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Neue Kriminalitätsgeschichte -
Zum Stand der Dinge

  • Amy Gilman Srebnick / René Lévy (Hg.): Crime and Culture. An Historical Perspective. (Advances in Criminology) London, Burlington/VT: Ashgate 2005. XVII, 225 S. 7 s/w Abb. Hardback. USD 99,95.
    ISBN: 0-7546-2383-1.
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Die hohe kulturelle Bedeutung von Kriminalität leuchtet unmittelbar ein. Geschichten von Mord, Totschlag, Missbrauch und sexueller Gewalt sind medial sehr präsent. Das ist nicht neu, sondern für moderne, ›medialisierte‹ Gesellschaften beinahe selbstverständlich. Dagegen haben Kriminalität und Verbrechen in der Geschichtswissenschaft erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten größere Aufmerksamkeit erlangt. Der Sammelband Crime and Culture gibt einen Überblick zum Stand der historischen Forschung zur Kriminalität. In vier Abschnitten werden folgende Themenblöcke abgehandelt:

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• Kriminalität und die Konstruktion historischer Narrative,

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• Diskurs und Narrativ in der Geschichte der Kriminologie,

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• Rekonstruktion von Ereignissen in Polizei- und Justizgeschichte,

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• Repräsentation von Verbrechen und Kriminellen.

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Mit Clive Emsley, Peter Becker, Herbert Reinke, Xavier Rousseau, René Lévy, Jean-Marc Berlière und anderen versammelt der Band Autoren, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten das Feld historischer Kriminalitätsforschung der Neuesten Zeit und Zeitgeschichte mitbestimmt haben.

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Die Herausgeber erkennen einleitend in der Geschichte der Kriminalität einen bedeutsamen Zweig in der historiographischen Forschung, gerade weil das Thema Kriminalität in der modernen ›westlichen‹ Kultur einen hohen Stellenwert besitze. Srebnick und Lévy gehen davon aus, dass die Forschung zudem eine stärkere internationale Perspektive einnehme und Interdisziplinarität betone – Tendenzen, die sich zwar zeigen, aber vielleicht etwas zu stark betont werden. Jedenfalls nimmt keiner der folgenden Beiträge eine explizit international vergleichende oder transnationale Perspektive ein. Als wichtiges Kennzeichen der historischen Kriminalitätsforschung wird ferner die Vielfalt von theoretischen Ausgangspunkten betont (S. xiv) und gleichzeitig hervorgehoben, dass Sozialgeschichte gerade im Falle der Kriminalitätsgeschichte mit kulturellen Studien gut harmonieren könne. Die Historische Kriminalitätsforschung der Frühen Neuzeit hat dies bereits gut zeigen können. Insofern knüpft der vorliegende Band an diese Forschungstendenzen für die Neueste Zeit und Zeitgeschichte an.

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Neuer Blick auf alte Fälle

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Der Ertrag kulturwissenschaftlicher Zugänge wird im Beitrag von Amy Gilman Srebnick auf drei Elemente zurückgeführt: Erstens auf die veränderte Art und Weise der Interpretation von Texten, zweitens auf die Erforschung der sozialen, historischen und kulturellen Bedeutung der Repräsentation von Kriminalität und Verbrechen, und drittens auf die Konstruktion der spezifischen historischen Narrative (S. 11). Es ginge vor allem darum, die Multiperspektivität der Quellen zu sehen, denn in den Texten träfen sich mehrere ›Stimmen‹, die es herauszupräparieren gelte. Hierbei sieht Srebnick vor allem in Kapitalverbrechen die ultimative Herausforderung an die bestehende Ordnung; in Berichten über sie würden die linearen Narrative in Literatur wie Geschichtsschreibung durchbrochen (S. 18 f.). Sie führt dies auf die starke emotionale Komponente bei allen Beteiligten (S. 8) zurück, die folglich auch die Texte, gleichviel ob polizeilicher, juristischer, medialer oder autobiographischer Herkunft, mitbestimmt habe. Der Beitrag verdeutlicht, dass die Kriminalitätsforschung der intensiven Debatte um Narration, Fiktion, Subjektivität und Objektivität historischer Quellen in Geschichts- und Literaturwissenschaft viel verdankt.

