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Licht auf einen großen Unbekannten

Matthias Heilmann porträtiert Leopold Jessner

  • Matthias Heilmann: Leopold Jessner - Intendant der Republik. Der Weg eines deutsch-jüdischen Regisseurs aus Ostpreußen. (Theatron 47) Tübingen: Max Niemeyer 2005. VII, 447 S. Kartoniert. EUR (D) 112,00.
    ISBN: 3-484-66047-3.
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Bekannt und Unbekannt:
Vergessen durch Kanonisierung
und Halbwissen

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Er gehört zu jenen legendären, sagenhaften Gestalten, die dem Namen nach vertraut sind, über die aber eigentlich Näheres kaum in Erfahrung zu bringen ist. Leopold Jessner (1878–1945) war von 1919–1930 Intendant des neu geschaffenen Preußischen Staatstheaters in Berlin und damit Hausherr des Schauspielhauses am Gendarmenmarkt, das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs das Hoftheater Wilhelm II. beherbergt hatte. Mit seiner Inszenierung von Schillers Wilhelm Tell (1919) und Shakespeares Richard III. (1920) schuf er nicht nur eine neue Bühnenästhetik, die mit dem Schlagwort der »Jessner-Treppe« versehen heute zum Proseminarwissen Theatergeschichte gehört, sondern er sorgte auch für die wahrscheinlich spektakulärsten Theaterskandale und Saalschlachten in der Geschichte des deutschen Theaters im 20. Jahrhundert. Seine radikale, demokratische Lesart kanonischer Stücke war keineswegs nur eine Provokation des Establishments – sie wurde zum symbolischen Streitobjekt, an dem über Wohl und Wehe und die innere Verfasstheit der Republik gestritten wurde. Theater wurde hier tatsächlich in einem sehr modernen Sinne zur ›Agora‹, zu dem zentralen öffentlichen Platz, an dem die Auseinandersetzung über das Geschick des Gemeinwesens geführt wurde.

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Dass Jessner als bekennender Sozialdemokrat und Jude auch als Person zur Symbolfigur der republikanischen Kultur wurde, dass sein erzwungener Rücktritt 1930 durchaus als Menetekel der heraufziehenden Nazi-Herrschaft zu lesen ist, gehört noch zur erweiterten theatergeschichtlichen Allgemeinbildung.

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Fragt man aber nach der näheren Umständen, nach Details, persönlichen Motiven oder Intentionen, beginnt sich Dunkelheit auszubreiten: Leopold Jessner verschwindet fast völlig hinter seiner künstlerischen Tätigkeit und hinter der öffentlichen Maske, die die Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik von ihm zeichnen. Anat Feinberg hat sich als eine der ersten 2003 in einem ausführlichen Aufsatz mit Jessners Person auseinandergesetzt. 1 Jedoch auch sie konnte in vielen Fällen nur die Umrisse dieser Künstlerpersönlichkeit zeichnen – es gelang ihr aber die Bedeutung der bislang nur unzureichend beachteten Bedeutung von Jessners jüdischer Herkunft, die oftmals nur im Licht der politischen Auseinandersetzung wahrgenommen wurde, näher zu beleuchten. In diesem Zusammenhang hat Feinberg auch die Exiljahre Jessners ausführlicher als bislang von der Forschung üblich beschrieben.

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Matthias Heilmann nun hat mit seiner in München eingereichten Dissertation eine umfassende und gründlich angelegte Studie zu Jessner vorgelegt, die sich anschickt, die größten Lücken der Forschung zu schließen. Obwohl der Titel der 2005 als Buch erschienenen Studie den »Intendant der Republik« ins Blickfeld rückt, widmen sich die ersten vier Kapitel dem »Weg eines deutsch-jüdischen Regisseurs aus Ostpreußen«, wie es der Untertitel ankündigt. Heilmann leistet hier wirkliche Pionierarbeit, wenn er etwa Jessners Beziehungen zu Carl Heine und Gustav Lindemann beschreibt, die vor allem erkennen lassen, wie sehr Jessner, der später vor allem für seine Klassiker-Inszenierungen berühmt wurde, sich in frühen Jahren mit Ibsen und Wedekind auseinandersetzte und an diesen seine ästhetischen Maßstäbe entwickelte.

