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Portrait eines skeptischen Reformers

Rüdiger Singers Lektüren des jungen Herder

  • Rüdiger Singer: Nachgesang. Ein Konzept Herders, entwickelt an 'Ossian', der 'popular ballad' und der frühen Kunstballade. (Epistemata Literaturwissenschaft 548) Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. 384 S. Kartoniert. EUR (D) 49,80.
    ISBN: 3-8260-3115-6.
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Ausgangspunkt und Gliederung

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Von einer Fußnote geht diese Untersuchung aus: In der Vorrede zum zweiten Band der Volkslieder (1779) bezeichnet Herder in einer Anmerkung Bodmers Homer-Übersetzung als »Nachgesang«. Singer geht der Aussagekraft dieser semantischen Verschiebung nach und legt auf dieser Spur eine Arbeit vor, welche im Werk des jungen Herder die Schriften untersucht, die – auf der Suche nach einer Reform der deutschen Literatursprache – nach der gesangsähnlichen Qualität literarischer Texte fragen und in diesem Zusammenhang Aspekte wie Mündlichkeit, Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit thematisieren. Nach einem längeren Einleitungskapitel, das »Überblick und Vorüberlegungen« gewidmet ist (S. 14–77), wird der titelgebende Begriff im ersten Teil der Arbeit zum Leitfaden einer Untersuchung von Texten, die sich unter anderem auf Pindar, Ossian und auf Volkslieder beziehen. Nachdem hier das gesamte analytische Vermögen des Begriffs mit allen seinen Konnotationen ausgeschöpft wurde, bildet dieser im zweiten Teil den Ausgangspunkt von Interpretationen, die Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland sowie Bürgers Ballade Lenore betreffen. Der in der Forschung zum jungen Herder bisher nicht beachtete Begriff des »Nachgesangs« ist so einerseits selbst Gegenstand einer umfassenden Untersuchung (»Das Konzept ›Nachgesang‹«, S. 78–286) und andererseits Leitkategorie von Textanalysen (»Nachgesänge in Interpretationen«, S. 287–365).

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Begriffsprobleme

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In einer – etwas unglücklichen – Disposition schickt die Arbeit der Vorstellung ihres Leitbegriffs eine Fülle von Informationen voraus, die jeweils schon andeutend mit ihm arbeiten, ihn aber nicht vollständig greifen können, da seine Klärung immer wieder hinausgeschoben wird. Unter dem Titel »Vorüberlegungen« erwartet der Leser an sich Informationen, die dem Verständnis des mit »Nachgesang« Bezeichneten notwendig vorausgehen und auf den kontrollierten Gebrauch des eher ungewöhnlichen Begriffs hinführen. Tatsächlich beginnt Singer aber zunächst damit, Begriffe wie »Nachahmung« (S. 19 ff.) und »Parodie« (S. 28 ff.) vorzustellen. Er versteht sie als »›Nebenbestimmungen‹ [...], die der Begriff als Ganzes aufruft« (S. 18). Da aber dieser Terminus selbst noch nicht vorgestellt ist, sieht sich der Leser etwas ratlos mit langen Ausführungen zu konkurrierenden Begriffen konfrontiert, deren Gewinn für die Untersuchung und deren Status im Untersuchungsdesign er nicht einsehen kann, da das jeweilige Konkurrenzverhältnis nicht diskutiert wird. So erfährt er, was – von Aristoteles bis Batteux und Young – unter »Nachahmung« verstanden werden konnte, und muss sich mit der Ankündigung zufrieden geben, dass solche Informationen »als Hintergrund für Herders Konzept ›Nachgesang‹ wichtig werden« (S. 19). Aber weder hier noch später wird das Verhältnis des Ausgangsbegriffs zu diesem Hintergrund ausdrücklich geklärt; dies gilt leider auch für »Parodie«, obgleich gerade dieser Begriff, wie Singer andeutet, ganz besonders in der Nähe von »Nachgesang« steht.

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Zu den Vorüberlegungen zählen auch Informationen zu Herders Umgang mit Begriffen und zu den Stileigentümlichkeiten seiner theoretischen Prosa (S. 32 ff.). Darüber hinaus wird – stets mit Blick auf Schleiermachers Positionen – Herders Stellung in der Geschichte der literarischen Übersetzung sorgfältig bestimmt. Leider aber nähert sich Singer auf diese Weise nicht einer Explikation von »Nachgesang«; die »Vorüberlegungen« bleiben verselbstständigte Informationspartikel, die sich der Leser selbst mit dem (ausstehenden) Hauptbegriff vermitteln muss – ein ärgerlicher Lektüre-Modus. Es genügt nicht, »mögliche Konnotationen beziehungsweise ›Nebenbegriffe‹ von ›Nachgesang‹ ins Bewusstsein zu rufen« (S. 31); der Leser wünscht sich ausdrückliche Klärung und verstünde zum Beispiel gerne, was »Nachgesang« denn von »Übersetzung« unterscheidet.

