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Die Wiederkehr des Sakralen

  • Stefan Moebius: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937-1939). Konstanz: UVK 2006. 552 S. Paperback. EUR (D) 49,00.
    ISBN: 3-89669-532-0.
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Das Collège de Sociologie, das 1937 von Georges Bataille und anderen französischen Intellektuellen in Paris gegründet wurde und kaum zwei Jahre Bestand hatte, ist ohne Zweifel eines der schillerndsten und zugleich am wenigsten erforschten Phänomene in der Geschichte der Kulturtheorie des 20. Jahrhunderts. Zentrales Erkenntnisinteresse des Collège, das von der Religionssoziologie Emile Durkheims inspiriert wurde und dessen Hauptvertreter Georges Bataille, Michel Leiris und Roger Caillois sich in einem interdisziplinären Grenzbereich zwischen Literatur, Philosophie, Soziologie, Ethnologie und Religionstheorie bewegten, ist die Frage nach der Funktion von sakralen Praktiken für den inneren Zusammenhalt von Kollektiven. Der Begriff des »Sakralen« bezeichnet dabei so heterogene Praktiken wie Sexualität, Erotik, Tanz, Extase und Gewalt, die vom Primat der rationalen Ordnung tendenziell marginalisiert werden und doch für den Zusammenhalt von Gesellschaft unabdingbar sind.

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Ausgehend von dem modernitätskritischen Befund einer zunehmenden Individualisierung, die im Gefolge der Rationalisierung der Lebenswelt seit dem 19. Jahrhundert zu einer fundamentalen Erosion von Gemeinschaftlichkeit geführt habe, widmete sich das Collège einem doppelten Projekt. Zum einen verfolgte es das Unternehmen einer wissenschaftlich-philosophischen Theorie des Sakralen, das die Funktion kollektiver und ambivalenter Entgrenzungserfahrungen – sichtbar in Ritual, Fest oder Spiel – für gemeinschaftliche Bindungen analysiert. Zum anderen zielte es – in Anlehnung an die avisierte Konvergenz von Literatur und Lebenspraxis im zeitgleich prominenten Surrealismus – auf eine den Bereich der bloß analytischen Wissenschaft überschreitende Neubegründung von gemeinschaftsstiftenden Mythen und Vereinigungen.

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Mit diesem Ziel einer Regenerierung der sakralen Dimensionen der Gesellschaft beanspruchten die Vertreter des Collège nichts geringeres, als eine praktisch wirksame Therapie der in ihren Augen kränkelnden Moderne zu initiieren. Dabei handelte es sich beim Collège de Sociologie gleichwohl nicht um einen esoterischen Privatclub einiger von den politischen Verwerfungen im Frankreich der dreißiger Jahre verunsicherter Intellektueller. Vielmehr werden in dieser außeruniversitären Vereinigung, die sich während des Zeitraums ihres Bestehens von 1937 bis 1939 im regelmäßigen Abstand von zwei Wochen zu Referaten und Diskussionen versammelte, zentrale Linien der Kulturtheorie des 19. und frühen 20. Jahrhundert weitergeführt und am Vorabend des zweiten Weltkrieges einer erneuten Befragung unterzogen. Zugleich übte das College eine kaum zu unterschätzende Wirkung auf zentrale Vertreter des ›poststrukturalistischen‹ Denkens wie Michel Foucault oder Jacques Derrida aus. Umso verwunderlicher ist es, dass das Collège de Sociologie bislang nur selten zum Gegenstand kulturwissenschaftlicher und soziologiegeschichtlicher Forschung geworden ist. Auch die erstmals 1979 von Denis Hollier veranstaltete Anthologie zentraler Texte des Collège hat nicht zu einem signifikanten Anstieg der diesbezüglichen Forschungen geführt.

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Diese Lücke versucht nun die ausführliche und vorzüglich geschriebene Habilitationsschrift des Konstanzer Soziologen Stephan Moebius zu schließen. Sie verfolgt ein dezidiert soziologiegeschichtliches Forschungsinteresse, das neben den philosophischen und soziologischen Einflüssen auf das Collège vor allem die internen Wechselbeziehungen der Akteure, die wichtigsten Prozesse der Institutionalisierung, den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext sowie die Wirkungsgeschichte dieser komplexen Bewegung analysiert. Moebius’ Studie orientiert sich dabei an der grundlegenden These, dass das Collège de Sociologie »besonders im Hinblick auf die von Georges Bataille erarbeitete ›Heterologie‹ als ein soziologischer Poststrukturalismus und somit als ein ideengeschichtlicher und institutionalisierter Vorgänger einer Poststrukturalistischen Sozialwissenschaft betrachtet werden kann« (S. 9).

