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Von Glatzköpfen, Marderschädeln und anthropologischen Maschinen

Eine Kulturgeschichte der Physiognomik

  • Jutta Person: Der pathographische Blick. Physiognomik, Atavismustheorien und Kulturkritik 1870-1930. (Studien zur Kulturpoetik 6) Würzburg: Königshausen & Neumann 2005. 280 S. Geheftet. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 978-3-8260-3135-9.
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Vorbemerkung

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Zu Beginn und noch ausführlicher am Schluss ihrer 2003 als Dissertation vorgelegten Untersuchung verweist Jutta Person auf die »anthropologischen Maschinen« Giorgio Agambens. Tatsächlich eignen sich Agambens Reflexionen über anthropologische Maschinen, Menschen, Tiere und Affen vorzüglich als Navigationshilfe durch Persons Text. Sie vermögen insbesondere zu erläutern, warum die Studie den Titel »Der pathographische Blick« trägt. Und so sei in einem kurzen Exkurs die von Person eher implizit verwendete Metaphorik der anthropologischen Maschine vorgestellt und der Rahmen beschrieben, in dem die Arbeit verstanden werden will.

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Exkurs: Anthropologische Maschinen

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In der 1646 erschienenen Ars magna lucis et umbrae, einem Handbuch des Universalgelehrten Athanasius Kircher über Projektionstechniken des Barock, befindet sich die Abbildung einer Apparatur, die mittels eines sinnreichen internen Projektionsnetzes einen Menschen in ein Tier verwandelt. Dieser Mensch befindet sich innerhalb des Apparats vor einem schwenkbaren, auf ein achteckiges Spiegelrad und auf den außerhalb des Apparats befindlichen Betrachter derart gerichteten Spiegel, dass dieser, sobald das Spiegelrad gedreht wird, wahlweise die unterschiedlichen, auf den acht Spiegeln des Rades dargestellten Köpfe von Tieren, das Symbol der ebenfalls dort abgebildeten Sonne oder das Gesicht des Menschen auf dessen Schultern spiegelt. Die Tierköpfe haben einen Halsansatz und menschliche Proportionen. 1 Sinn und Zweck dieser Vorrichtung erläutert Kircher nicht. Der Hinweis auf die (schon in der antiken Mythologie und in der Fabelliteratur beliebten) wechselseitigen Vertauschungen, Spiegelungen und Verwandlungen von Mensch und Tier – »Metamorphosen« nennt Kircher die mit seiner optischen Maschine zu erzielenden Effekte – scheinen ihm eine völlig ausreichende Begründung zu sein. Knapp einhundert Jahre später bezieht sich der Naturforscher Carl von Linné auf eine ähnliche metamorphe Maschine, auf eine spezielle Anordnung von Spiegeln, in denen der Betrachter aufgrund seines zu einer »Affenfratze« deformierten Spiegelbilds die Zugehörigkeit des Menschen zum Tierreich reflektiert sieht. Dieses Spiegelbild untermauert Linnés Überzeugung, dass der Mensch sich, »um menschlich zu sein, als Nicht-Mensch erkennen« müsse. 2 Giorgio Agamben führt Linnés optische Maschine als ein Beispiel für anthropologische Maschinen an, mit deren Hilfe der Mensch sein Verhältnis zu den Tieren bestimmt und die Erkenntnis des Humanen produziert. Agamben unterscheidet zwei anthropologische Maschinen des Abendlandes, die antike und die moderne. Die antike anthropologische Maschine bewirke die Humanisierung des Tieres, die moderne die Animalisierung des Menschen. In Kirchers Apparat laufen beide Maschinen gleichzeitig, insofern auf die tierischen Köpfe ein menschliches Antlitz folgt und auf den Menschen Tierköpfe gespiegelt werden. Während Kirchers Maschinen eine Zone der Ununterscheidbarkeit (von Mensch und Tier) einrichten, lässt sich aus Linnés pejorativer Begriffsverwendung (»Affenfratze«) eine Hierarchisierung des menschlichen Angesichts und seiner tierischen Variationen herauslesen. Linné freilich zögert, die Differenz der Physiognomien zu einer endgültigen spezifischen Differenz zwischen Menschen und Affen (Tieren) zu erklären. Bei ihm herrscht noch eine Art mitfühlender Ergriffenheit über die Ähnlichkeit von Menschen und Tieren vor. Zwar sind die von 1775 bis 1778 in vier Bänden erschienenen Physiognomischen Fragmente des Züricher Theologen Johann Kaspar Lavater ebenfalls inspiriert von der in dieser Ähnlichkeit zum Ausdruck kommenden Symmetrie der göttlichen Schöpfung. Gleichwohl geben sie auf vielfältige Weise Anlass, zwischen Mensch und Tier zu unterscheiden. Mit Lavater kommt die anthropologische Maschine der Modernen in Gang und etabliert – es handelt sich schließlich um eine optische Maschine – den von Jutta Person behandelten, auf abweichende, weil tierähnliche physiognomische Merkmale des Menschen fokussierten Pathographischen Blick.