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Er erklärt im Übrigen auch, dass sich das Interesse der Forschung vor allem auf Kapitalverbrechen (Mord, Vergewaltigung, sexueller Missbrauch) konzentriert. Über andere Formen von Kriminalität wurde – und wird – weniger geschrieben, diskutiert und reflektiert, was genau mit den von Srebnick formulierten Überlegungen zur Bedeutsamkeit kapitaler Verbrechen zusammenhängt, aber eben auch mit der Überlieferungslage.

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Kriminologie

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Die folgenden Aufsätze im Abschnitt über Kriminologie zeigen, dass der Blick auf das gesamte Feld ›Kriminalität‹ wichtig ist. Nur durch die Sicht auf das gesamte Feld erschließen sich nämlich dessen zentrale definitorische Funktionen für die Beurteilung möglicher Ursachen von Verbrechen einerseits und die damit verbundenen Ansätze für Strategien zu seiner Bekämpfung andererseits. Peter Becker fasst seine an anderer Stelle bereits ausführlich dargestellte Forschung zur Entwicklung der Kriminologie im deutschen Sprachraum zusammen. Der analytische Zugang zum Verbrechen habe sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts verschoben: von der Auffassung des Verbrechers als eines »gefallenen Menschen« hin zu biologisch-psychiatrischen Erklärungsmodellen. Hierbei gelingt es Becker, die Verbindungen zwischen dem weiteren gesellschaftlichen Kontext und spezifisch wissenschaftlichen Diskursen deutlich hervorzuheben. Mary Gibson legt eine Neubewertung der italienischen Kriminologie und ihres Nestors Cesare Lombroso (1836–1909) vor: Gerade die im wissenschaftlichen Diskurs oft fragwürdige Praxis Lombrosos habe die maximale Zirkulation der Thesen ermöglicht. Das Spannungsverhältnis zwischen den Erzählformen ›Wissenschaft‹ und ›Fiktion‹ sei hierfür verantwortlich gewesen. Als Erzählung können Lombrosos Texte als erfolgreich gelten; was in jedem Fall zur Sichtbarkeit der italienischen Kriminologie beigetragen habe. Herbert Reinkes Ausführungen zu Robert Heindls analytischer Figur des ›Berufsverbrechers‹ schließt diesen Abschnitt des Bandes ab. Reinke zeigt auf, wie dieses höchst konstruierte und mit logischen Brüchen versehene Modell dennoch die Kriminalpolitik von Weimarer Republik, Nationalsozialismus und früher Bundesrepublik mitbestimmt hat. Ein wichtiger Grund dafür lag in der vielfältigen institutionellen Verzahnung Heindls mit der Kriminalpolizei und der Kriminologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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Polizei

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Die Polizei als Institution in weiter sozialer und kultureller Hinsicht steht im folgenden Abschnitt im Fokus der Forschung. Allen Steinberg betrachtet einen New Yorker Fall aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, der mit einem Todesurteil gegen einen Polizeioffizier endete. Steinberg ist vor allem das Spiel von Polizei und Staat mit den Medien wichtig, das er als ein politisch motiviertes ansieht. Ohne die zeitspezifische Konstellation, in der verbreitete Annahmen über Korruption von Polizei, Justiz und Regierung hohe Plausibilität beim lesenden Publikum besaßen, wäre dieser Fall sicherlich anders verlaufen. Nach Steinberg werde so deutlich, welchen zentralen Stellenwert ›große Kriminalfälle‹ in der amerikanischen Kultur besäßen und wie sehr sie sich auch eigneten, im Nachhinein (d.h. in historischen Narrativen) Vorstellungen einer Epoche zu repräsentieren.

