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Aus der Kinderstube der Literaturkritik

Sylvia Heudecker ermittelt drei Frühformen literaturkritischen Schreibens und verlängert die Geschichte der Literaturkritik zurück ins 17. Jahrhundert

  • Sylvia Heudecker: Modelle literaturkritischen Schreibens. Dialog, Apologie, Satire vom späten 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. (Studien zur deutschen Literatur 179) Tübingen: Max Niemeyer 2005. X, 432 S. Kartoniert. EUR (D) 84,00.
    ISBN: 3-484-18179-6.
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Literaturkritik ist ›in‹, zumindest deutet die wieder größer werdende Zahl der Publikationen darauf hin. Hauptsächlich handelt es sich um Einführungen, Systematisierungsversuche, Detailstudien oder Stellungnahmen mit Blick auf neueste Entwicklungen. 1 Zur Geschichte der Literaturkritik freilich gibt es bisher nicht so viel grundlegend Neues, schon gar keine umfangreicheren Überblicksdarstellungen. Die einzige umfassende Bestandsaufnahme stammt von Peter Uwe Hohendahl und ist nun schon über 30 Jahre alt. 2 Es scheint vor allem das Interesse an dem Konfliktpotenzial der Kritik zu sein, das sich immer wieder für Aktualisierungen anbietet. So hat Hohendahl angemerkt, dass die »Geschichte der Literaturkritik« auch als »eine permanente Krise« dargestellt werden könnte. 3

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Sylvia Heudeckers Studie geht von der Überlegung aus, dass eine wichtige historische Voraussetzung der meisten Arbeiten zur Literaturkritik kritisch zu hinterfragen ist. Literaturkritik erblickt, im deutschsprachigen Raum, nicht erst in der Aufklärung das Licht der publizistischen Welt. Insofern ist beispielsweise Hohendahls Feststellung zu modifizieren: »Der [in der Öffentlichkeit oftmals] inkriminierte Begriff von Literaturkritik blickt auf eine Geschichte von zweieinhalb Jahrhunderten zurück. Vor dem 18. Jahrhundert ist er unbekannt.« 4 Der Begriff der Literaturkritik mag unbekannt gewesen sein; doch literaturkritisches Schreiben findet sich schon vor dem 18. Jahrhundert.

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Dialog, Apologie, Satire

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Heudecker weist dies nach, indem sie drei literaturkritische Schreibweisen identifiziert und beispielhaft ihre Verwendung vorführt: den Dialog als kritisches (Selbst-)Gespräch über Literatur; apologetische Äußerungen zur Literatur; satirische Angriffe auf Literatur.

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Zunächst skizziert Heudecker ihre methodischen Voraussetzungen. Dabei begreift sie Literatur als sich entwickelndes System, das sich vor allem an der antiken und frühneuzeitlichen Rhetorik orientiert. Der Rückgriff auf rhetorische Grundbegriffe zieht sich durch die Arbeit, er hat zweifellos große Berechtigung: Sowohl im Barock als auch in der Frühaufklärung war die Auseinandersetzung mit der Regelhaftigkeit literarischen Schreibens entscheidend für die Produktion von Literatur und für die Kritik daran. Die Auseinandersetzung mit der jeweiligen aktuellen oder tradierten richtungsweisenden Literaturproduktion lässt sich bereits als Vorform literaturkritischen Schreibens verstehen, zumal diese Auseinandersetzung in Publikationen geführt wurde und somit der interessierten literarischen Öffentlichkeit zugänglich war, auch wenn diese ›Öffentlichkeit‹ noch sehr klein war und in keiner Weise mit dem vergleichbar ist, was wir heute darunter verstehen. »Kritik ist eine Denkbewegung, die anzweifelt, prüft und argumentativ begründete Urteile fällt« (S. 18). Und für diese ›Denkbewegung‹ gibt es, das zeigt Heudecker eindrucksvoll auf, zahlreiches Belegmaterial.

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Das – in Texten inszenierte – Gespräch über Literatur spielt dabei eine zentrale Rolle: »Der Dialog erweist sich [...] als geeignetes Vehikel, die erkenntnistheoretische Überzeugung zu vermitteln, Wissen sei nie etwas Abgeschlossenes, Fertiges. Verlässliches Wissen entsteht nur in einer immer wieder vonstatten gehenden Konfrontation unterschiedlicher Positionen mit dem Ziel, die Wahrheit zu finden« (S. 27).