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Normierung und Abweichung

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Lavaters von Person zu Beginn ihrer Untersuchung behandelte Physiognomik bedeutete einen tiefen Einschnitt für die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen. Sie kann »geradezu als Paradebeispiel jener disziplinierenden und regulierenden Normen begriffen werden, die das Leben im 19. Jahrhundert in eine steuerbare Größe verwandeln« (S. 35). In der Nachfolge Lavaters wurde es »normal«, den Menschen zu animalisieren und seine tierischen Reste aus dem Menschsein auszuschließen. Denn die von Lavater hervorgehobenen physiognomischen Ähnlichkeiten von Menschen und Tieren werden, so Person, unter dem Einfluss der von Charles Darwin (in Bezug auf deviante Personengruppen entwickelten) Vorstellungen vom atavistischen Rückschlag auf frühere Entwicklungsstufen »zu animalischen Überresten im Menschen selbst« (S. 41). Dahinter steht, folgt man der Argumentation von Person, die damals populäre Rekapitulationstheorie, die davon ausging, dass sowohl das embryonale Entwicklungsstadium als auch die Entwicklung des Menschen zum Erwachsenen die stammesgeschichtlichen Stadien wiederholen und im Kinde (wie im ›Wilden‹) sich dementsprechend »tierische«, durch Erziehung und Bildung zu überwindende Reste erhalten haben. Beim Geisteskranken etwa ist die Überwindung dieser Reste nicht gelungen, was Cesare Lombroso in seiner erstmals 1864 erschienenen Monographie über Genie und Irrsinn (Genio e follia) aus dessen von der Normalität abweichenden Zeichenpraxen ablesen zu können glaubt. Weil nun auch die Genies semiotische Konventionen verletzen, kann nur ein Vergleich zwischen den Zeichenpraxen der Genies und der Geisteskranken Aufschluss geben darüber, ob ein semiotisches Artefakt genial oder atavistisch ist. In Genie und Irrsinn erfolgt dieser Vergleich. Person kann zeigen, dass dieses Buch die unsichtbare Basis für Lombrosos bekanntestes Werk Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung (L’Uomo delinquente, 1876) bildet. Erst nachdem der Sprachgebrauch von Genies und ›Irren‹ verglichen ist, finde der »Verbrecher« den zoomorphen Ausdruck für abweichende Zeichenpraxen. Als Richtschnur des Vergleichs diene Lombroso die konventionelle Sprachnorm und das arbiträre Zeichensystem. Je größer die Abweichung von dieser Norm, desto größer der Rückschritt auf animalische Vorstufen des Menschen. Regellosigkeit, Diskontinuität, Assoziationsreichtum der Sprachverwendung und Nichtlinearität sehe Lombroso an als atavistisches Bestreben, »hinter den Zustand der konventionellen Sprache« (S. 79) in chaotische Wildheit und Infantilität zurückzukehren. Hieroglyphenartigen und dekorativen Schriften, generell jedem bildhaften Zeichensystem unterstelle er die Verwandtschaft mit dem Primitiven, Urzeitlichen und Wilden. Semiotische Konstrukte wie Literatur (und Kunst) werden nach Person zu einem biographischen Dokument, an dem sich die Entfernung des Autors/Künstlers von der Normalität ablesen lässt. Entfernung von der Normalität aber sei für Lombroso verbunden gewesen entweder mit Genie oder mit Krankheit (Irrsinn).

