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Schiller dreidimensional.
Geschichte, Natur und Moderne

  • Georg Braungart / Bernhard Greiner (Hg.): Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 6) Hamburg: Felix Meiner 2005. VII, 266 S. Kartoniert. EUR (D) 68,00.
    ISBN: 3-7873-1770-8.
  • Holger Bösmann: ProjektMensch. Anthropologischer Diskurs und Moderneproblematik bei Friedrich Schiller. (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 30) Würzburg: Königshausen & Neumann 2005. 282 S. Kartoniert. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 3-8260-3234-9.
  • Michael Hofmann / Jörn Rüsen / Mirjam Springer (Hg.): Schiller und die Geschichte. München: Wilhelm Fink 2006. 260 S. Kartoniert. EUR (D) 19,90.
    ISBN: 3-7705-4280-0.
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2005 war nicht nur ein Schiller-, sondern auch ein Einsteinjahr. Wenn mit dieser Aussage die Bedeutung des Dichters zugunsten des Naturwissenschaftlers relativiert wurde, waren zugleich zwei implizite Bezugsebenen angesprochen, die im folgenden anhand von aktuellen Schiller-Publikationen zu verfolgen sind: Schiller und die Natur sowie Schiller und die Geschichte. Denn zum einen konnte die dezidierte Fokussierung auf Einstein eine bewußte Distanznahme gegenüber einem als nur ›schöngeistig‹ verstandenen Schiller markieren, sofern in dieser Reduktion Schillers bildungsgeschichtliche Verwurzelung im Bereich der Medizin und Anthropologie unberücksichtigt blieb. Zum anderen wurde mit dem Gedenken des 200. bzw. 50. Todesjahrs das historische Bewußtsein geschärft, das sowohl nach der geschichtlichen Distanz als auch nach der spezifischen Aktualität beider Denker fragen ließ.

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Die Perspektiven auf Natur und Geschichte sowie ihr Aussagewert und ihre Geltung für die Moderne sollen anhand der Sammelbände (1) Schiller und die Geschichte (2006), (2) Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen (2006) sowie anhand der Würzburger Dissertation (3) ProjektMensch. Anthropologischer Diskurs und Moderneproblematik bei Friedrich Schiller (2005) vorgestellt werden.

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1. Schiller und die Geschichte

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Was den Historiker Schiller angeht, so ist dieser heute längst kein Unbekannter mehr. 1 Ist es daher überhaupt noch sinnvoll, die Problemstellung Schiller und die Geschichte erneut in einem Sammelband zu thematisieren? Die eindeutige Bejahung dieser Frage wird in der Einleitung des gleichnamigen Sammelbandes mit dem Argument begründet, daß »die Bedeutung der Historie auch für die ästhetischen Abhandlungen und die späten Dramen […] erst in den letzten Jahren in eindrücklicher Weise in das Bewusstsein der Forschung getreten« (S. 7) ist. Wenngleich diese Behauptung insbesondere für die »späten Dramen« Schillers zu relativieren sein dürfte, eröffnet der Hinweis auf den ›linguistic turn‹ der Geschichtswissenschaft durchaus die Möglichkeit einer Neubewertung von Schillers historiographischen Texten. Denn die Einsicht in die narrative Strukturierung geschichtlicher Darstellung macht ihre textuelle Verfaßtheit analysierbar und ihre Konstruktions- und Kompositionsprinzipien sichtbar. Zwar gibt es in bezug auf Schiller dazu bereits fundierte Vorarbeiten, wie in der Einleitung unter Rekurs auf die Dissertationen von Daniel Fulda und Thomas Prüfer dargelegt wird (vgl. S. 8 f.). 2 Doch bieten die Einzelbeiträge des Sammelbandes ein wesentlich breiteres Diskursfeld, wenn beispielsweise sogar die Schiller-Rezeption in Indien Berücksichtigung findet (vgl. S. 157–167).

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Obgleich der Sammelband eine Einteilung in Sektionen vermeidet, lassen sich vier thematische Schwerpunkte ausmachen: 1) Die Aktualität von Schillers Geschichtsdenken, 2) Die Aufarbeitung der Rezeptionsgeschichte von Schillers historiographischen Schriften, 3) Schillers Geschichtsdarstellung und sein Verhältnis zur Zeitgeschichte und 4) Formationen von Historie in Schillers literarischem Werk.

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1.1 Die Aktualität von Schillers Geschichtsdenken

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Schon der Eröffnungsbeitrag von Jörn Rüsen führt direkt zu der Fragestellung, inwieweit Schillers Geschichtsdenken überhaupt noch Aktualität beanspruchen dürfe. Die vorläufige Antwort ist jedoch ernüchternd: Offenbar gar nicht. Rüsens Erläuterung dieser radikalen Diagnose gründet auf vier Kriterien, mit denen er ein »modernes Geschichtsdenken« (S. 15) charakterisiert, an dessen Ursprung Schiller stehe. Es zeichne sich aus durch: a) die erstmalige Erfassung eines zeitlich indizierten Erfahrungsfeldes der menschlichen Welt, b) die Begriffskonstitution von ›Geschichte‹ als Dauer ständiger Veränderung mit einer konkreten Zukunftsrichtung, c) die Präsentation von Ganzheit aufgrund der – in Schillers Terminologie – Transformation des ›Aggregats‹ zum ›System‹ 3 und d) seine dezidiert humanistische Grundierung.

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Doch diese vier Aspekte »stehen heute zur Disposition« (S. 18). Gegenwärtig könne weder von einer universalistischen Ausrichtung auf ›die‹ Geschichte gesprochen werden, noch lasse sich die Auffassung von einem der Menschheitsgeschichte inhärenten teleologischen Entwicklungsprozeß ernsthaft vertreten. Auch werde der einstmals ganzheitliche Blick nun »durch die Analyse symbolischer Repräsentationsleistungen verdeckt« (S. 20), sei das Konzept des Humanismus vor allem durch die Positionen Heideggers und Sloterdijks obsolet geworden. Wie aber ist Schiller als ein Impulsgeber für ein postmodernes historisches Denken zu retten?

[9] 

Nach Rüsen bietet die Reaktivierung eines inklusiv verstandenen Modells der Universalgeschichte immerhin die Chance, »das Eigene im Anderen ausmachen und anerkennen« (S. 21) zu können. Solle sich das historische Denken wieder auf den Menschen zubewegen, müsse es nach den traumatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit der Utopie eines neuen Humanismus einhergehen. Mit dieser Zielrichtung wird der teleologische Gedanke implizit wieder eingeholt, nun aber unter der Prämisse, daß seine Motivationskraft das »Feuer der Geschichte« (S. 13) ausmache. An diesem Punkt trifft sich Rüsen mit den Überlegungen von Johannes Rohbeck, der sich den geschichtsphilosophischen Implementen von Schillers Antrittsvorlesung widmet und letztlich gleichfalls behauptet, daß es sinnvoll sei, »das Konzept der Universalgeschichte oder Weltgeschichte zu aktualisieren« (S. 90). Programmatisch beschwört er das teleologische Denken, um die »Rehabilitierung einer politischen Vernunft« (S. 92) zu forcieren.

