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Frauengeschichte reloaded

  • Béatrice Ziegler: Arbeit - Körper - Öffentlichkeit. Berner und Bieler Frauen zwischen Diskurs und Alltag (1919-1945). Zürich: Chronos 2006. 512 S. Paperback. EUR (D) 44,80.
    ISBN: 3-0340-0798-1.
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Die Geschlechtergeschichte darf inzwischen als arriviert gelten; zwar vernachlässigen noch immer die meisten vermeintlich allgemeinen Geschichtsdarstellungen die Kategorie Geschlecht, doch andererseits ist vielerorts die Institutionalisierung der Geschlechtergeschichte als Teilbereich der Geschichtswissenschaft gelungen. In diesem Kontext ist die bewusst im Sinne der klassischen Frauengeschichte der 1970er und 1980er Jahre formulierte Frage der Historikerin Béatrice Ziegler nach der »Lebenssituation von Frauen der unteren Schichten« (S. 9) bemerkenswert. Ziegler, Leiterin des Zentrums Politische Bildung und Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule der FHNW in Aarau, gelingt es in ihrer Züricher Habilitationsschrift, die Debatten der zurückliegenden Jahre gewinnbringend in eine Reformulierung des frauengeschichtlichen Ansatzes einzubringen.

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Diskurs oder Alltag? Diskurs und Alltag!

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Ziegler definiert die Zugehörigkeit von Frauen zu den »unteren Schichten« dadurch, dass für jene die Notwendigkeit bestanden habe, »persönlich ökonomisch relevante Arbeit leisten zu müssen« (S. 15). Um deren Lebenssituation rekonstruieren zu können, wählt Ziegler eine »Kombination von sozialgeschichtlichem Vorgehen und von Analysen von Diskursen« (S. 9). Auf diese Weise soll der Frage nachgegangen werden, welche »Handlungsspielräume« (S. 11) Frauen der Arbeiterklasse innerhalb der Einschränkungen durch soziale Strukturen und vorherrschende Geschlechterdiskurse blieben. Mit dem Verwaltungszentrum Bern und dem stark von der Uhrenindustrie geprägten Biel nimmt Ziegler zwei Städte in den Blick, die sich in ihrer ökonomischen und sozialen Struktur stark voneinander unterschieden. Folglich lassen die Befunde der Studie zu einem gewissen Grade Rückschlüsse auf allgemeine Tendenzen in der Schweiz zwischen 1919 und 1945 zu.

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Der Frage nach der Lebenssituation von nicht-bürgerlichen Frauen entsprechend, ist die Abhandlung in drei Blöcke geteilt, die zunächst divergent anmuten: Zunächst untersucht Ziegler die Frauenerwerbsarbeit, dann unter dem Schlagwort der Körperpolitik die Themen Abtreibung, Prostitution und Geschlechtskrankheiten sowie abschließend, in einem mit nur 60 Seiten deutlich knapper ausgefallenen Abschnitt, die Rolle von Frauen in der Öffentlichkeit anhand von politischen Institutionalisierungsversuchen und tatsächlichem alltagspolitischen Handeln. Die Unterteilung in diese drei Themenkomplexe wurde gewählt, so Ziegler, weil harte Erwerbsarbeit, der sozialdisziplinierende staatliche Anspruch einer Kontrolle über ihre Sexualität und der weitgehende Ausschluss aus der (politischen) Öffentlichkeit konstitutiv für die Identität nicht-bürgerlicher Frauen gewesen sei.

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Sozialgeschichte der Frauenerwerbsarbeit

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Mit 160 Seiten nimmt der Abschnitt über Frauenarbeit den größten Platz in Zieglers Buch ein, wovon die ersten 140 Seiten einer sozialgeschichtlichen Abhandlung gewidmet sind. In den beiden untersuchten Städten Bern und Biel lebten überproportional viele junge Frauen. Grundsätzlich führt Ziegler dies auf eine größere Mobilität der weiblichen Landbevölkerung zurück, die besonders starke Ausprägung des Phänomens in Bern sei dann insbesondere durch die »typisch weibliche Dienstbotenzuwanderung« (S. 46) zu erklären. Der größte Teil der erwerbstätigen Frauen habe »schlecht bezahlte und gering qualifizierte Arbeit« (S. 49) leisten müssen, hauptsächlich in der Hauswirtschaft und im Gastgewerbe, aber auch in Fabriken.