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Aufbau des Bandes
und Argumentationsführung

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Ausführlich entfalten die folgenden zwei Kapitel Jessners Stationen am Hamburger Thalia-Theater (1904–1915) sowie am Neuen Schauspielhaus seiner Heimatstadt Königsberg (1915–1919). Heilmann beschreibt Jessners Aufstieg als Regisseur und späterhin auch als Theaterleiter als einen Prozess künstlerischer Überzeugung auf der einen Seite und gleichzeitig als ein Moment sozialen Engagements, das sich nicht allein in seiner künstlerischen Arbeit zeigt, sondern auch in seinen Bemühungen, die soziale Situation der Bühnenangehörigen zu verbessern.

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Den Hauptteil des Buches aber bildet die Schilderung der Intendanz am Preußischen Staatstheater. Heilmann baut seine Analyse chronologisch auf und wählt die wichtigsten Inszenierungen seiner Intendanz als Meilensteine. Hierbei gelingt es ihm gerade in seiner detaillierten Auswertung von Kritiken und Zeitzeugenberichten, so manche Legende der Theatergeschichte gerade zu rücken. Gerade die Autobiographie Fritz Kortners (1892–1970) Aller Tage Abend (1959) wurde bislang immer mehr oder weniger unbezweifelt als Quelle für diesen Zeitraum übernommen. Worin die Autorität Kortners gründet, diskutiert Heilmann leider nicht gesondert, aber sicherlich ist sie sowohl in seinem überaus eindrucksvollen und farbenfrohen Sprachstil begründet wie auch in seiner Position als moralische und künstlerische Autorität, die ihm als Remigrant nach seiner Rückkehr nach Deutschland zugestanden (beziehungsweise in einigen Fällen auch aufgezwungen) wurde.

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Heilmann kann zeigen, dass etwa die legendäre »Saalschlacht« um Jessners Wilhelm Tell keineswegs so abgelaufen war, wie Kortner sie beschreibt. Dennoch wird auch in Heilmanns Analyse, die sich auf eine systematische Auswertung von Autobiographien und Kritiken stützt, deutlich, dass die Inszenierung dieses kanonischen Dramas, das immer schon als Herzstück nationaler Identitätspolitik fungierte, von zentraler politischer Bedeutung war.

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Immer wieder webt Heilmann in seine Darstellung auch zeithistorische und theatergeschichtliche Bezüge ein. Hierbei beschränkt er sich allerdings auf einige wenige Gewährsleute – eine Einschränkung, die man an einigen Stellen möglicherweise kritisch diskutieren kann, die im Gesamteindruck aber eher zur Klarheit der Argumentationsführung beiträgt.

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Möglichkeiten und Grenzen
politischen Theaters und
seiner Historiographie

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An der theatergeschichtlichen Kontextualisierung wird allerdings in besonderer Weise eine Schwierigkeit der vorliegenden Studie deutlich: Heilmann ist in vielen Fällen nur allzu bereit, die Konflikte, mit denen Leopold Jessner konfrontiert war, aufzugreifen und gewissermaßen für ihn nochmals in die Bresche zu springen oder besser gesagt in die Rüstung zu steigen. Besonders deutlich wird dies bereits an Heilmanns Auseinandersetzung mit dem Expressionismus, dem man in der Forschung Jessner immer zuordnet. 2 Diese Zuordnung mag durchaus problematisch sein, Heilmann aber wendet sich mit einer Verve gegen diesen Bezug, der den Leser schon in Erstaunen versetzt.