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Aus dieser Perspektive erscheint das Collège als ein wichtiges Phänomen in der Soziologiegeschichte des frühen 20. Jahrhunderts, das gleichwohl ungerechtfertigterweise (und doch, so Moebius’ Auffassung, aus rekonstruierbaren diskurspolitischen Gründen) »zu den Verlierern des soziologischen Diskurses gehört« (S. 25). Sein Denken gezielt wieder in die soziologische bzw. kulturwissenschaftliche Debatte der Gegenwart einzuführen, diesem Ziel fühlt sich die vorliegende Studie verpflichtet. Um die Vielfalt der paradigmatischen Einflüsse, der diskutierten Themen, der wissenschaftsgeschichtlichen Querverbindungen und der breiten Auswirkung auf poststrukturalistische Denker angemessen darstellen und zugleich sinnvoll strukturieren zu können, gliedert Moebius seine Studie nach vier grundsätzlichen »Dimensionen«: der kognitiven, der sozialen, der wirkungsgeschichtlichen und der diskursgeschichtlichen.

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Wissenschaftsgeschichtlicher Kontext
und Schlüsselbegriffe der Sakralsoziologie

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Das erste Hauptkapitel zur »kognitiven Dimension« bemüht sich um »eine Analyse des wissenschafts- und disziplingeschichtichen Kontextes und die Untersuchung von ›Paradigmen, Methoden oder Theorien‹« (S. 29). In seinen Ausführungen zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext verweist Moebius besonders auf die exponentiell ansteigende Rezeption der »drei Hs« – Hegels, Husserls und Heideggers – im französischen Diskurs der dreißiger Jahre, in dessen unmittelbarem Zusammenhang das Collège de Sociologie steht. Nicht zu vernachlässigen sei allerdings, so Moebius, auch die Rezeption der unter dem Stichwort »Lebensphilosophie« reaktualisierten Theorien Nietzsches, Diltheys und Bergsons. Besondere Aufmerksamkeit widmet Moebius in diesem Kapitel der Situation der französischen Soziologie der Zwischenkriegszeit, für die sowohl der wissenschaftliche Einfluss der Durkheim-Schule als auch die Mentalitätstheorie Lucien Lévy-Bruhls, die dialektische Gesellschaftstheorie des heute kaum mehr gelesenen Georges Gurvitch und die Gedächtnistheorie Maurice Halbwachs’ in besonderer Weise prägend waren.

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In seinen Ausführungen zur »Verarbeitung der historischen, gesellschaftlichen und politischen Realprobleme beim Collège de Sociologie« (S. 116) weist Moebius anhand der konkreten Stellungnahmen des Collège zum Münchener Abkommen sowie der Batailleschen Theorie des Faschismus nach, dass sich das Collège de Sociologie nicht in einem rein innerakademischen Raum situierte, sondern seine Sakralsoziologie zugleich als eigene Form des Widerstands gegen die allgegenwärtige Bedrohung durch den Nationalsozialismus verstand. Die besonders von Bataille entwickelte »Heterologie« steht im Kontext eines Projekts der Gemeinschaftsstiftung, die die faschistische Indienstnahme affektiver Resakralisierungsprozesse durch deren anarchische Umkehr zu überwinden, mithin den Faschismus mit seinen eigenen Mitteln zu besiegen suchte.