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Genie, Wahnsinn und der geborene Verbrecher

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Unter Rekurs auf zeitgenössische Theorien der Degenereszenz durch Vererbung erblicher oder erworbener »Schäden« stellte Lombroso in Genie und Irrsinn die traditionelle, im Phaidros von Platon entworfene, bis ins 18. Jahrhundert verbindliche Idee der dichterischen Mania auf ein »empirisches« Fundament. Der sprichwörtliche furor poeticus war plötzlich doppelt lesbar als progressive oder regressive Devianz, als geniale Überwindung der Normalität oder als Versuch, in einen »primitiven« Sprachzustand zurückzukehren. Weil Genies und ›Irre‹ Zeichenpraxen verwenden, die sich ähneln, stelle sich bei auffälligem Zeichengebrauch, zum Beispiel bei der Vorliebe für dekorative Schriftformen oder aber bei bildhafter Sprache, für Lombroso die Frage, ob der jeweilige Proband ein Genie, ein krankes Genie oder ein ›Irrer‹ mit Genie sei. Demzufolge unterteile Lombroso die Genies in drei Gruppen: In erblich nicht vorbelastete und notorisch gesunde ›Genies ohne Geistesstörung‹, in ›Genies mit Geistesstörung‹ und in ›Irre mit Genie‹. In den 1870er Jahren entwickelte er aus der zweiten Gruppe die Gruppe der ›Halbnarren‹. Sie bilden, so Person, das Bindeglied zwischen Genies und ›Irren‹ auf der Stufenleiter von gesund und krank. Als ›Halbnarren‹ bezeichnete Lombroso »Graphomane«, Vielschreiber, Autoren oft prophetischer Gedankengebäude, Pseudoliteraten an der Grenze zwischen ›krankhaftem‹ und ›genialem‹ Schreiben. Es sind formale und inhaltliche Indikatoren, die auf Genie oder Irresein des Autors/Künstlers verweisen. Wunderliche, seltsame, phantastische Stile (Lombroso nennt die Arabeske und das Ornament) werden als ›krank‹ ebenso verworfen wie jene Literatur und Kunst, die sich inhaltlich mit der Beschreibung des kranken Ichs befasst. Die lombrosianische Formel lautet: Graphische, semiotische und narrative Ordnungslosigkeit bzw. Verstoß gegen Sprach- und Erzählkonventionen verweisen potentiell auf Gesetzlosigkeit und Verbrechertum. Genie und Irrsinn fixiert die ›tierischen Reste‹ im Menschen formal. Im »Verbrecher« findet spiegelbildlich die optische Animalisierung des Menschen statt. Physiognomische Anomalien wie Henkelohren, Bartmangel (beim Mann), fliehende Stirn usw. decken Lombroso zufolge das Tier im Menschen auf, machen aus dem vormodernen Monstrum, dem Hybriden aus Mensch und Tier, den geborenen Verbrecher. Der zoomorphe Ausdruck für stilistische und inhaltliche Abweichung ist gefunden und zu Devianz schlechthin verallgemeinert worden. Die Naturwissenschaften übernehmen die Deutungshoheit über alle Formen gesellschaftlicher Abweichung (und über ästhetische Angelegenheiten) von den Geisteswissenschaften.

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Entartete Nervenzellen

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Max Nordaus zweibändiges Pamphlet Entartung (1892/3) untermauerte den Führungsanspruch des naturwissenschaftlichen Diskurses, der auch in seiner von Person breit diskutierten Auseinandersetzung mit Nietzsche eine Rolle spielte, der ähnlich argumentierte, aber aus ›feindlicher‹ philosophischer Sicht. Person akzentuiert die Doppelbegabung Nordaus: Der in Budapest geborene, in Paris niedergelassene Gynäkologe (und Propagandist der zionistischen Bewegung) war 1882 unter der Betreuung des Neurologen Jean Martin Charcot mit seiner Arbeit über Hysterie De la castration de la femme promoviert worden. Außerdem arbeitete er, nach ausgedehnten Bildungsreisen in Europa, als Feuilletonist und als Paris-Korrespondent diverser europäischer Zeitungen und wurde zu einem der bekanntesten deutschsprachigen Kulturkritiker des ausgehenden Jahrhunderts. Beide Diskurse, der medizinisch-psychiatrische und der kulturkritische, durchkreuzen einander. Entartung ist sowohl eine nervenheilkundliche Studie über Mystizismus, Ichsucht (und männliche Hysterie) als auch über die als pathologisches System dargestellte Kultur des fin de siècle, in der Mystizismus und Ichsucht, die beiden Krankheiten des Jahrhunderts, kondensieren. Richard Wagner und Friedrich Nietzsche figurieren als deren Extremformen. Wagner steht für Mystizismus, Nietzsche für die Ichsucht. Lombroso bewegte sich noch auf stilistischer Ebene und bewertete nichtlineare Erzählweisen wie Arabeske und Ornament lediglich als Indizien für Atavismus. Nordau hingegen argumentierte aus der Perspektive der Neurowissenschaften. Bei ihm verwandelte sich die Signatur der Moderne (Dekadenz, Symbolismus und Naturalismus) in ein Merkmal entarteter Nervenzellen.