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Ähnlich gelagert ist der von Clive Emsley dargestellte Fall eines suspendierten Sergeants der Londoner Metropolitan Police in den 1920er Jahren. Emsley verweist auf die offiziellen und offiziösen Polizeihistoriker, die Probleme der Polizei stets auf ›Einzelfälle‹ reduziert haben, statt das strukturelle Problem von schlechter Bezahlung, schwierigem Dienst, mangelnden Aufstiegsmöglichkeiten, Korruptionsanfälligkeit und krimineller Verstrickungen zu sehen. Auch Jean-Marc Berlière widmet sich in seiner Untersuchung dem Umgang der Polizei mit der eigenen Vergangenheit. In einer sorgfältigen quellenkritischen Analyse der Arbeit der ›Säuberungskommissionen‹ nach 1944 zeigt Berlière, dass beispielsweise die zu Anklagen herangezogenen Berichte über Verhaftungen aus der Zeit des Vichy-Regimes problematisch sind, gerade weil sie formelhaft gestaltet sind und oftmals der Zueignung von Gratifikationen oder möglichen Beförderungen gedient haben; sie können kaum als zuverlässige Berichte über die Umstände von Verhaftungen angesehen werden. René Lévy, mit dem der Abschnitt schließt, entwickelt anhand eines Falles illegaler Praktiken der Polizei bei Ermittlungen im Drogenmilieu Frankreichs in den frühen 1990er Jahren eine Theorie, wie der Gesetzgeber stets dazu neigt, polizeiliche Praktiken – trotz widerstreitender Meinungen in den beteiligten Ministerien – ex post zu legalisieren und so den Handlungsspielraum der Polizei auszudehnen. Lévys Modell lässt ähnliche Prozesse für die Zukunft erwarten, wie auch für die Vergangenheit vermuten.

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Repräsentation von Kriminalität

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Der letzte Abschnitt stellt Fragen zur medialen bzw. literarischen Repräsentation von Verbrechen und Verbrechern. Pascal Bastien untersucht diskursanalytisch die justizielle Praxis im Paris des 18. Jahrhunderts, Strafurteile in Flugschriften zu publizieren. Grundfunktion der Veröffentlichungen sei es gewesen, die Funktionsfähigkeit der Justiz nachzuweisen und auf diese Weise Kritik am Rechtssystem abzufangen. Darüber hinaus gehend vermutet Bastien, dass gerade durch die immer stärker präsenten Printmedien, die Bekanntgabe, Verurteilung und Exekution von Straftätern eine große Öffentlichkeit erreichte, während hingegen die Praxis der öffentlichen Vollstreckung gleichzeitig abnahm.

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Xavier Rousseaux präsentiert eine Untersuchung der rechtlichen Aufarbeitung der Unruhen 1798 in den südniederländischen Provinzen während der französischen Besetzung. Rousseaux hat die Gerichtsverfahren statistisch ausgewertet und kommt dabei einer französischen Strategie auf die Spur, die Aufständischen als Banditen zu verunglimpfen, wenngleich die Anklagen der Gerichte nicht darauf lauteten. Unabhängig davon konnten sich die Ereignisse von 1798 aber auch einen Platz in der belgischen Nationalmythologie erobern. Überhaupt haben Räuber in zahlreichen Ländern einen festen Platz in der kollektiven Erinnerung. Ein Phänomen, das Eric Hobsbawm zu Studien inspiriert hat, die schließlich in der These von den »Social bandits« mündete. Mónika Mátay und György Csepeli untersuchen dieses Phänomen für Ungarn. Am Beispiel der Erzählung über den Räuber Jóska Sobri (aktiv in den 1830er Jahren) zeigen sie deren Grundmuster und identifizieren die Delegitimierung politischer Macht als die Hauptstoßrichtung solcher Narrative. In einer interessanten Parallele stellen die Autoren einen Fall der 1990er Jahre um einen Gentleman-Bankräuber, der sich für Kritik der ungarischen Bevölkerung an Polizei und kapitalistischem Banksystem gut eignete – solange er möglichst gewaltlos vorging.