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Hervorzuheben ist Zieglers reflektierter Umgang mit sozialstatistischen Quellen: So schlussfolgert sie nach einem quellenkritischen Vergleich von Volkszählungsdaten mit den Aussagen in Gerichtsakten, dass die statistischen Daten relativiert werden müssten. Die Volkszählungen hätten die sogenannte Schattenarbeit – etwa Putzarbeiten, Aushilfstätigkeiten und Heimarbeit – kaum erfasst, weil die betreffenden Frauen sich als Hausfrauen deklariert hätten. Folglich müsse von einer »statistischen Unterschätzung der Erwerbsarbeit von Frauen« (S. 63) ausgegangen werden.

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Rationalisierung = Feminisierung?

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Den gesamten Abschnitt zum Thema Arbeit durchzieht die erste zweier übergreifender Thesen, die das Buch prägen: Ziegler geht davon aus, dass Rationalisierungsmaßnahmen insgesamt zu einer Dequalifizierung und damit gleichzeitig einer Feminisierung des industriellen Arbeitsplatzes führten. Die wichtige Identifizierung von »Männerängsten«, die in der Befürchtung bestanden hatten, »Rationalisierungen könnten Männer durch Frauen mit niedrigeren Löhnen ablösen« (S. 116), führt Ziegler dann aber zu einer problematischen Schlussfolgerung: »Die technisch-wirtschaftliche Entwicklung führte zu verschärfter Rationalisierung und damit zu anstrengenderen Arbeitsbedingungen, zu schlechteren Löhnen, was in der Tendenz zu einer Feminisierung von Arbeitsplätzen führte«. (S. 117) Hier entsteht der Eindruck, Ziegler sei der zeitgenössischen – männlichen – Wahrnehmung, dass mit der Rationalisierung eine Feminisierung der Arbeitsplätze einhergehe, aufgesessen und übernehme sie dann weitgehend unreflektiert als eigene These, ohne dabei Bezug auf die Forschungskontroverse zu dieser Frage zu nehmen. 1

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Überzeugend hält Ziegler zur geschlechterspezifischen Verteilung von Arbeitsplätzen fest, dass von einer »Segregation« gesprochen werden müsse, betont aber gleichzeitig, dass die Geschlechterordnung in den Fabriken durch ökonomische und technologische Umstellungen in Frage gestellt werden konnte. So sei es in der Uhrenindustrie während der »Rationalisierungswellen« 2 der 1920er und 1930er Jahre zu einer generellen »Erschütterung der als gültig akzeptierten Rollenverschiedenheit von Männern und Frauen« gekommen. Nach Entlassungen in der Krise und Neueinstellungen im rationalisierten Produktionsprozess seien vor allem in den späten Dreißiger Jahren die Arbeitsplätze von Frauen häufig sicherer gewesen als diejenigen ihrer Ehemänner. Viele Arbeiterinnen hätten zwar zu Beginn der Krise ihren Arbeitsplatz verloren, seien dann aber »schneller und in größerer Zahl« als Männer wieder eingestellt worden. So kommt Ziegler zu dem interessanten Befund, dass gerade Industrielle die »Aufweichung ›natürlicher‹ Ordnungsprinzipien« (S. 139) befördert hätten, während die Gewerkschaften in dieser Hinsicht konservative Bewahrer der Hierarchien gewesen seien.

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In einem kurzen Exkurs zur Büroarbeit betont Ziegler, dass die im Untersuchungszeitraum steigenden Beschäftigungszahlen nicht zu einem Schluss auf den Beginn »einer beruflichen Emanzipation« von Frauen verleiten dürfe. Vielmehr sei diese Entwicklung als Konsequenz einer »Ausdifferenzierung und Hierarchisierung von Arbeitsvorgängen in der Verwaltung« (S. 141) zu betrachten. In diesen Kontext blieben Frauen meist auf den Status von Bürohilfskräften beschränkt.

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Arbeitsdiskurse

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Auf den sozialgeschichtlichen Abschnitt lässt Ziegler ein sehr kurzes Kapitel zum Verhältnis von »weiblicher Erwerbsarbeit und Geschlechterordnung« folgen. Sinnvollerweise beschränkt sie sich dabei größtenteils auf eine beispielhafte Debatte, diejenige um das »Doppelverdienertum«. Diese sei – abstrahierend von den wenigen Fällen, um die es in der Auseinandersetzung ging – von grundsätzlicher Bedeutung für die »bürgerliche Geschlechterordnung« (S. 177) gewesen.