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Verschiedene Gesprächstypen lassen sich unterscheiden. Wie sich das kritische Gespräch über Literatur in der Literatur realisiert, wird vor allem an folgenden Beispielen deutlich: Johann Rists Monatsunterredungen (1663 ff.), Erasmus Franciscis Die Aller-Edelste Kunst der alleredelsten Gemüter (1670), Christian Thomasius’ Monatsgesprächen (1688 ff.), an Beispielen Moralischer Wochenschriften des 18. Jahrhunderts und an Lessings Briefen, die neueste Litteratur betreffend (1759 ff.) sowie seinen Briefen antiquarischen Inhalts (1768 f.).

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Schon vor Beginn der Aufklärung gilt dabei als literaturkritisches Prinzip: »Erst die vernünftige Fundierung einer Meinung kann zum Gegenstand literaturkritischer Gespräche werden« (S. 103). Was unter ›vernünftig‹ zu verstehen ist, ändert sich allerdings im Laufe der Zeit. Auch die Forderung nach »Wahrheit« der Darstellung in Romanen (S. 105) ist abhängig von der Perspektive. Um einen möglichst objektiven Begriff von vernünftiger, wahrer Literatur zu erhalten, setzt beispielsweise Thomasius auf »Polyperspektivität«, was freilich eher ein Kunstgriff ist, um »seine eigene Meinung« zu »kaschieren« (S. 108). Diese eigene Meinung wird zunehmend wichtig: »Allein auf Autoritäten zu vertrauen, ist anstößig; wer nicht selbst nachdenkt, kann sich kein fundiertes Urteil erlauben, lautet eine feste Überzeugung der Frühaufklärung« (S. 132).

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Insofern ist es verständlich, dass der Dialog aus der Mode kommt. Doch nicht nur das Streben nach deutlicher Meinungsäußerung, sondern auch das neue Gebot der Kürze durch die aufkommenden Zeitschriften sorgt für den Wandel. Hier bietet sich zunächst der veröffentlichte Brief an, auch der (oft fingierte) Leserbrief und die Erwiderung darauf (S. 144 ff.). Mit dem Adressaten wird zugleich der Leser angesprochen.

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Heudecker lässt keinen Zweifel an der Bedeutung Lessings für die Entwicklung literaturkritischen Schreibens: »Die Anforderungen, die der Autor an sein Publikum stellt, lassen das aufgeklärte Bild vom kritikfähigen und mündigen Bürger entstehen« (S. 150). Lessing nimmt dabei das Publikum »nicht bloß als unbestimmte Masse, sondern als in sich stark differenzierte Öffentlichkeit« wahr (S. 153). Für die Literatur wie die Literaturkritik entwickelt sich ein »Originalitätsbewusstsein« (S. 163).

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Mit der Apologie, also der »Verteidigungsrede«, aktualisieren die sich über Literatur äußernden Autoren ein bekanntes rhetorisches Muster (S. 181). Heudecker zeigt Grenzen und Möglichkeiten des Verfahrens vor allem an folgenden Beispielen auf: Nicolaus Hieronymus Grundlings Gedancken über Silii Italici Poesie (1717) und Lessings Rettungen des Horaz (1754). Lessing formuliert »eine Werbeschrift in eigener Sache«, die zugleich »als kritischer Lehrgang für das Lesepublikum« gedacht ist. Hier finden sich die Grundlagen »eines unabhängigen Kritikertums« (S. 234). Eingenommen werden kann sowohl die Position des Richters wie die des Verteidigers (S. 241). Zukunftsweisend ist, dass der Kritiker Lessing seine »Parteilichkeit« offen legt und somit die »Relativität der eigenen Position« anerkennt (S. 242). Mit Lessings Arbeiten und der von ihm anerkannten »Macht« des Publikums (S. 251) ist die Studie freilich in der bekannten Gründerzeit der Literaturkritik angekommen.

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»Satire als Schreibweise« (S. 259) hat nicht nur für Kritiker, sondern auch für Schriftsteller bis heute ihre Bedeutung behalten. 5 Heudecker hat umfassende Kenntnisse satirischen Schreibens in der Frühen Neuzeit, daher kann sie auf unterschiedlichste Formen eingehen, etwa die keineswegs zu vernachlässigende Epigrammatik (S. 279 ff.). Christian Wernickes Überschrifften (1704) und Texte Lessings liefern die zentralen Beispiele. Für Satire als Gattung wird auf das anonym publizierte Scribentenhospital (1748), auf Lessings Vade mecum für den Hrn. Sam. Gotth. Lange (1754) und auf die Schriften Christian Ludwig Liscows verwiesen, für den die Kritik »zum Ordnungsinstrument im Reich der Literatur« wird, »über das jeder Gelehrte rechtmäßig verfügen kann« (S. 308). Satire als Kritik möchte Liscow für jene Autoren reservieren, die so schlecht schreiben, dass man sie nur noch »der Lächerlichkeit« preisgeben kann (S. 316). Hier regiert die »didaktische Wirkungsabsicht« in extremer Form, Satire ist eine bittere, aber notwendige »Arznei« (S. 317). Zweifellos dienen die satirischen Verrisse aber auch der Profilbildung ihrer Urheber (vgl. S. 386).

