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Entwicklung einer paradigmatischen Figur und eines exemplarischen Genres des 20.Jahrhunderts

Der hard-boiled-Krimi in der Analyse

  • Lewis D. Moore: Cracking the Hard-Boiled Detective. A Critical History from the 1920s to the Present. Jefferson, N.C.: McFarland & Company 2006. 306 S. Paperback. USD 35,00.
    ISBN: 0-7864-2581-4.
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Paradigma des 20. Jahrhunderts

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Innerhalb des Krimis ist jene Sparte, in denen »hard-boiled« Ermittler die Hauptrolle spielen, bis heute äußerst vital. Wenn es zudem eine literarische Erfindung gibt, die genuin dem 20. Jahrhundert zugeschrieben werden kann, dann ist es diese Figur, ihre Ausstattung und der sie umgebende soziale Kontext, in denen sich die Komplexität der Moderne und die Reaktions- wie Bearbeitungsformen ihr exemplarisches Abbild gewählt haben.

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Der Ermittler des Genres, dessen paradigmatische Figuren Sam Spade und Philip Marlowe sind, tritt eben nicht nur die Nachfolge der pikarischen Helden an, er ist nicht nur der rationale, kalt analysierende Erbe Holmes’ und Dupins, sondern er tritt als amerikanischer Einzelgänger, als »Loner«, auch in die Fußstapfen der westwärts ziehenden Helden, die im wesentlichen nur Pferd, Sattel, Colt und Hut ihr eigen nennen. Der Colt wird durch andere Waffen ersetzt, das Pferd durch das Auto und der Hut ist kein Stetson mehr, sondern dessen städtische Variante, die tief ins Gesicht gezogen wird. Paradigmatisch ist die Situation Mann gegen Mann, Waffe gegen Waffe; Gewalt ist insbesondere in den frühen Texten personalisiert. Die Lösung der Konflikte ist somit durch einen persönlichen gewalttätigen Akt möglich. Allerdings: Woher diese Helden kommen, weiß niemand: »the detectives have no real past« (S. 15).

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Der Basis-Code

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Die US-amerikanische Kultur hat eine Reihe solcher Helden hervorgebracht – ins 20. Jahrhundert gehört jedoch vor allem der Privatermittler des hard-boiled-Krimis. Dazu prädestinieren ihn einige Charakterzüge (oder besser. Ausstattungen), die den neueren gesellschaftlichen Entwicklungen entsprechen: seine gesellschaftliche Isolation und Vereinzelung, die mit seiner Unabhängigkeit und relativen Verarmung korrespondieren, seine distanzierte Haltung, seine Skepsis, was Gesellschaft und Individuen angeht, sein gemischter Charakter, seine ›mittlere‹ Lage, die einer späten Variante des didaktischen Konzeptes zu verdanken ist, die dem Bürgerlichen Trauerspiel zugrunde liegt. Hinzu kommt der unbeirrbare Ehrgeiz, das einmal gewählte Verbrechen aufzuklären, der aufsässige Widerstand gegen die korrupten, machtbesessenen und miteinander zum Wohle ihrer Pfründe verschworenen Eliten des Landes.

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Dem entspricht das Gesellschaftsbild, das die Texte, in denen dieser Held auftritt, bestimmt: Privatinteressen dominieren das gesellschaftliche Gefüge, der Staat ist selbst nur Ausdruck eines bestimmten Interesses, die unterschiedlichen Positionen und Durchsetzungsstrategien nicht nur der kriminellen Akteure überlagern einander so sehr, dass sie kaum noch durchdringbar zu sein scheinen. Schauplatz des Genres sind die amerikanischen Großstädte, insbesondere New York, Chicago oder Los Angeles. Erst später kommen weitere Schauplätze hinzu, wie sich generell das Genre innerhalb seiner einmal gesetzten Grenzen in immer neuen Variationen gefällt. Dass der Held männlich ist und die Gefahr weiblich, versteht sich für das frühe 20. Jahrhundert fast von selbst. Aufgrund der sozialen Rollenirritationen entwirft es fixierte Klischees, die den Anschein von Sicherheit geben und so als Rollenvorbilder funktionieren können (auch wenn sie mit den realen Handlungsmöglichkeiten in Konflikt geraten).

