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Schönheit als Erscheinung

Baumgartens Aesthetica in einer erstmals vollständigen lateinisch-deutschen Edition

  • Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik. Bd. 1. Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach. 2 Bde. Lateinisch-deutsch. (Philosophische Bibliothek 572-1) Hamburg: Felix Meiner 2007. 595 S. Leinen. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 3-7873-1772-1.
  • Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik. Bd. 2. Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach. 2 Bde. Lateinisch-deutsch. (Philosophische Bibliothek 572-2) Hamburg: Felix Meiner 2007. 584 S. Leinen. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 3-7873-1773-2.
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Die ästhetischen und ästhetikgeschichtlichen Debatten der letzten eineinhalb Jahrzehnte haben den immer noch sehr engen Bezug auf die Kunstauffassungen Kants, Hegels und Adornos gelöst. Neue ästhetische Fragestellungen und Argumente sind in den Blick gerückt worden. Von der kunst-ästhetischen Perspektive im engeren Sinn wurde eine ›aisthetische‹, d.h. wahrnehmungs- und erfahrungsorientierte Perspektivierung ›des Ästhetischen‹ abgehoben. 1 Es entstanden so grundlegende wie unterschiedliche Entwürfe einer Ästhetik des Erscheinens (Martin Seel) 2 oder einer Aisthetik (Gernot Böhme). 3 Nicht das (Kunst-)Werk, sondern auch die Prozesse seiner Hervorbringung, die Medien und Medialität seiner Gestaltung, 4 die performative Kraft ihrer Darstellung 5 und die wahrnehmungstheoretischen Implikationen, die in der Aufmerksamkeit auf die ästhetische Gestaltung liegen, 6 sind so neu und differenziert thematisiert worden. Die Debatten mündeten nicht zuletzt z.B. mit den sieben Bänden der Ästhetischen Grundbegriffe 7 in einer umfassenden enzyklopädischen Zusammenfassung unseres derzeitigen Erkenntnisstandes vom Diskurs des Ästhetischen: der Ästhetik und Poetik, der Künste und ihrer Medien, des Schönen, des Sinnlichen, des als Kunst wahrzunehmenden und zu erfahrenden.

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Nachträgliche Grundlegung
einer differenzierten ästhetischen Debatte

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Im Rückblick auf diese so intensive, anregungsreiche und für die Selbstvergewisserung und den wissenschaftspolitischen Selbsterhalt der verschiedenen involvierten Disziplinen wichtige Debatte fällt eines auf: Der historische Gründungstext der Ästhetik als wissenschaftlicher, philosophischer Disziplin, Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica (Vorlesungen über die Ästhetik, 1750/58), ist zwar für all diese Debatten als Bedingung der Möglichkeit einer neuen bzw. zu einer ›Aisthetik‹ erweiterten Ästhetik die geschichtliche Grundlage. Doch für die Debatte selbst stand der Text nur im lateinischen Original oder in sehr schmalen Auswahlausgaben zur Verfügung.

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Dagmar Mirbachs Neuedition von Baumgartens Aesthetica schließt nun diese Lücke. Sie tut es in ganz vorzüglicher Weise. Die erstmals vollständige, zweisprachige Edition legt die 3. Auflage des reprographischen Nachdrucks des Olms Verlags von 1986 zugrunde. 8 Sie verfügt über eine konzise problemgeschichtliche Einführung in Baumgartens Aesthetica; einen Anmerkungsteil mit Wort- und Sacherklärungen, der Referenzstellen aus Baumgartens Metaphysica und Ethica philosophica in Latein und in deutscher Übersetzung versammelt und so die Aesthetica auf Baumgartens philosophische Position insgesamt beziehen lässt; und schließlich als weitere umfängliche Handreichungen ein Glossar, das Baumgartens eigene Übersetzungen lateinischer Begriffe nachweist; sowie ein Personenregister, ein Sachregister und eine Bibliographie.