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Nach der Lektüre Persons scheinen mir die beiden auffälligsten Merkmale der Rezeption Lombrosos durch seinen Schüler Max Nordau die Radikalisierung der ästhetischen Kritik und der Weg vom Äußeren ins Innere des Schädels zu den Nerven zu sein, wobei allerdings die physiognomischen Befunde Lombrosos weiterhin eine Rolle spielen. Sie werden jetzt gewissermaßen neurologisch unterfüttert. Für Nordau sind Dichtung und Kunst generell aus Krankheiten der Nerven entstanden und haben daher zukünftig im Wettstreit mit ›fitteren‹ Diskursen keine Überlebenschance. Irgendwann wird nach seiner Auffassung der ästhetische Diskurs ein Atavismus sein. Auf der Grundlage dieses simplen diskurspolitischen Darwinismus löst er Lombrosos Gruppe der ›Halbnarren‹ auf und vereinigt sie zusammen mit den ›Genies mit Geistesstörung‹ zur Gruppe der ›Irren mit Genie‹. Eine derart pessimistische Sichtweise auf die Entwicklung von Literatur und Kunst war selbst für Nordaus Mentor Lombroso zu radikal. In seinen Studien über Genie und Entartung (Genio e degenerazione, 1897) verschwindet die Gruppe der gesunden Genies fast vollständig. Lombroso betonte nunmehr in Widerspruch zu Nordau die gesellschaftlich positive Funktion der Krankheitsform Genie. Das ist die Geburtsstunde des weit verbreiteten Stereotyps der Identität von Genie und Wahnsinn. In Genie und Irrsinn ging es demgegenüber nur um die Ähnlichkeit (der Stile der Genialen und der ›Irren‹).

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Nordau unterstellte eine infektiöse Wirkung der Genies. Den Ansteckungs-Gedanken leitet Person aus einer Bemerkung Charcots ab, dass Nervöse einander anziehen. Ob eine derartige Bemerkung ausreicht, um Nordaus Hypothese zu begründen, Genies könnten wie eine kranke Nervenzelle andere empfangsbereite Zellen infizieren, scheint mir zweifelhaft. Nach dieser Hypothese sind das Genie, der Geisteskranke, der Anormale lediglich Maskeraden kranker Hirnzellen. Literarische und künstlerische Artefakte hält Nordau für Produkte eines entgleisten Hirnstoffechsels, Atavismus für Bildungshemmung. Die Nervenzelle (der tierische Rest im Menschen) wehrt sich sozusagen gegen die Aufnahme und Speicherung von Wissen. Alle von Lombroso genannten stilistischen Besonderheiten der Genialen und ›Irren‹ (Bildhaftigkeit der Sprache, semiotische und narrative Ordnungslosigkeit etc.) führt Nordau auf Fehlschaltungen, Blockaden oder Ausfälle von Nervenzellen zurück, auf ›Entartung‹. (Rationales) Denken ist den ›Entarteten‹ nicht möglich. Die falschen Nervenverschaltungen erzeugen nur noch falsche Ideenassoziationen. Der Ausfall der konventionellen Semantik schließt die ›Entarteten‹ aus der Gattung der sprechenden Tiere, der Menschen aus. Sie bilden eine vormenschliche Paragattung. Nordau vergleicht sie mit dem Ungeziefer, das mit anderen Mitteln kommuniziert, zum Beispiel mit Düften, wie Person dies am Beispiel der Auseinandersetzung Nordaus mit Emile Zola zeigt: Als »schlagenden Beweis seiner atavistischen Tierhaftigkeit« (S. 123) traktierte Nordau exemplarisch die Geruchsobsession des französischen Naturalisten. Wie allen anderen Duftfetischisten unter den zeitgenössischen literarischen Genies (man denke beispielsweise an Huysmans) bescheinigte er Zola und seinem Publikum einen auf Kosten des Hirnlappens vergrößerten Riechlappen. Nach Nordau ähneln ›Entartete‹ den ausschließlich ihren Sinnen unterworfenen Gliedertieren, Wurzelfüßlern und dem Ungeziefer. Noch darunter aber standen die ›Riecher‹.

