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Flexibler Kapitalismus

Der Künstler als Arbeitnehmerideal

  • Pierre-Michel Menger: Kunst und Brot. Die Metamorphosen des Arbeitnehmers. Aus dem Französischen von Michael Tillmann. (Edition Discours 39) Konstanz: UVK 2006. 98 S. Broschiert. EUR (D) 14,90.
    ISBN: 978-3-89669-664-9.
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Thema

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Eine klassische Vorstellung vom Künstlerberuf lautet, er ermögliche Selbstverwirklichung und eine genuin unabhängige Haltung. Dafür findet Pierre-Michel Menger bei genauerer Betrachtung des heutigen Kunstsektors aber kaum Argumente. Denn in der Praxis fungiert Kunst nicht als Gegenwelt zur Ökonomie, sondern ist selbst ökonomischer Sektor, der dem Konkurrenzprinzip und seinen Leistungskriterien längst Rechnung trägt.

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Mengers Essay fügt dieser Beobachtung eine zweite, ungleich brisantere hinzu: Kreativität, Innovation, Flexibilität und Risikobereitschaft gelten mittlerweile auch für Unternehmer und Angestellte als Ideal. So ergibt sich allem Anschein nach eine »verkehrte Welt«: Künstlerische »Eigenschaften« von gestern bilden offenbar die Bausteine des Arbeitnehmerideals von heute. Und Kunst setzt sich kapitalistischer Ökonomie nicht nur nicht entgegen, sondern treibt sie als Prototyp entscheidend voran.

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Exposition

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Mengers Revue historisch-theoretischer Positionen zum Verhältnis von Kunst und Kapitalismus lässt das klassische Stereotyp der Künstlerfigur scharf hervortreten: Marx definiert Kunst als utopisches Residuum des wahren Menschen, Adorno schreibt ihr Opposition und Kritik als wesensimmanent zu – in jedem Fall scheinen künstlerische und ökonomische Sphäre prinzipiell unvereinbar. Entgegengesetzte Bewertungen bestätigen die Geltung des Paradigmas zusätzlich: Auch Daniel Bell, der amerikanische Soziologe und Gesellschaftstheoretiker, folgt dem Stereotyp, wenn er den Kapitalismus durch hedonistische und nihilistische Künstlerfiguren bedroht sieht.

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Menger selbst folgt nicht der Ideologiekritik, sein Interesse ist an heutiger, künstlerischer Praxis orientiert. Aus dieser Perspektive verabschiedet er die romantische Idee vom subversiven Künstler ausdrücklich. Dass der Künstler nicht Gegenbild herkömmlicher Arbeit, sondern im Gegenteil zum Ideal innovativster Produktionsprozesse und Arbeitsbeziehungen avanciert sei, verdanke sich einem allgemeinen Interesse am »Innovationsprinzip«. »Innovation« wiederum liefere Argumente für zweierlei: Für ökonomische Effektivitätssteigerung oder – im Gegensatz dazu – für ein Wiedererstarken der Kritik am Kapitalismus.

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Letztere Position verortet Menger im Umfeld der französischen Soziologen Luc Boltanski und Eve Chiapello, 1 eine Position, die er mit seinem Essay reflektiert und weiterführt.

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Durchführung

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Was soll man nun davon halten, wenn expressive, künstlerische Arbeit heute Managern und Analysten als Ideal dient? Handelt es sich um einen Versuch »ideologischer Rechtfertigung neuer Ausbeutungsformen, die dem Gebot einer höheren Arbeitsproduktivität gehorchen«? Sind »diese Ideale und Leitbilder mit systematischen Veränderungen der Definition und Organisation der Arbeitsprozesse [...] verbunden«? (S. 25) Und vor allem: Auf welche Veränderungen läuft das hinaus?

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Menger erkundet diesen Vereinnahmungsprozess mit dem Ziel, seinen mutmaßlichen Ausgang zu skizzieren. Er wendet konsequent die verschiedenen Aspekte des Begriffs »Arbeit« auf den Kunstsektor an, fragt nach Formen der Arbeitsteilung und Spezialisierung, nach der Rolle und den Bedingungen für Kreativität und Fortschritt, nach den Bewertungskriterien für künstlerische Produkte und nach ihrer Legitimierung.