[10] 

Während Rohbeck mit diesem Vorstoß den Herausforderungen der Globalisierung begegnen zu können glaubt, stellt Paul Michael Lützeler heraus, wie intensiv sich dagegen die Europa-Zentrierung in Schillers Werk verfolgen läßt. Unter Rekurs auf die Rede vom »Gleichgewicht der Macht« 4 sieht Lützeler mit Schiller im »Gesetz des Equilibriums der Mächte« (S. 42) die entscheidende Voraussetzung für eine friedliche Koexistenz verschiedener Nationen. »Vieles« von dem, so resümiert er, »was Schiller über das europäische Gleichgewicht schrieb, gilt heute analog für die Weltsituation« (S. 43).

[11] 

Zugleich macht Lützeler deutlich, inwiefern historisches Denken einerseits und dramatische Praxis andererseits ineinanderspielen. Der frühe Aufsatz Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon etwa beinhalte nicht nur die Opposition von spartanischer Tyrannei und athenischer Demokratie, sondern expliziere darüber hinaus eine grundlegende Verfassungsdiskussion, die ihrerseits »die Folie für das Pro und Contra der verhandelten Positionen« im »Fiesko, Dom Karlos und Wilhelm Tell« (S. 30) abgäbe. Doch so sehr diese Binnenverweise Schillers historiographische und literarische Schriften auch zusammenführen, in diesem Fall bleibt die Interdependenz zweifelhaft. Denn während der Fiesko und der Dom Karlos bereits 1783 und 1787 erscheinen, wird der genannte Aufsatz erst 1790 in Schillers Thalia veröffentlicht.

[12] 

1.2 Die Rezeptionsgeschichte von Schillers
historiographischen Schriften

[13] 

Daß die Darstellungen, welche die geschichtliche Relativität von Schillers Positionen zu erweisen suchen, ihrerseits historisch einzuordnen sind, bildet die methodische Voraussetzung der Beiträge von Horst Walter Blanke und Hans Schleier. Beide Autoren bieten jeweils einen umfassenden und sachkundigen Überblick über die Entwicklungstendenzen der wissenschaftlichen Rezeptionsgeschichte von Schillers historiographischen Schriften. Dabei kommt es zweifellos zu Akzentverlagerungen: Während Blanke eine achtstufige Periodisierung der Forschungsgeschichte vornimmt (vgl. S. 111–122), berücksichtigt Schleier auch bedeutsame Werturteile der europäischen Geschichtswissenschaft. Dennoch ist es ihnen gemeinsam, die Entwicklungslinien bis zu den aktuell einschlägigen Forschungsbeiträgen zu verfolgen. Neben den Dissertationen von Daniel Fulda und Thomas Prüfer, die nochmals eine kritische Würdigung erfahren (vgl. S. 120–122, 152–155), wird auch die in der Einleitung des Sammelbandes übergangene, jedoch in diesem Zusammenhang gleichfalls wahrzunehmende Dissertation von Johannes Süßmann behandelt. 5 Schließlich aber sieht Blanke noch durchaus wissenschaftlichen Ergänzungsbedarf, wenn er am Ende unter anderem das Desiderat formuliert: »Es gibt nach wie vor keinen Versuch, alle wichtigen Aspekte des Themas ›Schiller als Historiker‹ systematisch, d.h. in ihren wechselseitigen Bezügen zu erforschen und darzustellen« (S. 123).

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1.3 Schillers Geschichtsdarstellung
und sein Verhältnis zur Zeitgeschichte

[15] 

Die mit Blankes abschließenden Ausführungen einhergehende Forderung nach genauer Textlektüre findet sich in dem Beitrag von Johannes Süßmann mustergültig erfüllt. Indem er den Akzent gerade nicht auf jene Texte legt, die Schillers Geschichtsdenken nach bisheriger Meinung in unmißverständlicher Weise explizieren, kann er vielmehr Schillers »Revolution der historiographischen Darstellung« (S. 45) kennzeichnen, die in dessen evokativ-anschaulichem Denken liege. Denn überall dort, wo Schiller geschichtstheoretische Argumentationen entfaltet, handele es sich um »programmatische Texte« (S. 48), denen konkrete Wirkungsintentionen eingeschrieben seien. Insbesondere die Briefe müßten als »in höchstem Maße situationsgebunden und rhetorisch« (ebd.) verfaßt bewertet werden. Vordergründig steht diese Aussage in auffallendem Widerspruch zu Schleiers reichlich unkritischer Bemerkung über einige Briefzitate Schillers: »Was für unverstellte Bekenntnisse!« (S. 125) Hintergründig stellt sich die Frage, ob Süßmann – der eine fundierte Quellenkritik, nicht aber eine Entwertung von Schillers geschichtstheoretischen Überlegungen leisten will (vgl. S. 49) – nicht doch zu kritizistisch verfährt: Gewiß sind Schillers Briefe situationsgebunden, und gewiß sind sie auch adressatenbezogen stilisiert, doch relativieren diese Einschränkungen die geschichtstheoretischen Aussagen zumeist nur in sehr bedingtem Maß.

[16] 

Der eigentliche Gehalt von Süßmanns Beitrag liegt aber in der Ausstellung jenes evokativ-anschaulichen Denkens, das er anhand einer exemplarischen Untersuchung der Geschichte des Abfalls der Niederlande herausarbeitet. Dazu bedient er sich der Mittel der literaturwissenschaftlichen Erzähltextanalyse, um die Aufmerksamkeit schließlich auf die »Parabel vom Entstehen und Scheitern der Geusenverschwörung« (S. 61) zu lenken. Durch diese Parabelform habe Schiller einen historischen Sachverhalt zur Darstellung gebracht, »der begrifflich-analytisch, also auch geschichtstheoretisch, nicht oder nur negativ auszudrücken ist« (S. 66). Mit seiner neuartigen Annäherung an Schillers Geschichtsdenken kommt Süßmann dem programmatischen Anspruch des Sammelbandes am nächsten.