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Die Drüsen der Dichter

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Eine Generation nach Nordau beanspruchte Ernst Kretschmer in Körperbau und Charakter (1921) ebenfalls die Deutungshoheit des naturwissenschaftlichen Diskurses über Stil, Gattungszugehörigkeit und Thematik literarischer Texte sowie über Abweichung. Am Beispiel des Kapitels »Die Genialen« zeigt Person, wie Kretschmer bildungsbürgerliche Stereotypen der Künstlerfigur in sein dualistisches System aus Biotypen (Leptosome und Pykniker) ausdifferenziert, in Figuren des schizophrenen und des zirkulären Formenkreises und ihrer unterschiedlichen Abstufungen und Vermischungen. Es sind nicht Atavismus oder Nervenzellen, die den (leptosomen, pyknischen oder athletischen) Körperbau, die Physiognomie und das Werk von schizothymen oder zyklothymen Künstlertemperamenten modellieren, sondern (wie bei allen Menschen) der »Gehirn-Drüsenapparat«. Diesem wiederum – Kretschmer wagt sich weiter ins Körperinnere vor als Nordau – ist der »Blutchemismus« der über den gesamten menschlichen Körper verteilten endokrinen Drüsen übergeordnet: »Der Dichter schreibt, was seine Drüsen diktieren« (S. 241). Signifikante körperliche Merkmale, starke Behaarung etwa oder Glatzköpfigkeit, Tierähnlichkeit (Vogel- oder Marderkopf) beruhen auf der Ausscheidung endokriner Drüsensekrete statt auf Atavismus und Nervenkrankheiten. Kretschmer distanziert sich ausdrücklich von Theorien des Rückschlags. Andererseits bezieht er sich, das dokumentiert Person sehr detailliert, durchaus auf sehr alte Theorien, auf die Humoralpathologie, auf die Säftelehre und vor allem auf die Physiognomik, die durch Kretschmer eine Renaissance erlebte. Aber er modernisiert diese Theorien oder er invisibilisiert sie wie die literarischen Quellen seiner Biotypen.

