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b) Zu Recht betont Beßlich, dass Napoleon dem deutschen Nationalcharakter assoziiert wird, geht aber noch nicht auf die (zusätzliche) sozialhistorische Ebene derjenigen Verschiebungen im System der europäischen Nationalstereotype ein, die es als diskursive Voraussetzungen allererst ermöglicht haben Napoleon positiv einzubinden. Die ansatzweise bei Beßlich schon getroffenen Befunde ließen sich hier noch durch einen Blick auf den Gesamtzusammenhang der Nationalstereotype und ihrer nicht unabhängig voneinander erfolgenden Entwicklung im 19. Jahrhundert ergänzen. Denn erst mit der nach 1848 allmählich erfolgenden Rückgewinnung einer real-idealistischen Diskursposition für den bis dahin als idealistisch-verschlafen imaginierten deutschen Nationalcharakter, bei gleichzeitiger Verschiebung Frankreichs in Richtung eines nicht mehr ganz vitalen Esprit, was immer auch Verlust an Realismus bedeutete, war die positive Besetzung des durch das semantische Merkmal ›Schnelligkeit‹ (besonders deutlich in Grabbes Napoleon-Drama, vgl. S. 252) seit Goethes Diktum vom »ens realissimum« stets auch als ›Realist‹ konzipierten Napoleon möglich.

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c) Nicht nur die einzelnen Autorenphilologien werden von Beßlichs Erkenntnissen profitieren, vieles ergänzen können, manch Tradiertes auch revidieren müssen, sondern eröffnet ist jetzt auch die Chance für eine vergleichend angelegte Untersuchung der europäischen oder doch zumindest der französischen und deutschen Napoleon-Mythisierung (und gerade auch der mit ihnen verbundenen Deutungsmuster, die das tertium comparationis abgeben könnten). Dafür hat Barbara Beßlich mit ihrer großen Studie nicht nur die Basis geschaffen, sondern durch den Einbezug vieler französischer, italienischer und englischer Texte bereits mehr als nur einen ersten Forschungsschritt getan.