[17] 

Daneben widmen sich Peter Hanns Reill und Michael Hofmann dem Verhältnis, das Schiller zur Zeitgeschichte eingenommen hat. Während Reill die teleologisch strukturierten Geschichtsmodelle Schillers und Herders vergleichend zusammenführt, bezieht sich Hofmann auf Schillers Verhältnis zur Französischen Revolution und auf die Geschichtsauffassung des Spätwerks. Obgleich Hofmann einräumt, daß Peter André-Alt Schillers Haltung zur Französischen Revolution in einer »zutreffende[n] Darstellung« behandelt habe 6 und er, Hofmann, dagegen nur eine »Zusammenfassung« (S. 184, Anm. 4) bieten wolle, stellt sich dennoch die Frage nach dem wissenschaftlichen Ertrag einer solchen »Zusammenfassung«, zumal sich diese eng an Alts Ausführungen orientiert. Gegenüber der Zielrichtung der Ästhetischen Briefe, die den einzelnen für die politische Freiheit »empfänglich« (S. 186) mache, bleibt Hofmann unter Hinweis auf den elitären Charakter dieser Konzeption tendenziell skeptisch. Hätte sich Hofmann erneut auf Alt beziehen wollen, hätte er eine durchaus überzeugende Lesart des politischen Gehalts der Ästhetischen Briefe vorstellen können. 7

[18] 

Schließlich knüpft Hofmann die Geschichtsauffassung des Spätwerks vor allem an Schillers tragödientheoretisches Modell des Erhabenen, wobei er Schiller zugleich eine Unaufmerksamkeit unterstellt: »immer deutlicher« erkenne der Leser »eine Antinomie zwischen dem Schönen und dem Erhabenen, und auch wenn Schiller es nicht wahrhaben will, so stehen wir doch vor der Notwendigkeit, uns zwischen einem Versöhnungs- und einem Konfliktmodell zu entscheiden« (S. 187). Problematisch an dieser Behauptung ist nur, daß sich Schiller durchaus im klaren darüber ist, eine – um mit Carsten Zelle zu sprechen – ›doppelte Ästhetik der Moderne‹ formuliert zu haben: In seinem Essay Ueber naive und sentimentalische Dichtung wird die ›energische Schönheit‹ (das Erhabene) der Tragödie und die ›schmelzende Schönheit‹ (das Schöne) der Komödie zugeordnet. 8 Das wiederum ist die Voraussetzung für eine geschichtsphilosophische Stufung von Erhabenem und Schönem, wie es Schiller im Brief vom 26. Juli 1800 an Johann Wilhelm Süvern andeutet. 9 Daraus folgt, daß Schiller die »Notwendigkeit«, sich »zwischen einem Versöhnungs- und einem Konfliktmodell zu entscheiden«, zweifellos bewußt gewesen ist.

[19] 

1.4 Formationen von Historie
in Schillers literarischem Werk

[20] 

In einer letzten Hinsicht kommt das literarische Werk selbst in den Blick. Dabei glaubt Eelco Runia anhand der Räuber eine Deutungsmöglichkeit gefunden zu haben, die sich sowohl für die Beschreibung erhabenen Handelns als auch für das Verständnis eines als offen gedachten Geschichtsverlaufs eigne. »The awesome openness of what lies ahead, the void before you the moment you have burnt the ships behind you, is, I think, the veritable sublime moment« (S. 99). Von dem ahistorischen Begriff des Erhabenen einmal abgesehen, bleibt der operationale Gehalt dieses Moments der ›Schwebe‹ hochgradig fragwürdig. Mit Perspektive auf die Räuber heißt es: »Karl and Franz […] do not in the least know where they are heading to, they only know – or think they know – what they want to leave behind« (ebd.). Tatsächlich aber wissen Karl und Franz recht gut, worauf sie zusteuern: Während der jüngere Bruder die Alleinherrschaft in der Moorschen Grafschaft übernehmen will, geht es dem älteren Bruder über weite Strecken um die radikale Ausführung egozentrisch motivierter Selbstjustiz. Ein solcher Status des ›Dazwischens‹, wie ihn Runia als Mittelposition von obsolet erklärter Vergangenheit und inhaltlich ungefüllter Zukunft verficht, wäre nicht nur interpretatorisch erst zu konstruieren. Auch bleibt unklar, inwiefern ein solches Moment überhaupt ein Konzept von Geschichte fundieren soll.

[21] 

Claudia Öhlschläger dagegen richtet ihren Fokus auf Schillers anekdotisches Erzählen, in dem wiederholt Aspekte von Geschichtlichkeit thematisiert werden. Beispielhaft wendet sie sich der Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre zu, um die Spezifik der historisch-psychologischen Darstellungsweise aufzuzeigen: »Der Autor plädiert hier in Abgrenzung zur ›gewöhnlichen Behandlung der Geschichte‹ für das Studium der seelischen Hintergründe, die der Handlung eines Menschen vorausgehen« (S. 170). Zwar ist es durchaus korrekt, daß auch der Erzähler Schiller bestrebt ist, »die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen«, 10 jedoch plädiert hier nicht der Autor Schiller, sondern der von Schiller konzipierte Erzähler für die beschriebene Abgrenzung. Es ist demnach zu berücksichtigen, daß es sich bei der Einleitung in die Verbrecher-Erzählung um Rollenrede handelt, die einen prinzipiell anderen Aussagestatus als Schillers geschichtstheoretische Reflexionen besitzt. Dennoch läßt sich im Ergebnis festhalten, daß anhand des anekdotischen Erzählens in »paradigmatischer Form« Schillers »Auseinandersetzung mit den formalen, rhetorischen und narrativen Transformationen historischen Materials« (S. 177) deutlich wird.

[22] 

Schließlich bleiben die Beiträge von Volker C. Dörr, Ingo Breuer und Mirjam Springer anzuführen. Während sich Dörr sowohl aus geschichtlicher als auch aus systematischer Perspektive der seit Aristoteles virulenten Unterscheidung von historischer und poetischer Wahrheit nähert und dazu ausgewählte Dramen Schillers in Beziehung setzt, verfolgt Breuer die Frage, inwiefern das »›moderne‹ Geschichtsdrama als Gedächtnistheater« (S. 209), d.h. als Neu- bzw. Wiedergestaltung konkreter kultureller Wissenszusammenhänge zu verstehen ist. Springer ihrerseits richtet den Blick wieder einmal auf den Demetrius (vgl. S. 226, Anm. 1), mit dem Schillers großes dramenpoetisches Vorhaben an sein Ende gekommen sei: »Der Demetrius ist das Ende der Heldentragödie, in der die Autonomie des Individuums, exemplarisch noch abbildbar war« (S. 230).

[23] 

Den Abschluß des Bandes bildet Daniel Fuldas Beitrag, der aus einer Kombination von Stellungnahme und Entgegnung besteht. Die Stellungnahme bezieht sich auf das Schillerjahr 2005, resümiert einige herausragende Ereignisse und beklagt, daß Schillers »Leistung als Denker und Schreiber der Geschichte nirgends ausgestellt« (S. 245) worden sei, was in dieser Absolutheit inzwischen jedoch zu relativieren ist. 11 Die Entgegnung wiederum gilt dem Schiller-Buch von Dieter Kühn, das sich mit der Geschichte von Schillers Schreibtisch in Buchenwald auf eigenwillige Weise auseinandersetzt. 12 Dabei kritisiert Fulda zu Recht, daß Kühn, statt historische Zusammenhänge oder Kohärenzen aufzuzeigen, es vorzieht, insistent auf die räumliche Nähe zwischen Schillers einstigem Arbeitsumfeld und dem späteren KZ Buchenwald hinzuweisen. Daß damit implizit auch eine geistige Nähe zwischen Schiller und der NS-Ideologie suggeriert wird, gehört zu den unerfreulichen Verirrungen des Schillerjahres 2005.

