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Mäandernde Annäherungen an die Literatur
der Weimarer Republik

Neue Studien zur neusachlichen Realismusvorstellung

  • Sabine Kyora / Stefan Neuhaus (Hg.): Realistisches Schreiben in der Weimarer Republik. (Schriften der Ernst-Toller-Gesellschaft 5) Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. 340 S. Broschiert. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 3-8260-3390-6.
  • Matthias Uecker: Wirklichkeit und Literatur. Strategien dokumentarischen Schreibens in der Weimarer Republik. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2007. 567 S. Broschiert. EUR (D) 84,00.
    ISBN: 978-3-03911-057-5.
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Neue Sachlichkeit –
ein Realismusparadigma in der Diskussion

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Nach dem expressionistischen Jahrzehnt wird vor allem mit der Neuen Sachlichkeit ein neuer Realismus in Kunst und Literatur etabliert, der in vielem an den historischen Naturalismus des 19. Jahrhunderts anschließt und sich mit Blick auf diese Kontinuität als ein »neuer Naturalismus« 1 versteht. Doch die Erweiterungen und Veränderungen, auch Präzisierungen gegenüber der naturalistischen Ästhetik und Dramatik sind beträchtlich, in den 1920er Jahren erfährt die realistische Erzählkunst eine bis dahin nicht gekannte Diversifizierung und Ausdifferenzierung. Eine Vielfalt an realitätsorientierten und gegenwartsbezogenen ästhetischen Verfahren und literarischen Techniken wird ausgebildet: Auf Beobachtung basierender Berichtstil, dokumentenbezogene Montagetechnik, dokumentarisches Schreiben, soziologisch-analytische Belletristik und Essayistik, lyrische Reportage wären hier ebenso zu nennen wie die für die Literatur der Weimarer Republik paradigmatischen gattungsspezifischen Neuerungen wie (neusachlicher) Zeitroman, publizistische Epik, literarische Reportage oder Zeit- bzw. Dokumentartheater, Gebrauchslyrik usw. All diesen Genres und ästhetischen Erweiterungen geht die Kritik der traditionellen Subjektivitätskonzepte voraus, die zum einen dem Ersten Weltkrieg geschuldet ist, mit dem man das bürgerliche Individuum hat untergehen sehen; zum andern jener Massenerfahrung in einer modernen Zivilisation, die die Beschädigung des Individuums in einem vorher nicht gekannten Ausmaß bedeutete und in der man den Einzelnen infolge von Anonymität, Komplexität, aber auch nivellierender Vielfalt zugunsten der Masse oder zumindest des sozialen Typus aus den Augen verloren hatte.

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Derartige literarische und ästhetische Neuerungen wurden vornehmlich im Namen der Neuen Sachlichkeit realisiert; anders ausgedrückt: Über die neusachliche Strömung erhalten solche Innovationen epochenspezifische Signifikanz. Nach 1920 wird in ihrem Umfeld intensiv an einer Modernisierung realistischer Schreibweisen gearbeitet und ein modernes Realismuskonzept praktiziert. Voraussetzung hierfür ist der Anspruch, über authentische Vorgänge und aktuelle Phänomene zu berichten; ferner ein Bedürfnis nach zeit- und realitätsbezogener Literatur, das weit über produktionsästhetische Forderungen der Autoren hinausging und rezeptionsästhetische Belange, vornehmlich die Erwartungshaltung des Lesepublikums, reflektierte. Diese Entwicklung ist, auch wenn in vielen der im vorliegenden Band Realistisches Schreiben in der Weimarer Republik vereinten Beiträge mit distanzierendem Gestus von einer ›so genannten‹ Neuen Sachlichkeit geredet wird, unbestreitbar (vgl. S. 112: »der heute gern als ein Realismus im Zeichen der Neuen Sachlichkeit verstanden wird«). Denn sowohl die Epik, hier vor allem der Roman, als auch die Dramatik blieben von diesen Bestrebungen nicht unberührt. Die Mehrheit der Autoren und Autorinnen der Weimarer Republik schrieb im Sinne des neusachlichen Realismus. Und das heißt auch, dass – im Unterschied zur Literatur der Jahrhundertwende, aber auch noch zum Expressionismus – Schriftsteller in den 1920er Jahren auf ihre gesellschaftliche Verantwortung und auf eine konkrete gesellschaftliche Funktion von Literatur pochten. Und die war vorzugsweise über eine facettenreiche realitätsbezogene Schreibweise und aktualitätsorientierte Literatur zu erlangen.

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Realistisches Schreiben in der Weimarer Republik
fernab der Neuen Sachlichkeit?

