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Programmierte Leser, nicht Taten

  • Martin Andree: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. Paderborn: Wilhelm Fink 2006. 247 S. 37 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 19,90.
    ISBN: 978-3-7705-4316-8.
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Wer die anhaltende Gewaltdebatte um bestimmte Medieninhalte verfolgt, die das Zeug haben sollen, mehr oder weniger aggressionsbereite Zeitgenossen zu mehr oder weniger überraschenden Gewalttaten (mit mehr oder weniger nachhaltiger Wirkung) anzuhalten, wird diese Debatte als eine ausgesprochen neuzeitliche wahrnehmen. Das liegt unter anderem an der für Mediensysteme charakteristischen Selbstreferenzialität, die sich darin äußert, dass einschlägige Schreckensmeldungen nicht nur von Massenmedien als (womöglich) auslösenden Faktoren bei unerwünschten sozialen Ereignissen und Entwicklungen handeln, sondern ihrerseits auf eine massenmediale Verbreitung angewiesen sind, um den intendierten Alarm- oder Irritations-Effekt überhaupt erst auszulösen. Weswegen man folgerichtig auch über die entsprechenden (möglichen) ›Folgegefahren‹ debattieren müsste:

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Was ist, wenn exzessive mediale Berichterstattung über womöglich medial ausgelöste Gewaltexzesse erst recht exzessive Gewaltkommunikation perpetuiert – und damit solchen unerwünschten Ereignissen und Entwicklungen am Ende noch mehr Vorschub leisten kann als die ursprünglich den Medien zugeschriebenen Gewaltexzesse?

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Das sind Gedankengänge, welche sich direkt an die hier anzuzeigenden, deutlich von Luhmanns systemtheoretischer Analyse der gesellschaftlichen Funktion von (Massen-)Kommunikation 1 inspirierten Überlegungen zur Mediengewaltdebatte anschließen lassen. Martin Andrees aktuelle Abhandlung Wenn Texte töten ist als Folgeband zu einer umfangreichen Dissertation entstanden, die sich als eigentliche ›Archäologie‹ der Medienwirkung versteht; 2 das im doppelten Sinne ›graphische‹ Titelbild mit den leuchtendroten Blutspuren soll dabei wohl nicht ganz zufällig an einschlägige Serienkrimis erinnern.

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Vom Killerbuch zum Killerspiel

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Neuzeitlich ist die entsprechende Debatte schon. Aber das heißt nur, dass sie sich soweit in die Mediengeschichte zurückverfolgen lässt, als diese ihrerseits eine massenmedial vermittelte ist. Und das ist beachtlich weit zurück, wie etwa der sogenannte »Borbecker Kindermord« belegt:

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Im Jahr 1911 setzte eine grausame Tat das kaiserliche Deutschland in Aufruhr. Ein 16-jähriger Knecht hatte ohne erkennbaren Anlass den vierjährigen Sohn seines Dienstherren ermordet. Auf der Suche nach einem Motiv wurde festgestellt, dass der Knecht nie auffällig geworden, aber ein eifriger Kinobesucher gewesen sei. Vor der Mordtat habe er einen Film gesehen, in dem Weiße von Indianern überfallen worden sind. 3
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Es müssen also nicht immer computervermittelte killergames oder besonders explizite Krimiserien im Fernsehen sein, die als potenziell gewaltverherrlichende Medieninhalte in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Es können durchaus auch massentaugliche ›Killerfilme‹ – in unserem Fall ein Kurzfilm-Western der Stummfilmzeit – 4 oder unter Umständen besonders suggestive ›Killerbücher‹ sein.

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Programmierte Suizidhandlungen?

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Wenn möglicherweise medienvermittelte oder -geförderte ›Gewalt gegen Leib und Leben‹ nicht gegen andere (mehr oder weniger zufällig ausgewählte) Gesellschaftsmitglieder gerichtet ist, sondern gegen die Person des Ausübenden selbst, spricht man in der Medienpsychologie und in der Kommunikationswissenschaft fachübergreifend vom ›Werther-Effekt‹. 5

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Darunter versteht man den nachweislichen oder vermuteten Einfluss medialer Texte (oder besser: den Einfluss des Konsums ebensolcher Texte) auf Suizide und entsprechende Versuche, die in der sozialen Realität stattfinden. Dazu gehören Selbstmord(versuch)e, die in Zusammenhang mit Todesfällen von Prominenten wie etwa Rudolph Valentino, Marilyn Monroe oder auch Uwe Barschel gebracht werden, aber auch Suizide, für die der Konsum aufwühlender fiktionaler Medientexte (mit) verantwortlich gemacht wird. Entsprechende Fälle sorgen immer wieder für Schlagzeilen: So etwa soll 1980 die Ausstrahlung des sechsteiligen ZDF-Fernsehfilms Tod eines Schülers laut dem damaligen »Zentralinstitut für Seelische Gesundheit« in Mainz zu einem Anwachsen der Bahnselbstmorde von Jugendlichen von bis auf das Dreifache geführt haben. 6 .