[24] 

2. Schiller und die Natur

[25] 

Wenn Rüsen im Rahmen seiner oben diskutierten Ausführungen bekennt: »Der von Schiller angesprochene Rekurs auf die Natur ist notwendiger denn je« (S. 20), so ist zu vermerken, daß sich Georg Braungart und Bernhard Greiner mit ihrem Tagungsband Schillers Natur dieser Notwendigkeit bereits gestellt haben. 13 Die darin enthaltenen Beiträge sind in vier Sektionen gegliedert, die folgende Themenbereiche behandeln: 1) Die wechselseitige Durchdringung von ästhetischer und naturwissenschaftlicher Reflexion, 2) Die Natur als Perspektivpunkt von Medizin und Anthropologie, 3) Die ›geistige‹ Beherrschung der Natur und 4) Aspekte von Natur in Schillers literarischem Werk. Trotz dieser Zuordnungen bleibt das inhaltliche Spektrum der Aufsätze stark heterogen, sind tragfähige Binnenkorrespondenzen nur bedingt auszumachen.

[26] 

2.1 Die wechselseitige Durchdringung
von ästhetischer und naturwissenschaftlicher Reflexion

[27] 

Wie die Herausgeber in der Einleitung bekunden, werde der Leser durch die postulierte Balancierung von Sinnlichem und Ideellem, die sowohl Schillers anthropologische als auch seine ästhetische Theorie zentral behauptet, »immer neu irritiert« (S. VI). Was diese Irritation unter anderem erzeugt, stellt der Eröffnungsbeitrag von Joseph Früchtl heraus. Während er Schillers Naturbegriff einerseits im Horizont von aktuellen Moderne- und Postmoderne-Debatten konturiert, liefert er andererseits eine theorienahe Kritik der Zentralformel aus den Kallias-Briefen, derzufolge Schönheit als »Freiheit in der Erscheinung« zu begreifen sei. 14 Früchtl unterstreicht, daß sich Schönheit nur auf eine scheinbare Freiheit beziehen kann, da Freiheit nach Kantischer Argumentation allein dem Bereich des Intelligiblen zugeordnet ist. Indem Schiller aber über Kants Subjektivismus hinauszugehen bestrebt ist, könne dies nur noch »durch rhetorische Subreption« (S. 10), also durch einen philosophischen Erschleichungsfehler ›gelingen‹. John A. McCarthy hingegen widmet sich Schillers ästhetischem Ideal der Anmut, das er – unter anderem vor dem Hintergrund vorausliegender Ausführungen in Schillers Philosophischen Briefen (vgl. S. 27 f.) – nicht nur in eine enge Beziehung zu der Bewegungslehre des ausgehenden 18. Jahrhunderts setzt, sondern auch um spezifische Parallelen zur Gravitationslehre Kants erweitert.

[28] 

Steffen Schneiders Beitrag schließlich zielt in eine prinzipiell andere Richtung: Ihm geht es um die ideengeschichtliche Verbindung, die zwischen Schillers Kritik der Bukolik in Ueber naive und sentimentalische Dichtung und der Renaissancebukolik selbst bestehe, exemplarisch vorgestellt anhand von Jacopo Sannazaros Arcadia. Im Ergebnis erkennt Schneider einen parallel funktionalisierten Argumentationsmodus, den noch Schiller fortsetze: die »bukolische ›Denkfigur‹« (S. 54). Denn wenn Sannazaro an der Herstellung der ästhetischen Ordnung mittels Bezugnahme auf eine »verlorene Idee« (S. 53) gelegen ist, bestimmt Schiller das Sentimentalische als Annäherungsprozeß an ein verlorenes, ursprünglich harmonisches Naturverhältnis. 15

[29] 

2.2 Die Natur als Perspektivpunkt von
Medizin und Anthropologie

[30] 

Obgleich Schillers Frühwerk der Tendenz nach am ehesten mit den Themengebieten Medizin und Anthropologie in Verbindung steht, greifen die Beiträge dieser Sektion zum überwiegenden Teil auf das Gesamtwerk aus. Schon Dietrich von Engelhardt befaßt sich nicht nur mit Schillers andauernden Selbstwahrnehmungen der eigenen Krankheiten, sondern verortet sie auch im Rahmen des Pathologie- und Therapie-Diskurses um 1800. Ludwig Stockinger seinerseits setzt mit einem Zitat aus dem Spätwerk ein, genauer mit dem berühmten Wallenstein-Vers: »Es ist der Geist, der sich den Körper baut«. 16 Dabei kennzeichnet er es nicht nur als versteckte Referenz auf den Animismus des Mediziners Georg Ernst Stahl (vgl. S. 80). Vielmehr ist Stockinger, von diesem Zitat ausgehend, daran interessiert, das von ihm als »Anthropologie avant la lettre« (S. 77) beschriebene Diskursfeld der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als einen wichtigen theoretischen Bezugspunkt für Schillers anthropologisches Denken zu würdigen.

[31] 

Der substantielle Zusammenhang zwischen Schillers anthropologischem Modellentwurf und seiner dramatischen Figurengestaltung, die wiederholt leibseelische Interdependenzen ausstellt, ist vor allem anhand der Räuber in den letzten Jahren verstärkt betont worden. 17 Indem Lutz-Henning Pietsch unter Rekurs auf Robert Petsch die Verhaltenstypik der Dramenfiguren als eine »umschlägliche« (S. 87) charakterisieren kann, 18 vermag er jenes anthropologisch-poetische Zusammenspiel um den instruktiven Aspekt einer Theorie der Aufmerksamkeit zu erweitern. Der Dramatiker Schiller habe es »darauf abgesehen, an der ›Umschläglichkeit‹ der Aufmerksamkeitslenkung seiner Helden ihr prekäres Schwanken zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, zwischen energisch behaupteter und durch die affizierende Gewalt äußerer Eindrücke in Frage gestellter Entscheidungsfreiheit vorzuführen« (S. 95). Während sich Barbara Mahlmann-Bauer gleichfalls auf die Figurenebene konzentriert, indem sie die Psychopathologie des Tyrannen Demetrius behandelt, setzt sich Jörg Robert anhand der Matthison-Rezension mit Schillers »assoziationspsychologisch fundierte[r] Theorie der Naturlyrik« (S. XI) auseinander.