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Nach dieser Diskussion der realpolitischen Bezogenheit des Collège de Sociologie wendet sich Moebius’ Untersuchung in systematischer Absicht den soziologischen Schlüsselbegriffen des Sakralen zu: der Gemeinschaft, des Mythos, der Macht und der besonders von Georges Bataille entwickelten »allgemeinen Wissenschaft«. Er betont dabei die enge Verknüpfung von Theorie und Lebenspraxis im Ziel der Sakralsoziologie, »die im Schwinden begriffenen Elemente moderner Gesellschaften [...] zu analysieren, hervorzuheben und zu erneuern« (S. 135). Neben der grundlegenden und irreduziblen Ambivalenz des Heiligen (der Spannung zwischen Faszination und Abstoßung, zwischen fascinans und tremendum) wird hier die sozialitätskonstituierende Funktion des Heterogenen, des von der homogenen Welt des Kapitalismus verfemten und abgestoßenen Anderen diskutiert, dessen programmatische Aufwertung im Kontext von gemeinschaftsstiftenden Erfahrungen des Heiligen grundlegend für die Sakralsoziologie des Collège ist. Gleichwohl weist Moebius an dieser Stelle auch darauf hin, dass die »Ambitionen, sowohl neue Mythen zu elaborieren, die Mythen politisch wirksam werden zu lassen als auch überhaupt [...] mythische Erfahrungen wieder in gewählten Gemeinschaften zum Leben zu erwecken« (S. 160) durchaus auch unter den verschiedenen Mitgliedern des Collège umstritten waren. Gegenstand der Kontroverse unter anderem zwischen Leiris und Caillois war dabei vor allem die Frage eines ausgewogenen Verhältnisses von wissenschaftlicher Strenge und Stiftung eines »Mythos der Moderne« (S. 163), aber auch die Spannung zwischen der Transgression bestehender Normsysteme und der Gründung neuer, ordnungsstiftender Gemeinschaften.

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An diese systematische Exposition der Grundkategorien, die für das Denken des Collège bestimmend waren, schließt Moebius die Darstellung der wesentlichen Einflüsse und Vorgänger an. Einschlägig sind hier Emile Durkheims Individualisierungskritik sowie seine religionssoziologische Untersuchung von kollektiven Erfahrungen der Efferveszenz, von der das Collège seine Schlüsselbegriffe gewann. Desweiteren geht Moebius auf Marcel Mauss’ Theorie der Gabe und der Verausgabung, des Opfers und des Festes ein, die vor allem das Denken Roger Caillois’ wesentlich beeinflusste. Von Robert Hertz übernahm das Collège die Unterscheidung von ›rechtem‹ (reinem) und ›linkem‹ (unreinem) Heiligem; von Georges Dumézil das Interesse an einer vergleichenden Mythologie; und vom Surrealismus, zu dem vor allem Michel Leiris ein Scharnier darstellte, die Faszination für Träume und rauschhafte Erlebnisse sowie das Ziel einer Aufhebung der Grenze von Literatur, Wissenschaft und Lebenspraxis.

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Darüber hinaus weist Moebius nach, dass die Vertreter des Collège die methodischen Ansätze und theoretischen Positionen dieser Einflussfiguren nicht unbefragt übernahmen, sondern sie auf je unterschiedliche Weise transformierten: Während etwa Michel Leiris auch nach seiner offiziellen Trennung vom Surrealismus dessen literarische Faszination für individuelle Traum- und Rauscherfahrungen weiter verfolgte, kritisierte Roger Caillois auf der einen Seite dessen fehlende wissenschaftliche Strenge, monierte Georges Bataille auf der anderen Seite gerade den ›Idealismus‹ des Surrealismus, der bei der surrealen Imagination verharre, anstatt sie ihrerseits auf eine subversive körperliche Erfahrung von Gewalt und Tod hin zu überschreiten.

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Gründungsfiguren und Institutionalisierungsprozesse

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In seinem zweiten Hauptteil zu den »sozialen Dimensionen« des Collège geht Moebius ausführlich auf die politische Initiative Contre-Attaque sowie auf den maßgeblich von Georges Bataille 1936 initiierten Geheimbund Acéphale ein – zwei Bewegungen, die bereits zahlreiche Mitglieder des wenige Jahre später gegründeten Collège versammelten und daher als dessen Vorläufer gelten können. Während die gegenüber der Volksfront Léon Blums kritisch eingestellte Contre-Attaque die Grundlagen für einen effektiven Widerstand gegen den dramatisch wachsenden Faschismus in Europa legen wollte, zielte der Geheimbund Acéphale auf eine herrschaftslose Gemeinschaft, die durch die affektiven und ritualisierten Bindungen zwischen den Mitgliedern eine religiöse Kraft ausüben sollte, sich zugleich aber durch ihre ›Kopflosigkeit‹ von der Blut-und-Boden-Gemeinschaft des Nationalsozialismus zu unterscheiden hatte.