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Dabei arbeitet Ziegler heraus, dass es in dieser Diskussion nicht um die generelle »Infragestellung der Erwerbstätigkeit von Ehefrauen« gegangen sei. Vielmehr sei die Debatte einerseits als ein Beitrag zum Kampf um die Aufrechterhaltung der nach Geschlecht hierarchisierenden Arbeitsteilung und der niedrigeren Löhne für Arbeiterinnen zu betrachten. Andererseits sei gleichzeitig erneut eine »Festschreibung der alleinigen Zuständigkeit der Frauen für Hausarbeit und Erziehung« (S. 168) erfolgt.

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Sozialdisziplinierung der weiblichen Sexualität

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Im zweiten Teil beschäftigt sich Zieglers Studie mit »Körperpolitik«. Sie geht dabei sowohl auf die Debatten um Abtreibung, Prostitution und Geschlechtskrankheiten als auch auf die sozialhistorische Realität ein. In diesen Abschnitten tritt deutlich die zweite übergreifende These des Buches bestimmend hervor: die einer umfassenden Sozialdisziplinierung nicht-bürgerlicher Frauen. Als staatliche Agenten des sozialdisziplinierenden Vorhabens fungieren dabei die Ärzte, denen es gelungen sei, sich »als Experten in der politischen Entscheidungsfindung und juristischen Verankerung von körperpolitisch relevanten Problemen zu etablieren« (S. 308). Jedes abweichende »Sexualverhalten von Frauen« sei »ins Visier medizinisch begründeter Verfolgung« (S. 280) geraten. Darüber hinaus seien grundsätzlich alle Frauen aufgrund ihrer von den bürgerlichen Normen abweichenden Lebenssituation dem Normierungsdiskurs ausgesetzt, vor allem aber Frauen der unteren Schichten zusätzlich von der allgegenwärtigen Gefahr bedroht gewesen, willkürlich in den Verdacht einer sexuellen Abweichung zu geraten.

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Abtreibung, Prostitution, Geschlechtskrankheiten

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Ziegler untersucht zunächst medizinische Debatten um die Abtreibung und konstatiert, dass die Ärzte in ihrer Argumentation eine »Verbindung zwischen sittlicher Weltsicht und wissenschaftlicher (rationaler) Begründung« (S. 212) suchten. Ganz im Sinne des Ansatzes der Sozialdisziplinierung kommt Ziegler zu dem Schluss, dass es bei der Reglementierung der Abtreibung weniger »um den Schutz schwangerer Frauen vor gefährlichen Eingriffen« als vielmehr darum gegangen sei, »die Kontrolle der Fruchtbarkeit« nicht den Frauen zu überlassen, sondern den »Staat (über seine Experten)« (S. 221) in diesen Prozess einzuschalten. In der Praxis kamen aber offensichtlich kaum Denunziationen durch das medizinische Personal vor. Ziegler hält folglich fest, dass »eine beträchtliche Zahl Ärzte und Hebammen […] für Abtreibungsentscheide Verständnis hatten (oder die Abbrüche selbst vollzogen)« (S. 216).

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Im Gegensatz zur Situation in Deutschland war Prostitution in der Schweiz während des Untersuchungszeitraums strafbar. Ziegler betont allerdings, dass sich behördliche Repressionen in erster Linie gegen die Straßenprostitution gerichtet hätten, während Bordelle weitgehend geduldet worden seien. In der zeitgenössischen Definition konnte jede außereheliche, promiske weibliche Sexualität als Prostitution bezeichnet werden. Zieglers Auffassung, es habe einen »beständigen Druck auf Frauen und insbesondere Unterschichtsfrauen« gegeben, in der Öffentlichkeit den Sittlichkeitsnormen zu entsprechen, kann beigepflichtet werden. Ihre weitergehende Schlussfolgerung, Frauen hätten »letztlich ohne zwingenden Grund nicht in den Straßen« (S. 244) erscheinen dürfen, schießt hingegen über das Ziel hinaus.

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Auch die miteinander verwobenen Debatten um Prostitution und Geschlechtskrankheiten – die Diskussion um Geschlechtskrankheiten sei als »Fortsetzung des Diskurses über Prostitution« (S. 264) anzusehen – interpretiert Ziegler in erster Linie auf ihre »disziplinierende Wirkung gegenüber allen Frauen« (S. 249) hin. Im »Zeichen einer Biologisierung der Gesellschaft« hätten medizinische Experten die Prostitution als gefährlichen »Ansteckungsherd für Geschlechtskrankheiten« (S. 264 u. S. 249) betrachtet. Letztlich hätte jeder venerisch erkrankten Frau der Unterschicht der Verdacht der Prostitution angehangen:

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So setzte der Diskurs über Geschlechtskrankheiten die sexuelle Einschüchterung beziehungsweise Disziplinierung vor allem der Frauen der Unterschicht fort, die früher durch den Prostitutionsverdacht geleistet worden war. (S. 261)
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Weiter im Sinne des Ansatzes der Sozialdisziplinierung schlussfolgert Ziegler, der Umgang mit Geschlechtskrankheiten sei »gegen die ärmere Bevölkerung zu einem der Hebel geworden, mittels dessen Fürsorge und Polizei in ihre Lebenssituation und ihre Intimsphäre eindrangen« (S. 301).