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Während des Ersten Weltkriegs hatte Kretschmer als Militärpsychiater – Person berührt diese wichtige Epoche in seiner Biographie nur am Rande – Diagnosen abgelehnt, welche die durch die brutalen Materialschlachten ausgelösten Traumata (Zittern, Erblinden, Ertauben, Verstummen) auf zerebrale Irritationen durch Zunahme des Luftdrucks bei Granatexplosionen (shell shock) zurückführten. Eine solche an mechanischen Läsionen der Nervenzellen orientierte Diagnostik stand quer zu seiner Theorie des »Blutchemismus«. Kriegsneurosen hatten in seinen Augen keinen Krankheitsstatus. Sie entsprangen angeblich dem Versuch des ›Gewohnheitshysterikers‹, durch Vortäuschung oder Einbildung neurotischer Symptome entweder nicht an die Front zurückkehren zu müssen oder eine staatliche Rente kassieren zu können. Er forderte, den Kriegsneurotiker für seine Krankheit haftbar zu machen, und setzte sich mit dieser Forderung durch. In Anschluss an Kretschmer wurden die erkrankten Soldaten mit Isolation, Zwangsexerzieren, Elektroschocks von der Militärpsychiatrie wieder fronttauglich ›therapiert‹. 3 Kretschmers Haltung in der Kriegsneurosenfrage bildete die Negativfolie des später in seinem Buch über Geniale Menschen (1929) vertretenen Züchtungsgedanken. Lassen sich Neurosen gewissermaßen ›abzüchten‹, so ist »Die Züchtung der Begabung« gleichfalls denkbar. »Die Züchtung der Begabung« heißt ein Kapitel seines der Aufzucht von Genialen gewidmeten Buches. Interessanterweise, hierauf verweist Person, knüpft Kretschmer trotz aller Modernisierungen an das alte, von Lombroso später selbst modifizierte dualistische Konzept der ›Genies ohne Geistesstörung‹ und der ›Genies mit Geistesstörung‹ aus Genie und Irrsinn an, ein deutlicher Hinweis auf die im Hintergrund unverändert weiterlaufende anthropologische Maschine der Modernen und die von ihr bewirkte, in der lombrosianischen Verbrecher-Physiognomik zum Ausdruck kommende Animalisierung des Menschen. Entgegen allen Distanzierungsversuchen gehen unreflektierte, von Lombroso übernommene Atavismus- und Dichtungstheorien mit der ins Rassebiologische spielenden Theorie des »Blutchemismus« und mit dem »Phantasma der Züchtung« (S. 233) bei Kretschmer eine für die Epoche charakteristische Verbindung ein. Ungeachtet vieler Berührungspunkte allerdings sei Kretschmers Züchtungsphantasma nicht identisch mit Eugenik und Rassenhygiene. Aber Geniale Menschen weist schon den Weg vom »Blutchemismus« der Drüsen zur »Blutmischung« der Rassen, so nennt Person ihr Kapitel über gezüchtete Geniale in der Weimarer Republik. Am Ende dieses Weges befand sich der Ausnahmezustand, die Produktion des ›nackten Lebens‹ in den Lagern des Nationalsozialismus. Aus der Erfahrung des Lagers – nach Agamben das biopolitische Paradigma der Moderne 4 – und der dort anzutreffenden extremsten Figuren des Humanen und Inhumanen ergibt sich die Notwendigkeit, die Funktionsweisen der anthropologischen Maschine zu begreifen und sie gegebenenfalls zum Stillstand zu bringen. Dieses hier paraphrasierte Agamben-Zitat bildet den Schluss-Satz der Untersuchung Persons.

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Fazit

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Persons Buch bedient viele unterschiedliche Forschungsinteressen. Es sind in ihm Details zu entdecken, die auf alle hier genannten und auf die vielen von mir nicht genannten Autoren, von Lavater bis Kretschmer, von Carus bis Theodor Lessing sowie deren Theorien ein erhellendes Licht werfen. Überzeugend zeigt Person, wie Literatur und Kunst zur Datenbank für kriminalbiologische, neurologische und konstitutionspsychologische Spekulationen verkommen. Deutlich wird auch die erstaunliche Haltbarkeitsdauer der Physiognomik. Besonders lesenswert scheint mir die Studie vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Versuche der Neurowissenschaften, die Deutungshoheit über Devianz nach interaktionistischen Zwischenspielen in den 1970er und 1980er Jahren zurückzugewinnen. Die Begriffe sind neu, das Argument alt, dass nämlich der ›Anormale‹ ausschließlich gesteuert werde durch endogene Instanzen, seien es genetische Defekte wie der Atavismus, kranke Nervenzellen oder »Blutchaos«, seien es chemische Maschinen: Botenstoffe, Hormone oder Stoffwechselvorgänge im Gehirn.

 
 

Anmerkungen

Eine Abbildung des Apparats befindet sich bei Jurgis Baltrušaitis: Der Spiegel. Entdeckungen, Täuschungen, Phantasien. Aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Gießen: Anabas 1986, S. 37. Vgl. die Digitalisierung im Rahmen des Echo-Projekts der Max-Planck-Institute: Athanasii Kircheri Ars magna lucis et umbrae [...]Rom: Scheus 1646. URL: http://nausikaa2.mpiwg-berlin.mpg.de/cgi-bin/toc/toc.x.cgi?dir=5G6UYVGT&step=thumb, Dig. 1037, URL: http://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/zogilib?fn=/permanent/einstein_exhibition/sources/5G6UYVGT/pageimg&pn=1037  (Datum des Zugriffs: 13.1.2009).   zurück
Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Aus dem Italienischen von Davide Giuriato. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 38.   zurück
Die wenig rühmliche Rolle Kretschmers in der deutschen Militärpsychiatrie behandeln Peter Riedesser und Axel Verderber: »Maschinengewehre hinter der Front«. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie. Frankfurt/M.: Fischer 1996, S. 39–42, 89.   zurück
Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002.   zurück