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Nach der Darstellung der Gründung des Collège und seines Programms sowie der Beschreibung des typischen Ablaufs einer Sitzung widmet sich Moebius einer genaueren Diskussion des Denkens der drei Gründungsfiguren Georges Bataille, Michel Leiris und Roger Caillois. In der Gegenüberstellung von Batailles ›allgemeiner Ökonomie‹ und seines Denkens der Souveränität, von Leiris’ ethnographischem Surrealismus und von Caillois’ Sakralsoziologie des Spiels zeigt Moebius, dass das Collège in sich selbst vielgestaltig war und dass zugleich wesentliche Motive seines Denkens im Lebenswerk der Hauptvertreter andauernde Relevanz behielten, wodurch sie über den engen Zeitraums des Bestehens des Collège hinaus eine weitreichende Wirkung entfalteten.

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Dass diese Wirkung nicht auf die französischen Intellektuellenszene beschränkt blieb, zeigt Moebius in einem umfangreichen Kapitel zu den »deutsch-französischen Beziehungen am Collège de Sociologie«. Er untersucht hier zunächst die Gründe für Walter Benjamins ambivalente Haltung zum Collège. Benjamin, der sich im Pariser Exil für das Projekt der Sakralsoziologie interessierte und selbst eine Sitzung zum Thema ›Mode‹ halten sollte (der dann die Auflösung des Collège zuvorkam), erforschte zwar ähnlich wie die Vertreter des Collège das komplexe Verhältnis von Mythos und Moderne und verstand sein Passagen-Werk als Ansatz für eine Theorie der Schwellenerfahrung. Allerdings stand er dem Projekt einer »modernen Mythologie« ungleich kritischer gegenüber als das Collège de Sociologie, dessen Versuch einer Stiftung neuer Mythen für Benjamin in einer unheimlichen Nähe zur Ästhetisierung der Politik im Faschismus stand. Über Benjamin hinaus geht Moebius in diesem Kapitel maßgeblich auf Hans Mayers Überlegungen zu politischen Geheimbünden seit der Romantik ein, die dieser in einer eigenen Sitzung dem Collège vorstellte, sowie auf Motive des Collège in Paul Ludwig Landsbergs Religions- und Wissenssoziologie.

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Wirkungs- und Diskursgeschichte

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In einem eigenen Kapitel zur Wirkungsgeschichte des Collège weist Moebius erfolgreich nach, dass dessen modernitätskritische und religionssoziologische Themen einen teils unmittelbar einsichtigen, teils verborgenen Einfluss auf die Konstitution einer poststrukturalistischen Sozialtheorie ausgeübt haben. Baudrillards Theorie der Gabe und des Opfers sieht er ebenso vom Collège beeinflusst wie Maffesolis ›Neotribalismus‹, Foucaults Denken der Überschreitung, Nancys ›undarstellbare Gemeinschaft‹ , Lévinas’ Begegnung mit dem Anderen und Derridas Aufspüren des Heterogenen in der Denkbewegung der Dekonstruktion.

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Bei dieser vielfältigen Wirkung des Collège de Sociologie auf die poststrukturalistische Denktradition, die auch im deutschsprachigen Diskurs inzwischen fest etabliert ist, erscheint die mangelnde Rezeption des Collège besonders in der deutschsprachigen Soziologie für Moebius zunächst als verwunderlich. In einem eigenen Kapitel zu den »diskursgeschichtlichen Dimensionen« geht er daher den Gründen für diese fehlende Aufmerksamkeit nach. Er sieht sie zum einen in der vorherrschenden Ausrichtung der deutschen Soziologie nach 1945 auf die Tradition empirischer Sozialforschung in den USA. Zum anderen verweist er auf die diskursive Vormachtstellung Jürgen Habermas’, der in seiner einflussreichen Studie Der philosophische Diskurs der Moderne das Denken Georges Batailles, stellvertretend für dasjenige des Collège, als antimodernen und irrationalen Mystizismus diskreditiert. Dieses nach Moebius’ Ansicht eklatante Missverständnis des Collège zu korrigieren ist zweifellos eines der wesentlichen Anliegen der vorliegenden Studie.