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Geradezu exkursartig gerät in diesen Vorüberlegungen das letzte, lange Kapitel »Zur Ballade anhand von Goethes Ballade« (S. 49 ff.). Während bei Begriffen wie Nachahmung, Parodie und Übersetzung die Nähe zum Leitbegriff spontan einsichtig ist, liegt hier ein historisch applizierter Gattungsbegriff vor, dessen Einführung in das Untersuchungsdesign besonders zu rechtfertigen wäre. Die umfangreichen Ausführungen zur Theorie der Ballade und zu Goethes Text bleiben aber ebenfalls mit dem Hauptbegriff unvermittelt; der Leser wird damit vertröstet, dass sie notwendig sind, »weil Balladen in dieser Arbeit sowohl als ›Gesänge‹ wie auch als ›Nachgesänge‹ eine wichtige Rolle spielen werden« (S. 49). Unbeschadet dieses für die Arbeit in der Tat wichtigen Aspektes wüsste man aber bereits schon hier gerne, was »Gesang« von »Nachgesang« unterscheidet und welchen Status Balladen in dieser Differenz haben können – schließlich werden diese Begriffe ja bereits gebraucht. Ohne diese Leitung gerät der Leser mit Singer in ein völlig verselbstständigtes close reading von Goethes Ballade.

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Das Untersuchungsdesign fehlt

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Schließlich kommt, den ersten Hauptteil der Arbeit eröffnend, das Kapitel, das Klärung bringen muss (»Implikationen eines Begriffs«, S. 78 ff.). Singer präsentiert das Schlüsselzitat seiner Arbeit:

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Darf ich hier, wenn auch an unrechtem Orte, ein ziemlich verkanntes Geschenk unsrer Sprache, einen Nachgesang Homers, wenn nicht von seinem Freunde und Mitsänger, so doch gewiß von seinem ehrlichen Diener, der ihm lange die Harfe getragen, rühmen: es ist die Übersetzung Homers von Bodmer. Freilich leidet sie, wie keine Übersetzung auf der Welt, Vergleichung mit dem Urgesange; wenn man indessen diesen vergißt, und sie nicht mit dem Auge liest, sondern mit dem Ohr höret, hie und da die Fehler menschlich verzeihet, die sich bisweilen auch dem Ohr nicht verbergen, und ihm sagen: »so sang wohl Homer nicht!« – Dies abgerechnet, wie man bei jedem menschlichen Werk, und bei Homers Übersetzung gewiß, etwas abrechnen muß, wird man, dünkt mich, auf jeder Seite den Mann gewahr, der mit seinem Altvater viele Jahre unter einem Dache gewohnt und ihm redlich gedient hat. Die Odyssee insonderheit war ihm, so wie uns allen näher, und viele Gesänge durch gar hold und vertraulich. [...] (S. 78).
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Bedauerlich ist, dass der Leser nicht erfährt, wo und wie häufig das Wort »Nachgesang« sonst noch in den Schriften des jungen Herder vorkommt. Das ist ein wenig ärgerlich, denn immerhin ist das Buch, wie der Verfasser bekennt, »aus einem Wort gemacht« (S. 17). Der Leser muss sich mit der Angabe zufrieden geben, dass es »zwar gelegentlich, aber keineswegs konsequent, geschweige denn systematisch« (S. 17) erscheint. Wer sich selbst bemüht, findet im Grimm’schen Wörterbuch eine Stelle bei August Wilhelm Schlegel belegt; zu Herder gibt es dort keinen Nachweis.