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Lewis D. Moores Analyseprojekt

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Soweit eine, vielleicht weitgehend konsensfähige Bestandsaufnahme des Genres, deren Basiselemente Lewis D. Moore in seiner ›kritischen‹ Geschichte des hard-boiled-Krimis Cracking the Hard-Boiled Detectives beschrieben hat. Die Quellen dieses »Codes« (S. 39) sieht Moore in der gesamten Literaturgeschichte seit der Antike, insbesondere aber bei Homer (hier vor allem das heroische Pflicht-Ethos, S. 34) und – naheliegend – bei Poe und Conan Doyle, die etwa die Funktion der Rationalität und des städtischen Schauplatzes festlegen (S. 7 ff.). Das Partnerkonzept jedoch, das insbesondere bei Conan Doyle eine zentrale Rolle spielt, muss dem des isolierten Einzelgängers weichen. Erst in den späteren Romanen, so Moore, wird dieses Konzept wieder aufgenommen.

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Moore teilt das Genre in drei Entwicklungsphasen, der frühen Periode zwischen 1927 und 1955, der Übergangsphase zwischen 1964 und 1977 und der der modernen Periode seit 1979. Begründet werde das Genre mit zwei Texten, mit John Dalys The Snarl of the Beast (1927) und Dashiell Hammetts Red Harvest (1929). Moore beschreibt das Genre als relativ fest codiert. Seine Autoren (später auch Autorinnen) seien damit beschäftigt, seine Grenzen zu festigen und zugleich auszuweiten (S. 279). Das Genre habe demonstriert, dass es in der Lage sei, die Welt zu absorbieren und in Literatur zu übersetzen (ebd.). Das bedeutet allerdings für Moore in erster Linie, dass das Genre in seiner Geschichte sein Grundmuster variiert, seine Komplexität erhöht und seine Ausstattungen erweitert habe, mithin ›realistischer‹ werde.

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Variationen der Basisausstattung

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Das ist an der generellen Linie von Moores Abhandlung deutlich zu erkennen. Anhand einiger Kernelemente beschreibt Moore die Variationen und Ausweitungen, die von den frühen Texten bis zu den jüngsten Zeugnissen zu beobachten sind. Er greift dabei auf ein umfangreiches Textkorpus zurück, das insbesondere amerikanische und englische Zeugnisse berücksichtigt. Auch wenn er für die späte Phase die Exotisierung der Schauplätze konstatiert, scheint ihm das Genre doch eng an den englischen Sprachraum gebunden zu sein, hier insbesondere an Großbritannien und die USA. Australische oder neuseeländische Texte, Texte zudem aus anderen Sprachräumen vernachlässigt er in der Darstellung. Auch ist zumindest im Fall Dick Francis’ eine Zuordnung zum Genre eher fraglich.

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Die Kernelemente, die Moore benutzt, werden in drei großen Abschnitten, analog zu den Entwicklungsphasen ausgefächert: Menschen- und Gesellschaftsbild, Persönlichkeitsstruktur, die Arbeit des »detectives«, die Funktion der Gewalt, Schauplätze, Sexualität und Liebe sowie Freundschaften. Die schablonenhafte Zeichnung, die in den frühen Texten Anwendung finde, werde aufgegeben und durch die ausdifferenzierte Gestaltung des Charakters der Hauptfigur ersetzt. In der Übergangsphase wird die Krise des Helden zu einem Standardelement, er erhält eine Vergangenheit, Erinnerungen spielen eine immer größere Rolle (S. 248 ff.). Hinzu kommen Freunde, ein Liebesleben und Partner – Verhältnisse, die allerdings allesamt schwierig bleiben. Frauen übernehmen andere Rollen, die klare Verteilung von Täter=Frau, Opfer=Mann der Frühphase werde durch das Muster Täter=Mann, Opfer=Frau ersetzt (wobei Frauen weiterhin auch Täterinnen blieben, S. 117 f.); hinzu kommen weitere Rollen.