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Allerdings sind auch im Fall von weniger spektakulären öffentlichen Selbstmordmeldungen Nachahmungstaten nie ganz auszuschließen. Erwiesen scheint bis dahin lediglich, dass sich kein Mensch allein und ausschließlich von medialen Vorbildern motiviert plötzlich dazu hinreißen lässt, seinem Leben ein gewaltsames Ende zu bereiten. Wer aber bereits mit dem Gedanken spielt, mag sich aus der medialen Nacherzählung eines entsprechenden Todesfalls durchaus Teile eines entsprechenden Sterbeplans ›ausleihen‹ – sei es die Wahl einer besonders sanft erscheinenden oder womöglich besonders spektakulären Todesart oder auch die Wahl eines besonderen Sterbeortes.

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Vor einigen Jahren geriet in der Schweiz ein Pressebild in entsprechenden Suggestionsverdacht, das einen Stuhl vor einem mit einem hohen Zaun gesicherten Brückengeländer in Lausanne zeigte, von dem sich an dem Tag jemand in die Tiefe gestürzt hatte. Auf die Idee, einen Stuhl oder eine Leiter mitzubringen, muss man tatsächlich erst einmal kommen – und könnte man aufgrund eines entsprechenden (bildlichen oder textlichen) Hinweises vielleicht tatsächlich kommen. Aber die Frage bleibt, inwiefern ein Zeitungsredaktor für die Aufnahme eines leeren, deutlich ›deplatzierten‹ Stuhles im öffentlichen Raum zur Rechenschaft gezogen werden kann, weil sie vielleicht als Aufforderung zum Suizid interpretiert werden und zu Nachfolgetaten (ver-)führen könnte?

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Angewandte Medienwirkungsärchaologie

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Hier nun wird der originale Werther-Fall aufgerollt, 150 Jahre nach den Fakten und zeitgenössischen Mutmaßungen. Martin Andree befasst sich in seinem Buch mit dem plakativen Titel Wenn Texte töten spezifisch mit dem Nachwirken von Goethes Die Leiden des jungen Werther a) als Bestseller der Sturm- und Drangzeit mit nachweislichem ›Kultstatus‹ und b) als reißerischem Romantik-Thriller mit dem zweifelhaften Ruf einer nachhaltig wirksamen ›Killer-Literatur‹. Allerdings ist dies nicht der erste Beitrag zu einen historischen Medienwirkungsanalyse der Werther-Geschichte, wie die Verlagsanzeige etwas vollmundig verkündet: 7

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Vorhergehende Studien wie jene von Georg Jäger und Ingrid Engel (die Andree zitiert) haben auch schon Goethes Frühwerk auf seine suggestive Wirkungsmacht hin abgeklopft und sich dabei mit (bestimmten) Lesepraxen als Weltkonstruktion und potenzielle Anstiftung zum – konstruktiven oder auch destruktiven – Handeln auseinandergesetzt. 8 Innovativ ist Andrees Ansatz insofern, als hier die Werther-Episode konsequent einer Luhmann’schen Sichtweise auf Wirkungsweisen von Kunst unterzogen wird, wobei im Vordergrund der perpetuierte Medienskandal um tatsächliche oder vermutete imitatio-Lektüren und entsprechenden Vorbeugemaßnahmen steht.

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Ausgehend von einer systemtheoretischen Definition des Lesens als Kommunikation und Operation (»Lesen ist die Transformation von Text in Wissen und umgekehrt«, S. 38) untersucht der Autor zunächst mehrere Aspekte neuzeitlicher Buchlektüre als Wissensaneignung, aber auch Wissenskonstruktion: Dazu gehört das (keineswegs immer nur metaphorisch gemeinte) ›Verschlingen‹ von spannenden Lesestoffen und die emphatische Lektüre – solche besonders intensiven Formen des Kunsterlebens ließen sich durchaus auch mit Begriffen aus der Computerspielforschung wie etwa der ›Immersion‹ umschreiben. 9 Einem Kapitel zur eigentlichen ›Programmierung‹ der zeitgenössischen Werther-Leserschaft durch authentisierende Textstrategien (dazu gehört die Form des Briefromans) folgen eingehende Analysen der Aneignung und Wirkung, die einerseits dem Kultcharakter des Buches nachspüren und andererseits der (in der christlich-abendländischen Kultur ursprünglich der Christusnachfolge vorbehaltenen) imitatio, wie sie für Die Leiden des jungen Werther verschiedentlich bezeugt ist; wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil das Lesen von literarischen Fiktionen im 18. Jahrhundert (in einem Zeitalter der sich erst allmählich verbreitenden Alphabetisierung im deutschsprachigen Raum) noch nicht so stark auf konventionalisierte Wissensbestände um Genres und entsprechende Formeln abstützen konnte.