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Diese – an sich durchaus sympathische – Parteilichkeit nimmt aber sehr eigenwillige Züge an, wenn Heilmann Jessner gegen Reinhardt auszuspielen versucht – so als sei die reine ›Opposition‹ bereits eine Nobilitierung aus sich heraus. So spricht Heilmann von der »rastlosen Geschäftstüchtigkeit und Kommerzialisierung des stetig wachsenden Reinhardt-Imperiums« (S. 205), er wird für ihn zum »Antipod[en] eines Theaters der Arbeiterinteressen« (S. 115), während Jessner zum Inbegriff des demokratischen Republikaners wird: »Die betonte Ablehnung eines nicht mehr zeitgemäßen Illusions- und Unterhaltungstheaters hatte in Jessners Reden und Aufsätzen fast schon die Form eines Rituals, weil er immer wieder vor der Gefährdung der Republik durch das Wiedererstarken überlebter Theaterformen warnen mußte.« (S. 112)

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Tatsächlich erscheint die These von einer »Gefährdung der Republik durch das Wiedererstarken überlebter Theaterformen« – eine Formulierung, die im Kontext des Bandes eigentlich nur auf Reinhardt bezogen werden kann – doch zumindest sehr pointiert. Darüber hinaus aber zeigt das Beispiel Reinhardt auf, dass es Heilmann nicht gelingt, sich aus einer Interpretationsperspektive zu lösen, die sich seit den 1960er Jahren im Rahmen einer Wiederentdeckung der Kultur der Weimarer Republik ausbildete. Heilmann übernimmt in weiten Teilen die Perspektive Jacobsohns und Ihrerings, deren Enttäuschung über Reinhardt er weiterträgt. Dies überrascht umso mehr als sich Heilmann an anderer Stelle mehrfach auf Peter Gays Weimar Culture: The Outsider as Insider (1968) bezieht, der unter anderem ausführt, wie sehr die Weimarer Kultur eigentlich schon in Wilhelminischen Zeiten ausgebildet war. In diesem Licht wäre näher zu beleuchten, inwiefern sich Reinhardt und Jessner tatsächlich so trennscharf gegeneinander stellen lassen oder ob es nicht in einem weitergehenden Sinne durchaus auch Gemeinsamkeiten der ästhetischen Zielsetzung gab. Die verständliche Konzentration auf Jessner – wie eingangs ausgeführt ein wichtiges und verdienstvolles Anliegen – hätte eigentlich um eine Erweiterung des Fokus ergänzt werden müssen, die versucht, Jessners Theaterarbeit auch im Kontext der kulturellen und theaterästhetischen Landschaft seiner Zeit zu verorten. In dem Anliegen, Jessner den ihm fraglos zustehenden Platz zu sichern, hat sich der Autor für eine engagierte Verteidigung ›seines‹ Künstlers entschieden.

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Es sei an dieser Stelle noch ein weiteres Monitum anzumerken gestattet: Dass der Band, der sich so intensiv mit den Inszenierungen Jessners auseinandersetzt, nicht ein einziges Bild enthält, mutet angesichts der Tatsache, dass dies in Zeiten der digitalen Reproduktion kein wirkliches Problem mehr darstellt, merkwürdig an. Man mag dies noch verschmerzen, dass der Band aber mit dem überaus stolzen Preis von 112,00 Euro für private Käufer vollkommen unerschwinglich ist, ist ein Ärgernis. Es steht zu hoffen, dass dies der Rezeption eines so verdienstvollen Buches, das trotz mancher Schwäche die bislang beste Studie zu Jessner darstellt, nicht im Wege steht. Dafür ist diese Etappe deutscher Theater- und Kulturgeschichte zu wichtig.

 
 

Anmerkungen

Vgl. hierzu Anat Feinberg: Leopold Jessner: German Theatre and Jewish Identity. Leo Baeck-Institute Yearbook 48 (2003), S. 111–133.   zurück
Vgl. hierzu beispielsweise David F. Kuhns: Expressionism, Monumentalism, Politics: Emblematic Acting in Jessner's Wilhelm Tell and Richard III. New Theatre Quarterly 7.25 (1991), S. 35–48. und D. F. K.: German Expressionist Theatre. The Actor and the Stage. Cambridge: Cambridge University Press 1997.   zurück