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Von jener Stelle in Herders »Vorrede« zu seiner Volksliedersammlung ausgehend, sondert Singer drei Implikationen seines Leitbegriffs. Die schriftliche Fixierung eines mündlichen Urgesangs soll als »festsetzender Nachgesang« gelten; dieser wiederum kann Voraussetzung für »übersetzenden Nachgesang« werden. Eine dritte Möglichkeit von Nachgesang ergibt sich, wenn nach dem Modell eines Gesanges in freier Schöpfung ein neuer Nachgesang versucht wird. Letzteres soll als »fortsetzender Nachgesang« gelten. Der mündliche tradierte Homer ist in diesem Begriffsrahmen ein Urgesang, seine schriftliche Fixierung durch die alexandrinischen Philologen ein festsetzender Nachgesang; »ein Text nämlich [...] der ›nach‹ dem Vorbild eines Gesanges gestaltet ist, aber aus einer Epoche von ›Literatur‹ stammt, die ›nach‹ einer Epoche des Gesanges liegt« (S. 80). Bodmers Übertragung gilt dann als ein übersetzender Nachgesang und Vergils Epos als ein fortsetzender.

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Singer, so muss man ihn wohl verstehen, geht es um Herders Reflexionen zu den Stufen einer produktiven Metamorphose ursprünglichen Gesangs, und zwar »unter den Bedingungen einer Schriftkultur« (S. 14), und darüber hinaus um Herders Skepsis, unter solchen Bedingungen etwas von den ursprünglichen Qualitäten mündlichen Gesangs bewahren zu können (Abstract, S. 14 ff.). Hier wäre nun den Ort gewesen, den Schlüsselbegriff und seine Ausdifferenzierung mit den in den Vorüberlegungen eingeführten Kategorien zu vermitteln, um zu einem festen Untersuchungsdesign zu kommen. Leider geschieht das nicht. Singer präsentiert stattdessen im anschließenden Kapitel mit »Ton« einen wiederum neuen Begriff, bei dessen Einführung und Explikation, unmittelbar vor Beginn der Analysen zu den Schriften des jungen Herder, unklar bleibt, ob vielleicht er der eigentlich leitende Begriff der Untersuchung sein wird.

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Dieser Mangel an Orientierung wird durch das Ausbleiben eines Forschungsberichts verstärkt. Wenigstens die für sein Vorhaben unmittelbar einschlägige und durchaus ergiebige Untersuchung von Heizmann über »Ursprünglichkeit und Reflexion« 1 beim jungen Herder hätte Singer vorstellen müssen, um den mit »Nachgesang« möglichen Zugewinn zu deklarieren. Ganz unverständlich bleibt, dass in diesem Zusammenhang nicht auf die ebenfalls einschlägige Arbeit von Simon, 2 die zugleich der gewichtigste Beitrag der jüngsten Herder-Forschung ist, verwiesen wird und sie sogar im Literaturverzeichnis fehlt. Insgesamt steht so der Leser, bevor er mit Singer in die Untersuchung der Texte eintritt, etwas ratlos vor einer ungeordneten Fülle von Begriffsangeboten. Auch die Titel aller folgenden Kapitel geben ihm keine Hinweise, die ein kontinuierliches Verfolgen des vorgestellten triadischen Systems von »Nachgesang« ermöglichten.

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Analysen und Hoffnungen
des jungen Herder

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Das erste Kapitel »über die (Un) Möglichkeit von ›Nachgesang‹« ist der Skepsis gewidmet, die Herder gegenüber allen Versuchen hegte, ohne eine Reflexion auf den gegenwärtigen Stand von Sprache und Zivilisation zu einer Nachahmung ursprünglicher Gesänge zu gelangen. Singer widmet sich aus den Fragmenten den Passagen zu Blackwell und Lowth und klärt an Herders Stellungnahmen zu den damals berühmtesten und wichtigsten Schriften über ursprüngliche Poesie die fundamentalen Zweifel seines geschichtsbewussten Autors gegenüber allen naiven Versuchen einer Repoetisierung der Sprache. Dabei ist Herders Position, wie er zeigt, keineswegs eindeutig; er schwankte zwischen einem »Dekadenz-Modell« (S. 98) und der Hoffnung, »historisch-kulturelle Differenzen könnten mitunter eben doch überwunden werden« (S. 105). Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Blick auf Herders Sprachursprungsschrift, die Singer entlang des heimlichen Leitbegriffs aller seiner Analysen (»Ton«) als »Vision des Sprachanthropologen Herder« (S. 110) liest, um am Modell der Kindheitssprache Ansatzpunkte für eine Repoetisierung der Sprache zu gewinnen (vgl. auch S. 317).