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Frauen rücken seit den siebziger und achtziger Jahren verstärkt in die Zentralposition des Ermittlers. Dabei ändere sich auch die Funktion der Gewalt. Mit den weiblichen Hauptakteuren komme Gewaltvermeidung verstärkt in den Fokus (wobei auch hier zu fragen ist, inwieweit etwa die Romane Sara Paretskys, die Moore in diesem Zusammenhang anführt, zum Hard-boiled-Genre zu rechnen sind). Männer, so Moore, verlieren dabei ihre Rollensicherheit, die ihnen das Genre in den frühen Exempeln so demonstrativ zugestanden hatte (S. 176). Spätestens in der modernen Phase übernehme das Genre sämtliche Standards des kulturellen und sozialen Lebens, etwa die Besetzung der Figuren durch differente ethnische Gruppen (S. 241) oder die Berücksichtigung anderer als heterosexueller Dispositionen (S. 214).

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Teleologisches Denkmuster oder
historische Funktionszusammenhänge?

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Moore beschreibt die Entwicklung des Genres als Öffnung hin zu einer realistischeren Darstellung von Figuren und Kontext. Wo die frühen Texte dies vermissen lassen, erfüllen die späten diese Anforderung umso stärker. Moore lässt dabei ein nicht hinterfragtes, unreflektiertes und nicht diskutiertes Denkmuster erkennen, in dem die Entwicklung des Genres identisch ist mit seiner Optimierung. Das Genre wird immer offener, selbstbewusster und reflektierter, wie eine Gesellschaft immer offener, selbstbewusster und reflektierter wird. Das aber ist bestenfalls aus einer retrospektiven, allzu selbstgewissen Wahrnehmung belastbar. Dass das Genre in jedem Entwicklungsstadium und in jeder seiner individuellen Varianten Funktionen erfüllt und auf Probleme der jeweils zeitgenössischen Gesellschaft reagiert und Lösungen respektive Interpretationen gesellschaftlicher Konfliktlagen bietet, mithin also Ausdruck der jeweiligen gesellschaftlichen Situation ist, blendet Moore völlig aus. Für ihn scheint sich das Genre notwendig in Richtung auf das Niveau zu entwickeln, auf dem sich seiner Ansicht nach ein voll entwickeltes Genre zu bewegen hat, mit einem klaren Bewusstsein auch seiner Helden für die Folgen von Gewalt, mit einem mehr oder weniger funktionierenden sozialen Umfeld, einem mehr oder weniger befriedigenden Gefühlshaushalt und Sexualleben, mit einem klaren Blick für die Genderproblematik, einem Weltbild, das auf Offenheit und Gleichberechtigung setzt, und dergleichen mehr.

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Dies sind zweifelsohne keine falschen Paradigmen, allerdings ignoriert Moores Vorgehen, dass alle diese Haltungen jeweils nur historisch und sozial kontextuell sind, also auch keiner Fortschrittsautomatik folgen. Moore versäumt damit einer der Basisforderungen an wissenschaftliche Arbeit, nämlich die Reflexion des eigenen Standorts und der eigenen Prämissen. Zugleich verweigert Moore damit jede Erklärung für die Entstehung, Ausstattung und Variation respektive Entwicklung des Genres. Moore begnügt sich mit einer Ableitung der Ausstattungen des Genres aus der literarischen Tradition. Aber warum dieses Genre in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts entsteht, warum der Basiscode des hard-boiled-Ermittlers überhaupt aus den Vorgaben entwickelt wird, wird nicht einmal thesenhaft erklärt – vergleiche dazu die Thesen zu Beginn dieser Rezension.

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Wie die Helden der frühen hard-boiled-Krimis keine Vergangenheit, keine Jugend und erst recht keine Pubertät haben (S. 82), die erklären würde, wie sie heute sind, springt auch dieses Genre vergangenheitslos auf die literarische Bühne. Was das angeht, lässt die Studie, die ansonsten mit einer breiten Anamnesebasis von Texten aufzuwarten weiß, eine empfindlich spürbare Lücke. Diese Lücke aber ist vor allem methodologisch bedingt. Dabei lassen sich Ansätze innerhalb der insgesamt klugen und belesenen Einzelkapitel finden. Davon jedoch abgesehen, dass sie sich zum Teil widersprechen, verpuffen sie. Am Ende bleibt der Eindruck eines verblüffenden Zettelkastens, der mit größter Sorgfalt organisiert und vernetzt wurde, dessen Potential jedoch brachliegt.