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Den Abschluss des Abschnitts und des Bandes bildet eine Studie von Wilbur Miller über die so genannten »dime novels« in den USA zwischen 1880 und 1920. Detektivgeschichten bildeten das Thema der dime novels schlechthin. In den sehr erfolgreichen Erzählungen kämpfen zumeist Einzelgänger gegen das urbane Verbrechen. An den Inhalten lasse sich gut die sich wandelnde Vorstellung vom Verbrechen nachzeichnen, die nach 1900 mehr und mehr von urbanen, professionellen und hochorganisierten Kriminellen ausgegangen sei. Zu erkennen sei auch ein Wechselspiel zwischen Presse und den Detektivgeschichten, die sich von Medienberichten inspirieren ließen. Interessanterweise veränderte sich das Bild des Detektivs dagegen kaum. Insgesamt, so Millers Fazit, spiegelten sich in den dime novels die sich verändernden Ängste und Werte der amerikanischen Gesellschaft wider.

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Offene Fragen

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Der erfrischend knappe Band mit 210 Textseiten führt in die internationale Forschung zur Kriminalität in der Moderne ein. Wichtige Themen werden skizziert und in allgemeine kulturhistorische Ansätze eingebettet. Man mag vielleicht Inhalte wie Strafvollzug, Jugenddelinquenz, Strafverfolgung oder Forensik vermissen, die in der historischen Kriminalitätsforschung wichtig sind, doch versteht sich der Band nicht als Bestandsaufnahme, sondern als Reflexion neuer Forschungsperspektiven (S. xiii). In diesem Zusammenhang lohnt der Hinweis auf drei Beobachtungen, die im Rahmen einer historischen Perspektive auf Kriminalität und Kultur erwähnenswert sind:

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Erstens belegt der Band eine gewisse Dominanz der ›großen‹ oder Kapitalverbrechen bei den Fallstudien. Ob aber wirklich Kapitalverbrechen als die Katalysatoren des gesellschaftlichen Diskurses über Kriminalität schlechthin gelten können, bedarf noch eingehender Debatten, die durch den Band vielleicht mit angestoßen werden. Denn müssen nicht gerade kriminelle Massenphänomene von einer historischen Kriminalitätsforschung ernster genommen werden, auch wenn die Quellen vielleicht weniger reichhaltig sprudeln und spröder zu lesen sind? Immerhin waren es gerade die eher unspektakulären Quellenbestände, die der Historischen Kriminalitätsforschung der Frühen Neuzeit wichtige Impulse gegeben haben.

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Zweitens, wenn man die Aussage der Herausgeber ernst nimmt und namentlich nach der internationalen Perspektive sucht, so ist diese zwar in der Zusammenstellung der Beiträge, nicht jedoch unbedingt bei der Vorgehensweise innerhalb der Studien nachzuweisen. Die Aufsätze verharren fast durchweg in einem nationalen oder gar spezifischen urbanen Zusammenhang. Die Internationalität oder Transnationalität von Diskursen über das Verbrechen und seine Bekämpfung steht bei keinem Aufsatz im Vordergrund, sieht man einmal von Peter Beckers Überlegungen ab.

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Was drittens die Interdisziplinarität betrifft, so zeigt sich, dass die Historiographie der Kriminalität teils stark von literaturwissenschaftlichen Ansätzen im weiteren Sinne profitiert, indem sie eine neue Perspektive auf die Quellen ermöglicht, die den Erzählstrukturen breiten Raum gewährt und/oder diskursanalytischen Vorgehensweisen den Weg weisen. Und so ist der Umgang mit den Quellen in vielerlei Hinsicht vom Ansatz des close reading bestimmt; was gewissermaßen den einleitend hervorgehobenen Methodenpluralismus (S. xiv) wieder etwas zurücknimmt. Und da close reading einer dichten Textüberlieferungen bedarf, könnte das gerade Tendenzen verstärken, die ›kleineren‹ Formen kriminellen Verhaltens noch stärker aus der historischen Forschung auszublenden. Das wäre bedauerlich.

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Unabhängig von diesen allgemeineren Überlegungen ist der Band von René Lévy und Amy Gilman Srebnick ein willkommener Überblick und die vorgelegten Ergebnisse können überzeugen. Sie zeigen, dass die historische Perspektive auf Kriminalität und Kultur, wie sie der Titel verheißt, in jedem Fall lohnenswert ist.