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Das zweite Kapitel gilt den »Paradigmen des Gesanges« (S. 122–286). Es ist das wichtigste der Arbeit. Singer nimmt sich hier alle Texte vor, die für die Frage nach Herders Interesse an ursprünglicher Dichtung und deren Nachschöpfungen in Frage kommen. Dazu gehören unter anderem die Fragmente zur Ode (1763/65), die Besprechung von Willamovs Dithyramben aus den Fragmenten (1767), die Ossian-Abhandlung von 1773 und die Vorreden zur unveröffentlichten und zur veröffentlichten Volksliedersammlung (1773/79). Eine derart vollständige Analyse dieser Zeugnisse zu Herders Ursprungsdenken hat es bisher nicht gegeben. Singer vermeidet in diesem Zusammenhang das systematische Befragen und geht bei jedem Text von den individuellen Intentionen ihres Autors und den besonderen theorie- und literaturgeschichtlichen Problemen aus, die mit ihm gegeben sind. Dabei gerät zwar die Leitfrage und ihre triadische Ordnung (Festsetzung, Übersetzung, Fortsetzung) aus dem Blick, aber entlang damit assoziativ verbundener Aspekte wie »Ton« und »Unmittelbarkeit« wird der Leser sehr genau mit Herders eindringlicher Befragung der Sprache der Gesangs-Paradigmen und ihrer Aktualisierungschancen vertraut gemacht.

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Herder war auf der »Suche nach Modellen von Gesang als unmittelbarer Ausdruck einer starken Empfindung« (S. 175) und sah – bei aller Skepsis, den der Reflexionsabstand der Modernen gebot – in ihnen Anregungen zu Nachschöpfungen (S. 224 f.). »Unter der Leitvorstellung von Ursprünglichkeit und Naivität« wären Nachgesänge »höchst bewusst neu zu schaffen« (S. 272). Von Nostalgie und einfachen Reproduktionsvorstellungen ist Herder, und diese Einsicht ist ein wesentlicher Gewinn von Singers Arbeit, weit entfernt. Bevor die Literaturgeschichtsschreibung der Schlegel-Brüder, ausgehend von einem bei Herder noch nicht gegebenen, explizierten Moderne-Begriff die so genannte Naturpoesie distanziert und de facto ausgrenzt, hat es den hoch reflektierten Versuch gegeben, sie zu begreifen und einige ihrer Merkmale für eine Erneuerung der Literatursprache vorzuschlagen.

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Herder hat »wie wenige vor ihm die Differenz zu vergangenen Epochen ins Bewusstsein« gerufen, und er hat zugleich versucht, »diesem Dilemma zu entkommen« (S. 281). Singers diesem Dilemma gegenüber höchst sensible Ausführungen zu den einzelnen, immer wieder neu einsetzenden Versuchen seines Autors zeigen, dass solche Hoffnungen nicht etwa geschichtsphilosophisch motiviert waren, sondern auf Herders rhetorisch und grammatisch geschulter Analyse potentiell übertragbarer Stilmerkmale beruhten, die um eine Vorstellung von »Ton« und ein Denken möglicher Suggestion von Mündlichkeit versammelt sind. Von diesem »Ton« hatte Herder zwar, anders als Singer meint, weder einen Begriff noch gar eine »Theorie« (S. 109, 120), aber der Triftigkeit des Begriffsgebrauchs tut das keinen Abbruch. Der Assoziationsreichtum des Worts, dem Singer in einem close reading durch alle Texte folgt, machte es Herder möglich, in den Paradigmen des Gesangs von Pindar und Ossian und in den Volksliedern Merkmale authentisch-unmittelbarer Rede aufzuspüren, die er den Dichtern seiner Zeit nicht etwa als archaisierendes Kostüm vorschlug, sondern als eine Ressource der Spracherneuerung und als eine (wie der Verriss von Willamovs Dithyramben besonders deutlich zeigt) Befreiung von historisierender Nachahmung.

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Applikationen

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Im letzten Teil der Arbeit geht es – in der Terminologie Singers – um »fortsetzende« Nachgesänge, um freie Schöpfungen im Anschluss an bestehende, »festgesetzte«. Zugleich soll dieser Teil eine Anwendung der im vorhergehenden Kapitel gewonnenen Einsichten zu den Stilmerkmalen und Vertextungsmustern von Gesängen sein. Dazu sollen zählen: »Kontextualisierung, Inszenierung von Mündlichkeit, Visionen von ›Wildheit‹, Angebote zur Einfühlung, ›Sprünge‹ und ›Würfe‹, Dialektik von ›Ton‹ und ›Szenik‹« (S. 284).