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Die Einführung der Herausgeberin (S. XV-LXXX) bietet neben einer knappen biographischen Darstellung Baumgartens und Hinweisen zur Publikationsgeschichte der Aesthetica im 18. und zu ihrer Editionsgeschichte im 20. Jahrhundert eine Einordnung in das philosophische Panorama von Baumgartens Arbeiten zur Metaphysik, Logik und Ethik. Für Baumgartens »spannungsreiche, für die Entwicklung der philosophischen Ästhetik wirkungsmächtige Verklammerung von Erkenntnistheorie, einer […] metaphysisch fundierten Schönheitslehre und einer Kunsttheorie« (S. XXVII) wird die Ästhetik als Analogon zur Logik bestimmt. Das Konzept der sinnlichen Erkenntnis wird zum zentralen Argument für die Wissenschaftsfähigkeit des Schönen in seinen vielfältigen Erscheinungsformen.

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Zwei Konsequenzen aus der Aufwertung
der sinnlichen Erkenntnis bei Baumgarten

[7] 

In Mirbachs Argumentation folgen aus der Aufwertung der sinnlichen Erkenntnis und ihrer prinzipiellen Wahrheitsfähigkeit zwei weitere Konsequenzen: Die Schönheit wird von ihrer Erscheinung her bestimmt, sodass »Erkennen und Darstellen in der Ästhetik […] nicht […] einander nebengeordnet [sind], sondern sie bezeichnen denselben Vorgang« (S. LVIII). Daraus ergibt sich als erste Konsequenz, dass Baumgartens Ästhetik

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nicht eine Theorie der sinnlichen Erkenntnis und außerdem eine metaphysisch fundierte Schönheitslehre und zusätzlich eine Kunsttheorie [ist], sondern sie ist, weil sie eine Erkenntnistheorie ist, in der Schönheit als ›Erscheinung‹ der transzendentalen Vollkommenheit eines Gegenstands in der sinnlichen Erkenntnis und deren Darstellung erwiesen wird, zugleich Kunsttheorie (ebd.).
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Diese Bestimmung der Kunsttheorie von der Erscheinung her rückt nicht nur das ›schöne Denken‹ des ›felix aestheticus‹ in den Mittelpunkt, sondern – das ist die zweite Konsequenz der Argumentation – macht vier Aspekte im Umgang mit dem Reichtum der sinnlichen Erkenntnis besonders bedeutsam, auf die Mirbach am Ende ihre Einführung in Baumgartens Ästhetik hinauslaufen lässt: den anmutigen Geist, das ästhetische Temperament, den ästhetischen Reichtum und die ästhetische Größe.

[10] 

Erscheinen die ersten beiden Aspekte eher in produktionsästhetischer Hinsicht bedeutsam, so die beiden anderen eher in werk- und rezeptionsästhetischer Hinsicht. Allerdings sind alle vier Aspekte so sehr als Bestimmungen der Erscheinung zu verstehen, dass Produzent, Werk und Rezipient in der ästhetischen Erfahrung überein kommen:

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Kunst eröffnet dem Menschen – und ganz konkret dem Hörer oder Betrachter – die Möglichkeit einer Blicknahme darauf, was außer dem empirisch Gegebenen und wissenschaftlich Explizierbaren gleichfalls möglich und in diesem Sinne ebenfalls metaphysisch wahr ist. (S. LXV)
[12] 

Produzenten wie Rezipienten, denen in der ästhetischen Kommunikation, im Umgang mit dem Reichtum der sinnlichen Erkenntnis, Temperament und Geist zu eigen sein sollen, werden sich dann in der Erfahrung der ästhetischen Größe auch bewusst,

[13] 
›wie leicht von da aus der Übergang zum Größten sein mag‹. Dieser Übergang zum Größten, der in nichts anderem als der höchstmöglichen Annäherung der menschlichen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen an das Göttliche besteht, bildet als Finalgrund den Dreh- und Angelpunkt von Baumgartens philosophischer und so auch seiner ästhetischen Reflexion. (S. LXXIX)
[14] 

Gespeist von der Energie aus Pseudo-Longins Schrift Über das Erhabene 9 wird Baumgartens rhetorische Ästhetik hier bis zu einem Vorgeschmack für das Unendliche entwickelt: noch nicht ganz zum Charakter einer religiösen Ästhetik wie in der Romantik, aber zu einer moralischen Ästhetik, die von der Erhabenheit der Kunst eine genialische Antizipation des Göttlichen gewinnen kann.