[32] 

2.3 Die ›geistige‹ Beherrschung der Natur

[33] 

Diese Sektion wird von dem originellen Beitrag Georg Braungarts eingeleitet, der Schillers Theorie des Erhabenen mit dem Themenfeld der zeitgenössischen Geologie kombiniert. Obwohl vorauszusetzen ist, daß sich »zwischen etwa 1750 und 1830 […] geradezu eine Symbiose der Geologie mit dem Konzept des Erhabenen einstellt« (S. 159), verfolgt Braungart ein ungewöhnliches Erweisziel: Der Einfluß dieser »Symbiose«, der »für Schillers Naturverständnis hätte prägend sein können, ja müssen« (ebd.), erfolgte, so die Kernaussage, gerade nicht. Zwar etablieren naturkundliche Autoren neben Kants und Schillers Formationen des Erhabenen das »Geologisch-Erhabene« als eine »dritte Variante« (S. 166) dieser ästhetischen Kategorie, dennoch muß Braungart einräumen, wie wenig Schiller an ihr – etwa im Gegensatz zu Goethe (vgl. S. 169 f.) – gelegen ist. Indem die »Verständnislosigkeit Schillers gegenüber dem Steinreich« (S. 172) expliziert wird, kommt zur Sprache, was Schiller dezidiert nicht entwickelt hat: »ein genuines Interesse für die neuere Naturforschung« (S. 176).

[34] 

Daß sich die ›geistige‹ Beherrschung der Natur immer schon im Darstellungsmodus der Natur selbst ausdrückt, stellt Helmut Koopmann heraus, der den dämonischen Gehalt von Schillers Naturauffassung konturiert. Während die Naturbilder, die Koopmann vor allem der Jugendlyrik entnimmt, bis in die späten 1780er Jahre das Potential des Schrecklichen und Zerstörerischen entfalten, vollzieht sich mit der Schrift Über das Erhabene ein tiefgreifender Wandel (vgl. S. 185): Plötzlich figuriert die Natur als »gesetzlose[s] Chaos von Erscheinungen«. 19 Diese »Naturmisere« (ebd.) verdeutliche nicht nur Schillers Absage an einen enthusiastisch verstandenen Aufklärungsoptimismus und an eine universalgeschichtlichen Zusammenhalt stiftende chain of being, sondern artikuliere zugleich Schillers späten Geschichtspessimismus.

[35] 

Aus dem Gebiet der chaotischen Natur führt die Thematik in den Raum ästhetisch vermittelter Naturgewalt. Dabei formuliert Bernhard Greiner eine grundsätzliche Infragestellung des Erhabenheits-Konzepts: Durch die Transformation ins Medium des Künstlerischen, durch diese ästhetische »Bewältigungsordnung« (S. 192) könne die Naturgewalt prinzipiell kein erhabenes Wirkungspotential entfalten. 20 Doch der Einspruch gegen die von Schiller postulierte Wirkungsmechanik wird im Kern vielmehr als eine Bezugnahme auf die Bewertung der illusionsbildenden Kraft theatraler Vorstellung erkennbar. Im Anschluß an seine Kritik beschreibt Greiner eine »Poetik der Unterbrechung« (S. 198), die – hier am Beispiel der Jungfrau von Orleans – der unterdrückten Natur zu prägnantem Durchbruch verhelfe. Zudem wird die Beziehung zwischen Johanna und Lionel um intertextuelle Referenzen auf die Tankred-Chlorinde-Konstellation aus Tassos Gerusalemme Liberata ergänzt (vgl. S. 202–204).

[36] 

2.4 Aspekte von Natur
in Schillers literarischem Werk

[37] 

Während Günter Oesterle sich in dieser Sektion den »Exaltationen der Natur« (S. 209) am Beispiel von Schillers Semele zuwendet und Dorothea von Mücke eine »Entzauberte Natur« (S. 221) in der Klage der Ceres entdeckt, behandelt Klaus-Detlef Müller »Natur und Unnatur in Schillers Dramatik« (S. 233). Obwohl die Bezeichnung »Unnatur« zunächst das abfällige Werturteil Goethes über Kleists Käthchen von Heilbronn aufruft, 21 wird der Begriff von Müller anfangs spezifischer bestimmt. Denn in jenen Dramen, die gezielt Konflikte mit der Vaterwelt exponieren, erscheint »die gestörte Vaterwelt […] toposhaft« als »Sinnbild für die Verfehlung der menschlichen Bestimmung und damit für die Unnatur in der geschichtlichen Welt« (S. 235).

[38] 

Diese »Unnatur der geschichtlichen Welt« sieht Müller zudem exemplarisch in der Jungfrau von Orleans verwirklicht, der er ein triadisches geschichtsphilosophisches Stufenmodell unterlegt. Ausgehend von ihrer »arkadisch-natürliche[n] Existenzform« (S. 238) habe sich Johanna zwar im 100jährigen Krieg zu bewähren, der als signifikante Ausprägung jener »Unnatur der geschichtlichen Welt« aufgefaßt wird, könne aber mit ihrer Schlußvision auf eine natürlich-friedliche Existenzform der Gemeinschaft vorausweisen. Problematisch bleibt, daß »der Vorwurf der Unnatur nicht auf Johanna« (S. 237) selbst zurückfallen solle. Denn schon eingangs gewinnt ihre Exzeptionalität in der Ambivalenz von Heiliger und Hexe markante Geltung, die sich im Verlauf der Kriegshandlung zu einer Exzeptionalität anderer Art verschiebt: Dort tritt sie – um mit Karl S. Guthke zu sprechen – als »Amazone mit Christuskomplex« in Aktion. 22 Unter Ausgriff auch auf den Wilhelm Tell kann dennoch als Ergebnis konstatiert werden, daß Schiller die Natur »letztlich« als »ein ethisch bestimmtes Konzept« (S. 244) ansieht, das eine Übereinstimmung mit der philosophisch geforderten menschlichen Bestimmung bzw. mit der theologisch begründeten göttlichen Ordnung zum Inhalt hat.

[39] 

Den Abschluß des Bandes bilden die Beiträge von Philippe Wellnitz und Peter André Bloch, die Schillers Maria Stuart und seinen Wilhelm Tell in den Vordergrund rücken. Indem sich Wellnitz gegen eine traditionelle Lesart des Königinnendramas wendet, in der die Regentinnen schematisch als bußfertige Sünderin einerseits und als kalkulierendes Machtweib andererseits aufgefaßt werden, kann er herausarbeiten, daß beide Frauen als »Machtfiguren« (S. 247) auftreten, da sie »privatissime ihrer Lust« und damit ihrer Natur »freien Ausdruck« (S. 250) geben. Bloch dagegen geht es um den emanzipatorischen Gehalt von Schillers Schauspiel, dessen zentrale Aussage in der Ausbildung von individueller Selbstverantwortung liege, die ihrerseits in den Horizont einer konkreten Vorstellung von Staatlichkeit einbezogen ist.

[40] 

3. Schiller und die Moderne

[41] 

Wenn Geschichte und Natur bisher als isolierte Hinsichten auf das Werk Schillers in den Blick gekommen sind, finden sie ihre Verbindung in der Dissertation ProjektMensch von Holger Bösmann. Daß sich die Arbeit als eine ebenso ambitionierte wie gelehrte zu erkennen gibt, machen 1) der Darstellungsstil und 2) die Themenstellung deutlich.