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Der im Anschluss an eine von den Herausgebern veranstaltete Tagung zum gleichnamigen Thema entstandene Band möchte (in 22 Beiträgen) dieser Vielfalt realistischer Schreibformen nachgehen und das Spektrum realistischen Schreibens entfalten. Das gelingt jedoch nur teilweise, was u.a. an der engführenden Akzentsetzung liegen könnte. In ihren einleitenden Bemerkungen betonen die Herausgeber, dass die 1920er Jahre durch eine Krise und eine Krisenerfahrung geprägt waren und folglich die Literatur der Weimarer Republik aus einer Krisensituation heraus entstanden sei. Mit Blick auf die Erfahrung des Ersten Weltkriegs und auf das Phänomen einer ›Lost generation‹, die nicht mehr in die neue republikanisch-demokratische Staatsform zu integrieren war, mag dies zutreffen; für die jüngere, aber gleichwohl auch für die ältere nachexpressionistische Autorengeneration (man denke an Döblin, Feuchtwanger, Toller) der Weimarer Republik gilt dies indes wohl kaum. Ganz im Gegenteil: Eine – und das gilt vor allem für Schriftstellerinnen wie für Frauen allgemein – emanzipatorische Aufbruchstimmung, ja vielfach eine Berauschtheit am zivilisatorisch-demokratischen Umbau bestimmen das Tempo und die Ausrichtung des literarischen und gesamtkulturellen Lebens.

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Von daher ist hinsichtlich der Thematik des Bandes zunächst einmal zu bedauern, dass der epochal und literaturhistorisch zutreffende und längst etablierte Begriff der Neuen Sachlichkeit nicht explizit Gegenstand eines Beitrags ist; dass also die Neue Sachlichkeit, in deren Umfeld in den 1920er Jahren wohl die innovativen Neuerungen realistischen Schreibens entwickelt und so die durch den späten Expressionismus ausgelöste Krise überwunden wurden, nicht eigens gewürdigt und grundlegend vorgestellt wird. Zwar nehmen gleich mehrere Aufsätze auf sie Bezug oder kommen – indirekt oder direkt – auf Aspekte neusachlichen Schreibens zu sprechen. So behandeln 15 der insgesamt 21 Beiträge des Bandes, u.a. die Aufsätze von Matthias Uecker, Sabine Kyora, Christina Jung-Hofmann, Steve Giles, Walter Delabar, Gabriele Sander, Stefan Neuhaus, Sascha Kiefer, Karin Theesfeld, Birgit Haas, Jürgen Heizmann, Carsten Lange und Wolf-Dieter Krämer, implizit den literarhistorischen und -ästhetischen Kontext der Neuen Sachlichkeit.

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Mit Blick auf die Forschungssituation der 1980er und frühen 1990er Jahre, als das Wissen über den neusachlichen Realismus für die germanistische Fachwelt noch kaum mehr bedeutete als die Identifikation desselben mit einem »weißen Sozialismus« (Helmuth Lethen) oder mit einer »Ästhetik des laufenden Bandes« (Béla Balázs) und eine wissenschaftlich-sachorientierte Auseinandersetzung mit dieser die Weimarer Republik prägenden Ästhetik und Programmatik sozusagen als unseriös galt, ist das zu begrüßen; gemessen am heutigen Stand der Forschung und Debatte über die Literatur der 1920er Jahre fallen die Erträge des vorliegenden Bandes allerdings in einigen Punkten zurück. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass kaum einer der Beiträge in den verweisenden und das weitere Feld der Forschung zur Neuen Sachlichkeit umreißenden Anmerkungen einen Hinweis auf neuere Arbeiten zur Realismusforschung und zur Neuen Sachlichkeit einfügt. So wird etwa die Studie Neue Sachlichkeit (2000) nur mit dem zweiten, dem Materialienband zitiert, indem man sich auf eine abgelegene, dort aber abgedruckte Quelle beruft. 2 Ebenso befremdet der Verzicht der Autoren, vorliegende Forschungsergebnisse des ersten Bandes in die eigene Argumentation zu integrieren.

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So gehen etwa die Ausführungen von Birgit Haas über Marieluise Fleißer von der Annahme aus, die Fleißer-Forschung lege ihre Autorin (nach wie vor) einzig und allein auf das Bild einer »Dichterin des Unbewussten« und das Œuvre auf eine durch Irrationalität und irrationale Formlosigkeit »nicht reflektierte subjektive Prosa« (S. 215) fest – ein bilanzierendes Urteil, das ganz offensichtlich ohne die Kenntnis neuerer Arbeiten zu Fleißer auskommt. Angesichts dieser abstinenten Haltung ist Haas’ Versuch, für die Prosa Fleißers eine sachlich beobachtende und berichtende Schreibhaltung nachzuweisen, doch repetitiv. Zumal ihr Ansatz, Fleißer zwischen »Brechts Konstruiertheit« und Draws Irrationalität zu verorten, müßig scheint und im Hinblick auf Vorannahmen wie etwa die Beschreibung Brechts als ein »autoritärer, neusachlicher« Mensch kaum überzeugt: nicht der Mensch Brecht ist neusachlich, sondern die von ihm erarbeitete Ästhetik.