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Fazit

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Abschließend kann Heudecker zu Recht feststellen: Erst in einer Wechselwirkung zwischen Textformen und literaturkritischem Anliegen entsteht ›die Literaturkritik‹ (S. 388). Ihre Arbeit ist ein Baustein einer künftigen, umfassenderen Geschichte der Literaturkritik und zugleich ein Anstoß, weitere Schlaglichter auf bisher wenig beachtete, literaturkritisch schreibende Autoren oder literaturkritische Schreibweisen zu werfen. Folgt man Heudecker, dann hat schon Lessing erkannt: »Eine besondere Lust beim Lesen fördert den Nutzen der Lektüre« (S. 239). Das ist jedoch nicht immer auch das Leitbild von Heudeckers Arbeit. Sätze wie der folgende lassen sich unkommentiert kaum verstehen, es sei denn, man verfügt über das nötige Grundlagenwissen: »Die maieutische Technik der Sokratischen Gesprächsführung zeigt sich ganz offen im Text« (S. 247). Dazu kommen Wiederholungen und wenig nachvollziehbare Satzkonstruktionen. Etwas schade ist auch, dass die Studie kaum auf die jeweiligen Kriterien literarischer Wertung eingeht, auch nicht auf den Wandel dieser Kriterien. Der Fokus der Arbeit liegt auf der Inhaltsanalyse, der Darstellung programmatischer Absichten von literaturkritisch tätigen Autoren und der Offenlegung rhetorischer Grundmuster, die für die kritische Äußerung aktualisiert und modifiziert werden. Solche Weichenstellungen sind freilich bei jeder Arbeit nötig, schon gar, wenn sie auf eine Fülle von Textmaterial zurückgreifen.

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In der Summe ist kaum zu bezweifeln, dass die Studie Heudeckers ihren Weg machen und dass sie in Zukunft zu konsultieren sein wird, wann immer es um die Kinderstube der deutschsprachigen Literaturkritik geht.

 
 

Anmerkungen

Vgl. v.a. Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Über Literaturkritik. (text + kritik 100) München: text + kritik 1988; Wilfried Barner (Hg.): Literaturkritik – Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposion 1989. (Germanistische Symposien-Berichtsbände 12) Stuttgart: Metzler 1990; Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.): Literaturkritik. Theorie und Praxis. (Schriftenreihe Literatur des Instituts für Österreichkunde 7) Innsbruck, Wien: Studienverlag 1999; Wolfgang Albrecht: Literaturkritik. (Sammlung Metzler 338) Stuttgart, Weimar: Metzler 2001; Norbert Miller / Dieter Stolz (Hg.): Positionen der Literaturkritik. Köln: SH-Verlag 2002 (Sonderheft der Zeitschrift »Sprache im technischen Zeitalter«); Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung. (UTB 2482) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004; Thomas Anz / Rainer Baasner (Hg.): Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis. (Beck’sche Reihe 1588) München: C.H. Beck 2004.   zurück
Vgl. Peter Uwe Hohendahl (Hg.): Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730–1980). Mit Beiträgen von Klaus L. Berghahn u.a. Stuttgart: Metzler 1985. Für einen historischen Abriss vgl. auch Thomas Anz / Rainer Baasner (Anm. 1). Einen bemerkenswerten Versuch der historischen ›Grundlagenforschung‹ stellt das »Projekt Literaturkritik in Deutschland« an der Universität Marburg dar, vgl. hierzu die Webseite des Projekts: URL: http://cgi-host.uni-marburg.de/~omanz/portal.php (Datum des Zugriffs: 18.11.2006). Für nicht registrierte Benutzer ist das Angebot jedoch eingeschränkt. Die bisherigen Ergebnisse konzentrieren sich vor allem auf das 20. Jahrhundert.   zurück
Peter Uwe Hohendahl: Literaturkritik und Öffentlichkeit. München: Piper 1974, S. 7.   zurück
Ebd., S. 10.   zurück
Vgl. das Kapitel »Kritik der Kritik« in: Stefan Neuhaus (Anm. 1), S. 83–105.   zurück