[42] 

3.1 Das ›Isieren‹ als Distanzmittel

[43] 

Die anspruchsvolle Präsentationsform, die überwiegend abstrakte und komplexe Reflexionszusammenhänge vorstellt, zwingt den Leser zu starker Konzentration. Dabei läßt Bösmann nicht nur eine innige Vertrautheit mit Diskurs- und Systemtheorie erkennen, sondern setzt eine ebensolche Vorbildung auch auf Seiten des Lesers voraus, wenn er etwa in der Einleitung die Termini »énoncé« und »énonciation« (S. 12) ohne weitere Erläuterung gebraucht. Überdies ist das Schlagwort ›diskursiv‹ – in unterschiedlichen Variationen – auf nahezu jeder Seite zu entdecken; auch kommt es zu einer bisweilen strapazierenden Häufung ›-isierender‹ Begriffe. Da heißt es etwa: »Zudem finden sich einige der dort diskursivierten Komplexe auch im Wallenstein und im Demetrius thematisiert: Das Temporisieren Wallensteins […]« (S. 192, Anm. 683). Die gezielte Verwendung eines betont auf Abstraktionen setzenden Darstellungsstils bildet zwar keinen prinzipiellen Mangel, zeigt aber an, daß sich die Arbeit einer leichten Eingängigkeit bewußt verschließt.

[44] 

3.2 Anthropologischer Diskurs
und Moderneproblematik

[45] 

Ausgangspunkt ist, daß in der anthropologischen Diskussion des commercium-Problems zwei bedeutsame Denkfiguren aufgegriffen werden: »erstens die des postulierten Ausgleichs als Ausdruck einer natürlichen Ordnung und zweitens die des Influxionismus« (S. 27). Damit ist zum einen die wechselseitige Durchdringung zweier Substanzen behauptet, zum anderen aber zugleich ihre Balancierung durch das Moment des Ausgleichs gefordert. Bösmann verfolgt zunächst, auf welchen Ebenen diese Fokussierung auf einen solchen Mittelzustand auszumachen ist. Dabei kommt sowohl die Behauptung einer Mittelkraft aus Schillers dritter medizinischer Dissertation als auch der in den theaterästhetischen Schriften postulierte Mittelzustand des Zuschauers als auch jene »Mittellinie der Wahrheit« (S. 47) in den Blick, die das erzählerische Werk charakterisiert.

[46] 

Verstanden als Strukturmodell einer natürlichen Ordnung können Abweichungen herausgestellt werden, in denen sich signifikante Vereinseitigungen kristallisieren. Als zentralen Bezugsraum solcher Vereinseitigungen benennt Bösmann die Politik: Gerade durch das anthropologische Gegenmodell, das sich auf die Natur und die in ihr bestehende Harmonie berufe, werde eine implizite Machtkritik ausgeübt.

[47] 
Durch die Störung der zwischenmenschlichen Beziehungen findet eine Politisierung auf der Konfliktebene der Dramen statt, die Verletzung der Ordnung als ein von den Figuren artikuliertes Ungleichgewicht innerhalb der sozialen Strukturen benennt das Gleichgewicht und die Harmonie der Natur als positiven Zustand, der verlorengegangen ist und den es wiederherzustellen gilt. (S. 59)
[48] 

Das lenkt am Beispiel der Räuber und des Fiesko aber auch zu der Behauptung, daß Schiller Figuren vorführe, die »durch die despotischen, interessegeleiteten Machtordnungen keine Freiheit erfahren können, welche sich durch die ungestörte Harmonie des commerciums repräsentieren würde« (S. 66). Das ist zwar modellintern zutreffend argumentiert, nur bleibt damit unausgesprochen, daß diese Figuren durchaus auch individuelle Freiheitsvorstellungen entfalten: nicht auf eine natürliche Ordnung, dafür aber auf konkrete Machtstrategien hin ausgerichtet. Im Resultat ist dennoch festzuhalten: »Kann die Anthropologie der philosophischen Ärzte eine richtige Sozialstruktur im commercium mentis et corporis repräsentiert finden, so stellen die Dramenfiguren Schillers dessen Störungen aus« (S. 70).

[49] 

Mit Schillers Geschichtsdenken gerät die bisherige Betrachtungsweise in ein dialektisches Verhältnis, da das synchrone anthropologische Modell mit der diachron angelegten Geschichtsphilosophie in eine spannungsvolle Beziehung tritt (vgl. S. 85). Obgleich die »Herbeiführung eines Zustandes der Ausgewogenheit« (S. 91) als fernes Ziel der geschichtsteleologischen Entwicklung formuliert wird, bedarf die Geschichte wiederholter Abweichungen von der Struktur der natürlichen Ordnung, um eine Entwicklungsdynamik des historischen Verlaufs zu begründen (S. 94). Die von Schiller angezeigte Zukunftsorientierung auf ein harmonisches Gesellschaftsmodell bildet die umfassende Perspektive, in der das progressive Erziehungspotential der Kunst seine Wirkung für den einzelnen entfaltet. Die Leistung der Kunst bestehe nun darin, »den Menschen in seiner Idealform als ganzer Mensch zu simulieren« (S. 163). Unklar bleibt jedoch die von Bösmann gezogene Konsequenz, derzufolge das Konzept der ›schmelzenden Schönheit‹ »nicht auf einen realen Körper« bezogen werde, da es »die selbstgezogenen Grenzen zur Realität nicht überschreite[ ]« (S. 165). Schiller jedoch beabsichtigt vielmehr das Gegenteil: Denn die ›schmelzende Schönheit‹ bezieht sich ausdrücklich auf den realen Körper sowie auf den realen Intellekt des Rezipienten, um durch die ästhetische Erfahrung das Erlebnis menschlicher ›Ganzheit‹ zu vermitteln.

[50] 

Im dritten Teil der Arbeit, der auf das Konzept des Erhabenen ausgreift, gerät das sich herausbildende oppositionale Verhältnis von Kunst und Natur, das als ein explizit modernes bestimmt wird, in den Vordergrund (vgl. S. 178). Diese gegenstrebige Beziehung hat wiederum Konsequenzen für die Figurengestaltung. »Seine Individualität gewinnt das Subjekt in modernen Gesellschaften nicht mehr über die genaue Verortung in diesen, d.h. durch Inklusion, sondern durch seine Exklusion« (S. 191). Exemplarisch werden der Wallenstein, der Wilhelm Tell und der Demetrius analysiert, um die sich unter der formulierten Prämisse vollziehende Subjektkonstitution zu verfolgen.