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Die »fragmentarische Ganzheit«
von Baumgartens Aesthetica

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In diesem Fluchtpunkt der Kunstkonzeption Baumgartens liegt für Mirbach letztlich auch der Schlüssel dazu, Baumgartens ja unvollendet gebliebene Ästhetik gleichwohl in einer »fragmentarischen Ganzheit« wahrzunehmen. Sie erschließt sich in dieser »Verbindung von ›anmutigem Geist‹ […] und ästhetischem Temperament […] und […] eines darin begründeten Deutungsaspekts des inneren Zusammenhangs der Abschnitte zum ästhetischen Reichtum […] und zur ästhetischen Größe« (S. XV) und zeigt sich in der ›oratio sensitiva perfecta‹, die ja nicht nur als ›sinnlich vollkommene‹ sondern auch als ›sinnlich vollkommene Rede‹ erscheinen kann. So wie als erste Konsequenz Erkennen und Darstellen (und mit ihnen Erkenntnistheorie und Darstellungsästhetik) als zusammenfallend gesehen werden, so wird die Wahrheit der Schönheit in der Erscheinung erfahrbar und so als zweite Konsequenz die Vollkommenheit sinnlich. 10

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Auch wenn die beiden Schlusswendungen – zur »fragmentarischen Ganzheit« und zum erhabenen Vorgeschmack des Größten – von Mirbachs Einführung in Baumgartens Ästhetik vielleicht ein wenig zugespitzt erscheinen mögen, sind solche problemgeschichtlichen Perspektivierungen sehr bedenkenswert; nicht zuletzt deshalb, weil die indirekte Abwertung der Aufklärungsphilosophie und ‑ästhetik als vor- und unmodern dadurch deutlich relativiert und überaus gegenwärtige Momente der aufklärerischen Kunstauffassung damit bewusst gemacht werden können.

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Fazit

[19] 

Für weitere Diskussionen dieser Art bietet Dagmar Mirbachs verdienstvolle Neuedition von Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica nun die Grundlage; und es ist ihr zu wünschen, dass die damit eröffneten ertragreichen neuen Perspektiven in der aktuellen ästhetikgeschichtlichen und ästhetischen Diskussion wahrgenommen und produktiv weitergeführt werden.

 
 

Anmerkungen

Vgl. die Beiträge in: Birgit Recki / Lambert Wiesing (Hg.): Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik. München: Fink 1997; Joachim Küpper / Christoph Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1640) Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003.   zurück
Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens. München: Hanser 2000.   zurück
Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München: Fink 2001.   zurück
Vgl. die Beiträge in: Christian Kiening (Hg.): Mediale Gegenwärtigkeit. Zürich: Chronos 2007.   zurück
Vgl. die Arbeiten von Erika Fischer-Lichte, z. B.: Ästhetik des Performativen. (Edition Suhrkamp 2373) Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004.    zurück
Besonders herausgestellt hat diesen Aspekt der ästhetischen Erfahrung: Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. Vgl. auch die Einleitung der Herausgeber und die weiteren Beiträge in: Aleida Assmann / Jan Assmann (Hg.): Aufmerksamkeiten (Archäologie der literarischen Kommunikation 7) München: Fink 2001; sowie die Beiträge von Friedmar Apel: Elementare Kategorien der Welterfahrung. Richard Alewyns Eichendorff-Studien als Zugang einer literaturanthropologischen Analyse der Wahrnehmung, und von Lothar van Laak: Literarisches Wahrnehmen – ästhetisches Handeln. Zum Stellenwert der Aufmerksamkeit im Prozeß der Aisthesis. In: Wolfgang Braungart / Klaus Ridder / Friedmar Apel (Hg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie. Bielefeld: Aisthesis 2004, S. 219–230 und S. 193–217. Siehe auch: Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1734) Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004.   zurück
Karl Heinz Barck / Martin Fontius / Dieter Schlenstedt (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000–2005.   zurück
Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Frankfurt an der Oder 1750. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 3. Aufl. 1986. Herangezogen wurden u.a. auch die Exemplare des ersten Teils der Aesthetica der Universitätsbibliothek Tübingen (Sign. Ad12–1) und der kollationierten beiden Teile der Universitätsbibliothek Freiburg (Sign. B 764).   zurück
Vgl. zu dieser Traditionsbildung: Dietmar Till: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 2006.   zurück
10 
Die damit implizierte Annäherung an die Position Moses Mendelssohns ist ein weiterer interessanter Aspekt von Mirbachs Argumentation.   zurück