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Fazit und Kritik

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Stephan Moebius’ soziologiegeschichtliche Untersuchung des Collège de Sociologie zeugt von einer intensiven und langjährigen Beschäftigung mit seinem Forschungsgegenstand. Sein Anliegen, diese soziologiegeschichtlich bislang nur unzureichend erschlossene Bewegung perspektivreich zu analysieren und zugleich deren andauernde Bedeutung für eine sich als poststrukturalistisch verstehende Kulturwissenschaft aufzuzeigen, hat er auf beeindruckende Weise umgesetzt. »Die Zauberlehrlinge« bestechen zudem durch eine klare, auch für nichtspezialisierte Leser verständliche Darstellung, die weitgehend auf Konzessionen an den Jargon der Zunft verzichtet und doch nicht der wissenschaftlichen Genauigkeit entbehrt. Zudem ist sich Moebius – bei aller Betonung gemeinsamer Grundfragen des Collège de Sociologie – der Tatsache bewusst, dass die am Collège Beteiligten keine einheitliche Kulturtheorie vertraten, sondern ihre Sakralsoziologie aus je unterschiedlicher Perspektive entwickelten.

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Durch die Rekonstruktion der vielfältigen philosophischen, soziologischen und ethnologischen Einflüsse zeigt Moebius anschaulich die innere Pluralität des Collège auf, die bisweilen auch zu handfesten Kontroversen zwischen ihren Mitgliedern geführt hat. Moebius’ Anliegen, diese Vielfalt der Einfluss- und Wirkungslinien in die Struktur seiner Habilitationsschrift aufzunehmen, führt jedoch gelegentlich zu einer überbordenden Fülle an Detailinformationen und Autorennamen, die die über weite Teile unkomplizierte Lektüre unnötig erschwert. Oft siegt dabei die Lust an der Deskription über den Willen zur Synthese – etwa wenn Moebius auf über 25 Seiten die Beiträge der Zeitschrift Acéphale nacheinander referiert, anstatt sich auf die Grundlinien der Fragestellung zu konzentrieren. Zudem rekonstruiert Moebius zwar überzeugend die philosophischen, soziologischen und ethnologischen Einflüsse und Perspektiven des Collège de Sociologie, übergeht jedoch über weite Teile dessen stilistische Form und den literarisch-poetischen Gehalt – auch und gerade in den Abschnitten zum Surrealismus und zu Michel Leiris, der weniger eine stringente Sakralsoziologie entwickelt, als eine Poetik der Schwellenerfahrungen umkreist.

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Ein anderer Einwand wiegt jedoch schwerer. Indem Moebius das Collège de Sociologie emphatisch als »Vorläufer meines eigenen Projekts einer Poststrukturalistischen Sozialwissenschaft« (S. 9) begrüßt, verzichtet er weitgehend auf eine Diskussion der problematischen Aspekte des Collège. Daher lässt er auch zeitgenössische Kritiker, von einigen Überlegungen zu Benjamins Mythoskritik und einer kurzen Skizze des Sartreschen Mystizismus-Vorwurfs abgesehen, nur selten zu Wort kommen. Gerade von einer derart eingehenden und sorgfältigen Arbeit hätte man sich kritische Überlegungen zu jenen problematischen Aspekten erhofft, die – wie etwa das elitäre Gewaltpathos in Caillois’ Vent d’hiver, die mystifizierenden Phantasien der Geheimgesellschaft Acéphale oder das Denken mythischer Gemeinschaft – das Collège in den Kontext antimoderner Tendenzen des frühen 20. Jahrhunderts rücken. Eine eingehende Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas’ oder Peter Bürgers Kritik am Collège de Sociologie – ebenso wie mit der weitgehend undifferenzierten, gleichwohl in radikalem Gestus vorgetragenen Reaktualisierung der Sakralsoziologie als politischer Philosophie bei Giorgio Agamben – hätte die Qualität der vorliegenden Studie noch weiter erhöht. Dass diese gleichwohl sorgfältig recherchiert, klug strukturiert und außergewöhnlich klar geschrieben ist, steht trotz dieser Einwände außer Zweifel.