[51] 

Die Wallenstein-Trilogie entfaltet literarisch jene »Wende zum Subjekt« (S. 196), die Schillers Essay Ueber naive und sentimentalische Dichtung bereits vollzogen hatte. Während der Wallenstein-Prolog den Zusammenbruch der politischen Ordnung als »Kampf gewaltiger Naturen« beschreibt 23 – womit Schiller die chaotische Naturzeichnung des Erhabenheits-Konzepts metaphorisch aufruft –, avanciere die Figur des Wallenstein zu einem »Symbol für die Schwierigkeit, Entscheidungen des Subjekts zu fundieren« (S. 195). Obgleich die Soldaten das Kriegsgeschehen noch als Repräsentationsraum einer natürlichen Ordnung auffassen, wird diese Wahrnehmung vom politischen Kalkül und von den Machstrategien der Offiziere kontrastiert. »Der Glaube, den Krieg als Raum einer harmonischen Natur von der Politik abzusetzen, erweist sich als Schimäre, denn auch er ist von Politik durchdrungen« (S. 205). Schillers Tragik, die im »Dilemma des Subjekts« bestehe, »als Handlungs- und Verantwortungsträger der Geschichte« (S. 219) agieren zu müssen, veranschauliche die Figur des Wallenstein daher paradigmatisch: Zwar meint er, Maximen zu folgen, die sich aus der natürlichen Ordnung ableiten lassen, doch ist diese längst durch die politische Strukturierung des Handlungsraumes substituiert worden.

[52] 

Bösmann setzt hinzu, daß Schillers späte Dramen, insbesondere der Wilhelm Tell und der Demetrius, die manifeste Differenz von Subjekt und Umwelt verschärfen. Indem »hergebrachte Ordnungskategorien wegfallen« (S. 228), rückt die Selbstbezogenheit des Individuums in den Vordergrund. Zu Recht akzentuiert Bösmann den Aspekt des Gesellschaftlichen, der im Wilhelm Tell insofern eigenes Gewicht erlangt, als die Titelfigur über die Gemeinschaft zu politischem Handeln genötigt wird. Aufgrund der umfassenden ›Politisierung der Natur‹ (S. 230) sei die Ermordung Geßlers nicht mehr als eine Form der »natürlichen Notwehr« (S. 243) zu rechtfertigen. »Darin liegt das Tragische begründet: Tell kann sich der Politik nicht entziehen – der Wilhelm Tell führt folglich die Tragödie des modernen Subjekts vor, das sich in der unvermeidlichen Auseinandersetzung mit seiner Umwelt als solches erkennt und dabei in der Verantwortung für sein Handeln auf sich selbst zurückgewiesen bleibt« (S. 246). Im Demetrius, dem die letzte knappe Analyse gewidmet ist, radikalisiere sich diese Dichotomie noch einmal und treibe die Spaltung von Subjekt und öffentlichem Erscheinungsbild hervor (S. 247). Damit ist eine Ambivalenz in der habituellen Disposition festgestellt, die im Rahmen der höfischen Sphäre auch als Dopplung von privater und öffentlicher Rolle, als Phänomen der ›two bodies of king‹ benannt werden könnte. 24

[53] 

4. Resümee

[54] 

Obwohl man erst seit Einstein um die Existenz einer vierten Dimension, nämlich der Zeit, weiß, hat auch der dreidimensional aufgefaßte Schiller einiges an Unbekanntem zu bieten. Bereits die Perspektiven auf sein Geschichtsdenken, die der Sammelband Schiller und die Geschichte entfaltet, stellen durchaus neue Facetten des Historikers und Historiographen Schiller heraus. Sowohl die differenzierte Analyse seiner geschichtlichen Darstellungen in bezug auf deren erzählerische Komposition als auch die Befragung fiktionaler Texte auf ihren geschichtstheoretischen Gehalt hin erweitern das bisherige Bild vom Historiker Schiller signifikant. Trotz einiger Beiträge, die von Kernfragen der Schillerforschung abweichen, kann für den Sammelband Schillers Natur Ähnliches behauptet werden. Aus dem vielgestaltigen Spektrum sind einerseits die Konkretisierungen von Schillers Naturbegriff im Horizont von zeitgenössischer Medizin und Anthropologie hervorzuheben. Gleichfalls kommen Schillers ästhetische Transformationsstrategien zur Sprache, mit denen Natur theoretisch ›bewältigt‹ wird bzw. Natur literarisch – auch in der Ausprägung von ›Unnatur‹ – zur Darstellung gelangt.

[55] 

In der Dissertation von Holger Bösmann werden die Aspekte ›Natur‹ und ›Geschichte‹ zusammengeführt, jedoch in eine universaler ausgerichtete Fragestellung integriert. Zentral geht es um das systematische Problem, inwiefern das aus dem zeitgenössischen Anthropologie-Diskurs geläufige commercium-Problem, verstanden als Modell einer natürlichen Ordnung, als Bezugssystem für Schillers Gesamtwerk begriffen werden kann. Aufgezeigt wird eine Entwicklung, die jene natürliche Ordnung zwar als Strukturmoment der Frühschriften beschreibt, in deren Folge sich jedoch ein Spannungsverhältnis mit der geschichtlichen Verlaufsdynamik herausbildet. Denn da der Handlungsraum des Politischen dem Modell der natürlichen Ordnung entgegengestellt wird, bleiben historische Progressionsbewegungen nur über die Abweichungen von diesem Modell erklärbar. Der radikale Bruch mit dieser Bezugsordnung bahnt sich in den theoretischen Essays der 1790er Jahre an und gewinnt markantere Kontur in der Erhabenheits-Ästhetik, die Schillers dramatisches Spätwerk fundiert: Die grundsätzliche Differenz von Subjekt und Umwelt besitzt hier strukturbildende Kraft.

[56] 