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Öffentlichkeit

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Der dritte und kürzeste Teil der Studie beschäftigt sich mit der Frage, wieso es Frauen nicht gelang, in größerem Maße Teil der politischen Öffentlichkeit in der Schweiz vor 1945 zu werden, obwohl in der kulturellen Öffentlichkeit das Bild der ›neuen Frau‹ seit den Zwanziger Jahren an Bedeutung gewann. Ziegler geht dieser Frage anhand von drei Detailuntersuchungen nach: Marktunruhen in Bern und Biel, dem Bieler »Milchkrieg« und dem Scheitern der sozialdemokratischen Frauengruppe in Biel. Mehrere Anläufe zur Etablierung feministischer Positionen innerhalb der Sozialdemokratie hätten scheitern müssen, weil die männlichen Mitglieder den Frauen deutlich gemacht hätten, dass »sie weder gleichwertig noch gleichberechtigt waren« (S. 356).

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Die Rolle, die Frauen in der Auseinandersetzung um Lebensmittelpreise auf den Märkten und bei der Lieferung von Milch spielten, zeigt für Ziegler, »dass sich Frauen in Fragen öffentlich exponierten«, für die sie die Zuständigkeit beanspruchten. Allerdings konnte diese »spezifische Zuständigkeit« keine Basis für »eine generelle politische Aktivität« (S. 341) bilden. Es sei den Frauen in diesen Fällen nicht um politische Emanzipation gegangen, sondern um die Lösung konkreter Probleme, wozu es notwendig gewesen sei, in die Öffentlichkeit zu treten.

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Dennoch sieht Ziegler vor allem im Bieler »Milchkrieg« von 1930/31 »eine vergebene Chance« für die Etablierung einer »Frauenpolitik«, die die »Sperren der etablierten Parteipolitik« (S. 371) hätte überwinden können. Diese Einschätzung Zieglers scheint dem historischen Gegenstand unangemessen zu sein, weil dabei die wesentlichen Interessengegensätze und kulturellen Unterschiede zwischen bürgerlichen und proletarischen Frauen vernachlässigt werden. Auch Ziegler ist in dieser Frage seltsam unentschieden: An anderer Stelle in dieser Studie betont sie noch zu Recht, »dass eine klassenübergreifende Frauenbewegung keine politische Heimat für Proletarierinnen sein konnte« (S. 356).

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Fazit

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Béatrice Ziegler hat zweifellos eine wichtige Forschungsleistung vollbracht. Es gelingt ihr, ein dichtes Bild der durch Denkstrukturen und die soziale Realität geprägten Lebensumstände von Frauen der unteren Schichten zu zeichnen. Die Menge des Materials und die Disparatheit der einzelnen Kapitel machten es notwendig, übergreifende Thesen aufzustellen. Gerade hier liegt eine Schwäche des Buches: Diese beiden Thesen, einerseits zur Rationalisierung, andererseits zur Sozialdisziplinierung, fügen sich nicht überzeugend in die Quellenarbeit ein. Die – durchaus legitime – Interpretation der Rationalisierung als Feminisierung vernachlässigt darüber hinaus eine Diskussion der aktuellen Literatur.

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Der Ansatz der Sozialdisziplinierung hingegen wird nicht in der Gründlichkeit reflektiert, die ansonsten Zieglers Studie auszeichnet. Lediglich in einer späten Fußnote geht Ziegler überhaupt explizit auf das Konzept ein, das offensichtlich einen Großteil ihrer Interpretation anleitet. Dort erwähnt sie zwar, dass es »für eine andere historische Phase entworfen« worden ist, hält das Konzept aber dennoch ohne weitere Begründung auch in ihrem Kontext für »sehr nützlich« (S. 446). Michel Foucault, auf dessen Diskursbegriff Ziegler Bezug nimmt, hat betont, dass im 20. Jahrhundert die »Disziplinarmacht« hinter einen Machttypus zurücktrat, den er als »Regierung« bezeichnet. 3 Regierung meint die Art und Weise, auf welche die Lenkung der Individuen durch andere mit ihrer Selbstführung verbunden wird. 4 Es geht also um die »Macht, Subjekte zu einem bestimmten Handeln zu bewegen« 5 . Eine Reflektion dieses Konzeptes hätte Ziegler vor einigen Vereinfachungen bewahren können. Ihrem Interpretationsraster liegt eine Dichotomie zwischen Befreiung und Disziplinierung zugrunde, die einerseits das Bild eines omnipräsenten, sozialdisziplinierenden Staates unterstützt und andererseits die Machtverhältnisse verkennt, die der Freizeitgestaltung innewohnen. So stellt Ziegler eine Dichotomie zwischen »Vergnügungsangeboten« (»Kino, Fahrrad, Sport, Ausstellungen«) und der staatlichen Disziplinierung auf:

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Neben diesen mehrheitlich doch individuell befreiend wirkenden Angeboten gab es ein immer dichter werdendes Netz sozialdisziplinierender Verwaltungsabteilungen und Institutionen, die der Durchsetzung von Verhaltens- und Denkvorgaben einer bürgerlichen Gesellschaft auch in unteren Schichten dienten. (S. 387)
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Keinesfalls wäre es gerecht, Zieglers hervorragende Forschungsarbeit in Abrede zu stellen. Sie stellt sich einem sehr breiten Thema, leistet gründliche Quellenarbeit und versucht, durch die genannte theoretische Verortung, ihre Thesen auf ein allgemeines Plateau zu überführen. Lediglich bei diesem letzten Schritt, der Einordnung ihrer detaillierten Befunde in den historischen Kontext, gerät sie ein wenig ins Stolpern.

 
 

Anmerkungen

Für die Verhältnisse in Deutschland hat Renate Bridenthal bereits 1973 derartige Thesen zurückgewiesen und festgehalten, dass weder ein signifikanter Anstieg der Frauenarbeit nach dem Ersten Weltkrieg noch eine Ersetzung männlicher Facharbeiter durch ungelernte weibliche Kräfte in der Fließfertigung zu verzeichnen sei. Eine Umschichtung habe lediglich insofern stattgefunden, als dass rationalisierte Betriebe, in denen Arbeiterinnen stark vertreten waren, häufig in den 1920er Jahren expandierten, vgl. Renate Bridenthal: Beyond Kinder, Küche, Kirche. Weimar Women at Work. In: Central European History 6/2 (1973), S. 148–166, hier S. 149 f. und S. 157.
Dorothea Schmidt kann diese Beobachtungen anhand zweier Siemens-Werke bestätigen: Das Verhältnis zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit sowie zwischen Arbeitern und Arbeiterinnen habe sich auch durch die Einführung neuer Technologien kaum verändert, vgl. Dorothea Schmidt: Weder Ford noch Taylor. Zur Rhetorik und Praxis der Rationalisierung in den zwanziger Jahren am Beispiel dreier Siemens-Werke. Bremen: 1993, S. 233.
Ähnlich: Heidrun Homburg: Rationalisierung und Industriearbeit. Arbeitsmarkt – Management – Arbeiterschaft im Siemens-Konzern Berlin, 1900–1939 (Schriften der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 1) Berlin: Haude & Spener 1991, S. 554.
Im Sinne Zieglers argumentiert beispielsweise: Hans Wupper-Tewes: Rationalisierung als Normalisierung. Betriebswissenschaft und betriebliche Leistungspolitik in der Weimarer Republik. Münster: Westfälisches Dampfboot 1995, S. 252.   zurück
Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass der Begriff der »Rationalisierungswelle« ein problematischer ist, da die Forschung für Deutschland nachgewiesen hat, dass zwischen dem virulenten Rationalisierungsdiskurs und der eher gemächlichen Einführung von Rationalisierungsmaßnahmen klar unterschieden werden muss, vgl. J. Ronald Shearer: Talking about Efficiency: Politics and the Industrial Rationalization Movement in the Weimar Republic. In: Central European History 28/4 (1995), S. 483–506, hier S. 485.
Vgl. auch Rüdiger Hachtmann: Industriearbeit im »Dritten Reich«. Untersuchungen zu Lohn- und Arbeitsbedingungen in Deutschland 1933–1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989, S. 68 f.   zurück
Vgl. Michel Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, S. 162 (Vorlesung vom 1. Februar 1978).   zurück
Vgl. Michel Foucault: About the beginning of the hermeneutics of the self. In: Political Theory 21/2 (1993), S. 198–227, hier S. 203 f.   zurück
Thomas Lemke / Susanne Krasmann / Ulrich Bröckling: Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In: U.B. / S.K. / T.L. (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, S. 7–40, hier S. 29.   zurück