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Die Einzigartigkeit des Kultursektors erkennt er darin, die »gegensätzlichste[n] Aspekte auf einen Nenner zu bringen« (S. 25):

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Wo sonst gäbe es noch eine ähnlich offen spekulative Suche nach Talenten und eine gezielte Überproduktion von Werken, die quasi als Testballons in den ungewissen Himmel der Kritik und der Öffentlichkeit gelassen werden? [...] Wo käme es sonst noch zu einer derart unerbittlichen Auslese der bewundernswerten oder auch nur verkaufsträchtigen Talente in Form von Kampfritualen, die durchaus mit Sportwettkämpfen zu vergleichen sind und deren Bewertungskriterien in ihrer Unvollständigkeit und unzureichenden Kodifizierung leicht verdächtig erscheinen? [...] Wo werden ähnlich große professionelle Erfolgsungleichheiten toleriert oder gar zelebriert? (S. 25 f.)
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Menger beschreibt das Zusammenspiel aus Beschäftigungsflexibilität, Talentvielfalt und Unterbeschäftigung nicht zuletzt auf Basis von empirischen Erhebungen des französischen Künstlerarbeitsmarktes. Er konstatiert:

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Die zeitlich befristete Künstlerarbeit hat sich immer weiter aufgespaltet [sic!], während der Wettbewerb zwischen einer wachsenden Zahl an Künstlern mit geringerem Beschäftigungsaufkommen immer schärfer wird. [...] der Medianwert des Gesamtjahreseinkommens eines Künstlers [sinkt], was zeigt, dass die Arbeitgeber ihren Kurzzeitmitarbeitern keine kompensatorische Absicherung gegen wachsendes Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt bieten. (S. 96 f.)
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Das Konkurrenzprinzip und die winner takes it all-Mentalität des Kunstmarktes liefern nicht zuletzt elastische Legitimationen für unsichere Arbeitsverhältnisse: Wird der Künstler auf eigene Kosten tätig, dient das Risikomodell des Unternehmers oder Freiberuflers als Bezugsgröße. Bei kurzzeitigen Arbeitsverhältnissen dagegen lässt sich auf die Flexibilitätserfordernisse der Arbeitsmärkte verweisen, das Modell führt also nicht zum Unternehmer, sondern zum Freelancing. Wiederum vergleichbar mit Freiberuflern ist aber die Evaluierung der Produkte künstlerischer Arbeit durch Außenstehende und das auf Reputation basierende Karrieremanagement von Künstlern.

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Coda

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Indem Menger die Modellfunktion des Künstlers für Arbeitsforscher, Manager und Analysten mit den tatsächlichen Existenzweisen und Arbeitsmarktverhältnissen im (französischen) Kunstsektor konfrontiert, nutzt er – in Bourdieuscher Tradition – die Spannung zwischen idealtypischen Verhaltensformen und Empirie. Damit öffnet er den Blick für einen Wandlungsprozess, an dem Künstler wie Unternehmer unterschiedslos mitwirken und dessen mutmaßlicher Ausgang die Arbeitsbedingungen aller betrifft.

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Die Frage nach den Protagonisten dieses Prozesses ist interessant, da sie klassische Schuldzuschreibungen unterläuft: Mit der subversiv-romantischen Künstlerfigur wird auch die romantische Vorstellung von Kritik selbst infrage gestellt: Heutige Künstler, die sich romantisch subversiv definieren, finden Bestätigung durch Unternehmen. Gleichzeitig profitieren sie kaum von deren gesicherten Lohn- und Arbeitsverhältnissen. Zynisch formuliert handelt es sich um eine Win-Win-Situation, aber der Art, dass reales gegen symbolisches Kapital aufgewogen wird. Und nach Menger besteht eine Tendenz zur Ausweitung dieser Logik auf die Arbeitsverhältnisse aller.

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Offene Kadenz

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Der soziologischen Definition folgend gelingt Legitimierung dann, wenn etwas als allgemeine Gesetzmäßigkeit akzeptiert wird. Ein häufiger Skandal soziologischer Arbeit besteht darin aufzudecken, dass Gegebenheiten nicht gegeben sind, sondern (aus spezifischem Interesse heraus) gegeben wurden. Mengers Essay beschreibt in dieser Hinsicht einen irritierenden Sachverhalt: Menschen scheinen zu akzeptieren, was nicht in ihrem Interesse liegen kann. Dass dieses Einverständnis in Zusammenhang mit der Faszination an der romantischen Künstlerfigur steht, legen Mengers Ausführungen zumindest nahe. Wie lange sich romantische Selbstdefinition und reale Unsicherheit gegenseitig stabilisieren, ist dagegen völlig offen.

 
 

Anmerkungen

Boltanski und Chiapello zeichnen in ihrem Grundlagenwerk vom Neuen Geist des Kapitalismus die Wandlungen des Kapitalismus und seine Fähigkeit, kritische Positionen für sich zu vereinnahmen, nach. Dabei spielt bereits die Künstlerkritik und ihre Adaption durch zeitgenössische Managementliteratur eine zentrale Rolle (Luc Boltanski / Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK 2003).   zurück