Obgleich die anspruchsvolle Darstellung anhand des theoretischen Bezugsmodells der natürlichen Ordnung eine prinzipielle gedankliche Verschiebung im Gesamtwerk Schillers nachzeichnet, bleibt am Ende doch die Frage, inwieweit die These einer solchen strukturellen Bewegung auf allen Ebenen überzeugt. Gewiß ist mit Bösmanns Ergebnis, demzufolge Subjekt und Umwelt nahezu diametral gegeneinandergesetzt werden, Schillers dezidierte Modernetauglichkeit erwiesen. Wenn aber beispielsweise im politisch grundierten Fiesko das Modell der natürlichen Ordnung bereits als negatives Referenzsystem aufscheint und es im Wallenstein nur insofern positiv in den Blick gerät, als es die Selbsttäuschung konkreter Figuren anzeigt, scheinen Früh- und Spätwerk im Grunde doch gar nicht so weit auseinanderzuliegen. Trotz dieser Relativierung aber können sowohl Bösmanns Dissertation als auch der überwiegende Teil der besprochenen Einzelaufsätze als fruchtbare Beiträge zum Schillerjahr 2005 bewertet werden. 25 Es bleibt zu hoffen, daß vom Schillerjahr 2009 Vergleichbares zu berichten sein wird.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Otto Dann / Norbert Oellers / Ernst Osterkamp (Hg.): Schiller als Historiker. Stuttgart, Weimar 1995; Wolfgang Riedel: Weltgeschichte als »erhabenes Object«. Zur Modernität von Schillers Geschichtsdenken. In: Deutsche Schillergesellschaft Marbach a.N. (Hg.): Am Beginn der Moderne. Schiller um 1800. Mit Beiträgen von Norbert Oellers und Wolfgang Riedel. Marbach a.N. 2001, S. 3–22; Ernst Osterkamp: Friedrich Schiller als Historiker. In: [Ortsvereinigung Hamburg der Goethe-Gesellschaft in Weimar e.V. (Hg.):] Friedrich Schiller – Goethes großer Freund. Texte zur gegenwärtigen Einschätzung des Dichters. Halle 2002, S. 38–63.   zurück
Vgl. Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1880. (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Bd. 7) Berlin, New York 1996, S. 228–263; Thomas Prüfer: Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft. (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 24) Köln, Weimar, Wien 2002.    zurück
Vgl. Schillers Werke. Nationalausgabe (fortan ›NA‹). 1940 begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese und Siegfried Seidel, hg. von Norbert Oellers. 42 Bde. Weimar 1943 ff., hier Bd. 17, S. 373.   zurück
NA, Bd. 18, S. 52.   zurück
Vgl. Anm. 2 sowie: Johannes Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824). (Frankfurter Historische Abhandlungen, Bd. 41) Stuttgart 2000, S. 75–112.   zurück
Vgl. Peter-André Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit. 2 Bde. München 2000, Bd. 2, S. 111–125.   zurück
Vgl. Peter-André Alt: »Arbeit für mehr als ein Jahrhundert«. Schillers Verständnis von Ästhetik und Politik in der Periode des Französischen Revolution (1790–1800). In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 46 (2002), S. 102–133.   zurück
Vgl. NA, Bd. 20, S. 445; Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar 1995.   zurück
Vgl. NA, Bd. 30, S. 177, und ausführlicher: Nikolas Immer: »alle Tragödie überflüssig und unmöglich machen«. Schiller und die Komödie. In: Klaus Manger in Verbindung mit N.I. (Hg.): Der ganze Schiller – Programm ästhetischer Erziehung. (Ereignis Weimar-Jena: Kultur um 1800. Kultur um 1800: Ästhetische Forschungen, Bd. 15) Heidelberg 2006, S. 251–279.   zurück
10 
NA, Bd. 3, S. 5.   zurück
11 
Vgl. etwa Georg Schmidt: Friedrich Schiller und seine Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs. In: Klaus Manger / Gottfried Willems (Hg.): Schiller im Gespräch der Wissenschaften. (Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800: Ästhetische Forschungen, Bd. 11) Heidelberg 2005, S. 79–105, vor allem S. 104 f.; Gérard Laudin (Hg.): Friedrich Schiller – 200e anniversaire de sa mort. Histoire et historiographie. (Etudes germaniques, Bd. 60) Paris 2006. Die letztgenannte Arbeit sollte ursprünglich im Rahmen dieser Sammelbesprechung mitbehandelt werden, jedoch stand sie bis zum Abschluß des Typoskripts nicht zur Verfügung.   zurück
12 
Vgl. Dieter Kühn: Schillers Schreibtisch in Buchenwald. Bericht. Frankfurt/M. 2005.   zurück
13 
Der Tagungsband dokumentiert die Ergebnisse eines Symposiums, das vom 7. bis 10. April 2005 an der Universität Tübingen stattfand. Anzumerken ist, daß der dort gehaltene Vortrag von Wolfgang Riedel nicht mit in den Tagungsband aufgenommen worden ist.   zurück
14 
NA, Bd. 26, S. 182.   zurück
15 
Das setzt eine Orientierung an Szondis Auslegung von Schillers Essay voraus, der Schneider folgt (S. 41, Anm. 7). Vgl. Peter Szondi: Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung. In: P.S.: Schriften II: Essays: Satz und Gegensatz. Lektüren und Lektionen. Celan-Studien. Anhang: Frühe Aufsätze, hg. von Jean Bollack u.a. Frankfurt/M. 1978, S. 59–105.   zurück
16 
NA, Bd. 8, S. 258.   zurück
17 
Vgl. z.B. Wolfgang Riedel: Die Aufklärung und das Unbewußte. Die Inversionen des Franz Moor. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 198–220; Marianne Schuller: Körper. Fieber. Räuber. Medizinischer Diskurs und literarische Figur beim jungen Schiller. In: Wolfram Groddeck / Ulrich Stadler (Hg.): Physiognomie und Pathognomie. Zur literarischen Darstellung von Individualität. Festschrift für Karl Pestalozzi zum 65. Geburtstag. Berlin, New York 1994, S. 153–168.   zurück
18 
Vgl. Robert Petsch: Wesen und Formen des Dramas – Allgemeine Dramatugie. (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Buchreiche, Bd. 29) Halle 1945, S. 4.   zurück
19 
NA, Bd. 21, S. 48.   zurück
20 
Zwar vermerkt Greiner, daß er diesen Kerngedanken bereits andernorts dargelegt hat (S. 192, Anm. 10). Dennoch gibt er nicht an, daß er ihn gleichfalls im Sonderband der Zeitschrift Text + Kritik reformuliert. Vgl. Bernhard Greiner: Negative Ästhetik: Schillers Tragisierung der Kunst und Romantisierung der Tragödie (Maria Stuart und Die Jungfrau von Orleans). In: Heinz Ludwig Arnold in Zusammenarbeit mit Mirjam Springer (Hg.): Text + Kritik, Sonderband Friedrich Schiller. München 2005, S. 53–70.   zurück
21 
Vgl. Ernst Wilhelm Weber: Zur Geschichte des Weimarischen Theaters. Weimar 1865, S. 268 f.   zurück
22 
Karl S. Guthke: Die Jungfrau von Orleans. Ein psychologisches Märchen. In: K.S.G.: Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis. (Edition Orpheus. Beiträge zur deutschen und vergleichenden Literaturwissenschaft, Bd. 11) Tübingen 22005, S. 235–257, hier S. 235.   zurück
23 
NA, Bd. 8, S. 4.   zurück
24 
Vgl. Ernst H. Kantorowicz: The king’s two bodies. A study in mediaeval political theory. Princeton 1957; exemplarisch für die Maria Stuart: Nikolas Immer: Die schuldig-unschuldigen Königinnen. Zur kontrastiven Gestaltung von Maria und Elisabeth in Schillers Maria Stuart. In: Euphorion 99 (2005), H. 1/2 (Sonderheft Schiller), S. 129–152, hier S. 142–144; Peter-André Alt: Ästhetik des Opfers. Versuch über Schillers Königinnen. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), S. 176-204, hier S. 195 f.   zurück
25 
Vgl. dagegen meine deutlich distanziertere Einschätzung aktueller Schiller-Forschungsliteratur in: Arbitrium 3 (2006) [im Druck].   zurück