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Im ersten Teil zeigt Singer, wie Herder die Ossian-Übersetzung von Denis (1768/69) für den Briefwechsel mit Caroline Flachsland bearbeitet. Dabei wird deutlich, dass Herder seiner Briefpartnerin gegenüber sich auf eine an Ossian geschulte Weise »›in Szene setzt‹« (S. 287), um Verständnis für seinen schwierigen Lebensweg zu gewinnen, und dass er schließlich auch von ihm bearbeitete Stücke aus Ossian für »Identifikations-Angebote« (S. 295) nutzt. Ein Exkurs zu James Macpherson als »Nachsinger« (S. 307 ff.) schließt sich an. Hier wird im Anschluss an die englische Ossian-Forschung herausgearbeitet, dass Macphersons Werk nicht einfach als Fälschung zu bezeichnen, sondern angemessener als eine Mischung aus Übersetzung und Nachschöpfung zu verstehen ist.

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Das zweite Kapitel des Schlussteils beschäftigt sich mit Bürgers Ballade Lenore, die als fortsetzender Nachgesang interpretiert werden soll. Hier, wie auch im vorhergehenden Kapitel schon, wäre der Ort gewesen, die Merkmale von Nachgesang, die Singer angeführt hatte (S. 284), als System zu begreifen und Stück für Stück in ihrer Ergiebigkeit für Interpretationen zu überprüfen, um am Ende der Arbeit deren Ertrag zu demonstrieren und für künftige Analysen aufzubereiten. Tatsächlich kommen aber allein neue Gesichtspunkte wie der Gebrauch von Interjektionen und der Einsatz von Lautmalerei ins Spiel, die Singer überzeugend am Text herausarbeitet, aber nicht mit der ganzen um »Nachgesang« versammelten Begriffsfülle vermittelt. Stattdessen gibt es am Ende Exkurse zur Entstehung und Rezeption der Lenore.

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Fazit

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Singer hat sich in einem close reading alle wesentlichen Schriften vorgenommen, in denen der junge Herder ursprüngliche Dichtung nach gesangsähnlichen Merkmalen und solchen unmittelbarer und authentischer Rede befragt. Dieses Befragen bildet kein Konzept, wird aber von Singer als eine gerichtete Aufmerksamkeit Herders an den einzelnen Texten unter wechselnden Begriffen überall klar und anschaulich herausgearbeitet. In diesem Zusammenhang hat Singer auch geklärt, wie engagiert der seit den Fragmenten um eine Erneuerung der deutschen Literatur bemühte Herder diese Analysen der älteren Literatur betrieb und wie skeptisch er zugleich allen Versuchen gegenüberstand, Übertragungen ohne eine Reflexion ihrer historischen Bedingungen vorzunehmen. Wer im Anschluss an die Arbeiten von Heizmann und Simon diese Ergebnisse zur Kenntnis nimmt, wird manche der in den vorhergehenden Studien gebliebenen Lücken schließen können.

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Kritisch bleibt anzumerken, dass Singers Umgang mit Begriffen sorglos ist. Die übergroße Fülle der eingeführten Begriffe wird nicht geordnet. Der Leser wird nicht entlang miteinander vermittelter Begriffe geführt, sondern muss sich – auf der Suche nach dem versprochenen »Konzept« – immer selbst einen roten Faden bilden. Erschwerend und nicht wenig irritierend kommt hinzu, dass so gut wie keiner der Begriffe ohne Anführungszeichen gebraucht wird. Dem Leser wird durchgehend nicht klar, ob Herder der Begriffsgeber ist oder Singer. Der Unsitte, Objektsprache und Untersuchungssprache zu vermischen, ist diese Arbeit bei ihrer Begriffsbildung fast ohne Ausnahme gefolgt. Herder, und Singer weiß es sehr wohl, hatte eine höchst eigensinnige Untersuchungssprache (vgl. S. 32 ff.: »schöne Prosa«); er ist kein guter Ratgeber für das Bilden von Begriffen und für die Organisation von Konzepten, die wissenschaftliche Untersuchungen anleiten können.

 
 

Anmerkungen

Bertold Heizmann: Ursprünglichkeit und Reflexion. Die poetische Ästhetik des jungen Herder im Zusammenhang der Geschichtsphilosophie und Anthropologie des 18. Jahrhunderts (Europäische Hochschulschriften. Reihe I, Bd. 373). Frankfurt/M. 1981.   zurück
Ralf Simon: Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 23). Hamburg 1998; vgl. bes. S. 161 ff. (Ton), 198 ff. (Ton), 310 ff. (Volkslied, Ton) 328 ff. (Klopstock, Ode), 335 ff. (Volkslied).   zurück