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Augenfällige Parallelen

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Inwiefern sich Lesende nun von einer empathischen und in der Wiederholung kultisch zelebrierten Lektüre des Werther zum Suizid haben hinreißen (oder zumindest mit anregen) lassen, kann auch Martin Andree nicht für alle der kolportierten Fälle des ›Werther-Fiebers‹ nachweisen. Dass es solche Zusammenhänge gab, steht für den Autor jedoch außer Frage. Dabei geht es ihm bei seiner Spurensuche weniger um eine entsprechende akribische Beweisführung, sondern vielmehr um das Verhältnis von Reaktion und Gegenreaktion, also etwa die Rückwirkungen der zeitgenössischen, und oft genug reißerischen, Berichterstattung auf die offenbar durchaus mit nachhaltigem Erfolg irritierte damalige Öffentlichkeit. Mit anderen Worten: Den belegten Suizidfällen gegenüber stehen auch belegte (hauptsächlich kirchliche) Zensurmaßnahmen und entsprechende -forderungen, die die Parallelen der Mediengewaltdebatten von gestern und heute explizit vor Augen führen.

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›Illustrierung‹ ist im Übrigen ein zentrales Stichwort, welches sowohl den Inhalt wie die Form des vorliegenden Bandes treffend charakterisiert. Eine genauso deutliche Sprache wie der Text (der für geneigte Lesende sehr wohl bedeutsames Wissen schafft und damit zu ausgiebigen und spannenden Anschlussoperationen Stoff liefern dürfte) sprechen nämlich die sorgsam edierten und kommentierten zeitgenössischen Darstellungen als ›Sittenbilder‹; rund 40 an der Zahl. Aus diesen Illustrationen wie auch aus den ausgiebig zitierten Quellentexten ergeben sich immer wieder überraschende Einblicke in die Mechanismen der Wechselwirkung zwischen Mythen und öffentlicher Meinung.

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Dabei mündet die historische Spurensuche letztlich nicht etwa in einer klaren Stellungnahme ›für‹ oder ›wider‹ populäre Kulturprodukte (zu denen Goethes erfolgreiches Frühwerk zweifellos zu zählen ist). Aber doch in einer deutlichen Stellungnahme gegen ideologische Vereinnahmungen und für bewusst wahrgenommene gesellschaftliche Verantwortung. Denn, so der Autor, »Es gibt Einzelfälle, in denen Texte töten. Sie sind schreckliche Tragödien – und zugleich der Preis der Freiheit.« (S. 224)

 
 

Anmerkungen

Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. 3. Aufl. Opladen: Verlag für Sozialwissenschaften 2004; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt: Suhrkamp 1998. Eine konzise Zusammenfassung liefert Sven Grampp: McLuhmann. Niklas Luhmanns Systemtheorie und die Realität der Medien. In: Medienwissenschaft Rezensionen, Jg. 2006, H. 3, S. 260–276.   zurück
Martin Andree: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute. München: Wilhelm Fink 2005; in 2. Auflage erschienen 2006.   zurück
Vgl. Bayerisches Sonntagsblatt vom 25.2.2007; zit. in Dietmar Heeg: Befasst euch mehr mit den Lebenswelten der Jugendlichen. Wider die Medienverwahrlosung durch Killerspiele. In: Medienheft vom 5.3.2007, vgl. www.medienheft.ch/politik/bibliothek/p07_HeegDietmar.pdf (30.5.2007).   zurück
Zur Diskussion um frühe Kinoleidenschaft als ›Anreiz zum Mord‹ auch Christian Schoen (Hg.): Apfelböck oder über das Töten. Materialien und Essays zum Fall Apfelböck, zu Bertolt Brecht und zu Bildern vom Töten. München: belleville 2005.   zurück
Vgl. Volker Faust: Selbstmord als Nachahmungstat. Der ›Werther-Effekt‹ als medien-induzierte Selbsttötung. Vgl. www.psychosoziale-gesundheit.net/pdf/werther_faust.pdf (30.5.2007), und auch den entsprechenden Eintrag in Wikipedia.   zurück
Dazu Robert Stromberger, Claus Peter Witt, Didier Benoit, Wilfried Hoffer: Tod eines Schülers. Materialien zu ZDF-Fernsehprogrammen. München: Goldmann 1986.   zurück
Vgl. Buchumschlag: »Wenn Texte töten ist die erste historische Untersuchung über die Frage, ob Medienkonsum ›gefährlich‹ sein kann.«   zurück
Georg Jäger: Die Leiden des neuen und alten Werther. Kommentare, Abbildungen, Materialien zu Goethes ›Leiden des jungen Werthers‹ und Plenzdorfs ›Neue Leiden des jungen W.‹. (Hanser Literatur-Kommentare, Bd. 21) München: Hanser 1984;Ingrid Engel: Werther und die Wertheriaden. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte. (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft; Bd. 13 St. Inbert: Röhrig 1986.   zurück
Dazu Janet Murray: Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. New York et al.: The Free Press 1997, und Peter Vorderer: Interactive Entertainment and Beyond. In: Dolf Zillmann / P. V. (Hg.): Media Entertainment. The Psychology of Its Appeal. Hillsdale: Lawrence Erlbaum Associates 2000, S. 21–36.   zurück