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Ähnlich selektiv verfährt der Beitrag von Stefan Neuhaus. In dessen erstem Teil wird der Realismus-Begriff unter Rückgriff auf theoretische Ansätze Niklas Luhmanns und Roland Barthes’ problematisiert; nahezu unabhängig von diesen Eingangsüberlegungen wird sodann im zweiten Teil die für die Weimarer Republik paradigmatische und von der Neuen Sachlichkeit programmatisch verfolgte enge Verbindung von Literatur und Publizistik, von Lyrik und Reportage verfolgt, vorzugsweise bei Erich Kästner und Kurt Tucholsky. Das in diesem Zusammenhang wichtige Genre der Gebrauchslyrik, mit dem gerade Autoren wie Kästner und Tucholsky nicht nur ein neues lyrisches Sprechen im Zeichen des Realismus etablierten, sondern zugleich eine dringend erforderliche Modernisierung der lyrischen Gattung betrieben, bleibt dabei allerdings unberücksichtigt. Das ist insofern bedauerlich, als der durchaus ergiebige Ansatz von Neuhaus, realistisches Schreiben als einen Prozess der Entmythologisierung vorzustellen, Literatur also als ein Schreiben gegen politische und kulturelle Mythen zu verstehen, zwar eine zentrale Komponente neusachlichen Schreibens streift, aber dann doch weitgehend ausspart: die Festlegung von Sachlichkeit bzw. ›Versachlichung‹ auf die Bedeutung von Entmythologisierung nämlich oder, wie es in den 1920er Jahren im Anschluss an Max Weber hieß, ›Entzauberung‹.

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Die Wirkungsmacht einer neusachlichen Ästhetik – in deren Nähe Autoren wie Kästner, Tucholsky und auch Toller unbedingt zu verorten sind – innerhalb der Analyse zu berücksichtigen, hätte die Überlegungen präzisieren können; dies bleibt nicht nur für diesen der hier vereinten Beiträge festzuhalten. Anderes hätte ergänzt werden können, wie etwa im Beitrag von Steve Giles über »Photographie und Darstellung bei Kracauer und Brecht«. Einerseits macht Giles auf einen bislang vernachlässigten Aspekt realistischer Literatur und Schreibformen aufmerksam, auf die Verbindung von Literatur und Photographie nämlich, und damit auf die in den 1920er Jahren wachsende Bedeutung des photographischen Mediums gerade im Umfeld der Neuen Sachlichkeit, deren Ästhetik photographieanalogen Kategorien wie Präzision, Anschaulichkeit oder Ausschnitt verpflichtet war. Giles’ Ausführungen rücken die Auseinandersetzung von Kracauer und Brecht mit der Photographie in den Mittelpunkt. Spannend ist es, zukünftig auch andere Facetten der intermedialen Tendenzen der neusachlichen Ästhetik zu berücksichtigen, was im Übrigen in der Arbeit von Matthias Uecker bereits umfassend Berücksichtigung findet. So spannend Kracauers kritisch-ablehnende Ausführungen zur Photographie sein mögen, sie repräsentieren sicher nicht in Gänze den Umgang mit diesem Medium und die nach 1920 auch in der Literatur vielfältig genutzten Potentiale der Photographie. Von daher ist zwar kaum zu bestreiten, dass über die Auseinandersetzung mit dem in vielem bereits überholten Medium wie mit einem photographischen Realismus gleichermaßen die Defizite eines neusachlichen Abbildrealismus diskutiert wurden, davon zeugen Kracauers und Brechts Überlegungen. Nichtsdestoweniger ergeben Giles’ Ausführungen ein einseitiges Bild, bleiben die ästhetischen Konsequenzen, die im Zuge dieser Debatte gezogen wurden, doch unberücksichtigt: so vor allem die weitere Diskussion um Verfahren wie Montage, Dokumentarismus und Intermedialität (z.B. in Verbindung mit Kurt Tucholskys und John Heartfields Gemeinschaftsproduktion Deutschland, Deutschland über alles aus dem Jahr 1929), mittels derer man die (vermeintlich) fehlende Tiefenstruktur der photographischen Wiedergabe von Realität vermeiden wollte.

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In Jürgen Heizmanns Beitrag wird dieses Reflexionsniveau der Neuen Sachlichkeit in Bezug auf den noch immer zu wenig beachteten Roman Karl und das zwanzigste Jahrhundert des österreichischen Autors Karl Brunngraber deutlich gemacht. Heizmann, der bereits 1986 seine Studie zu Joseph Roth und die Neue Sachlichkeit vorlegte, schließt dabei an erreichte Standards an. Auf profunde Kenntnisse der Komplexität realistischer Verfahrensweisen aufbauend, kann er herausarbeiten, dass dem 1932 erschienenen Roman ein Döblins Berlin Alexanderplatz vergleichbares ästhetisches Konzept zugrunde liegt; und dass auch Brunngrabers Werk in erster Linie das Resultat der Bemühungen um neue realistische Verfahrensweisen (Tatsachenpoetik, Dokumentarismus, Faktizität) sowie das Ergebnis einer veränderten gesellschaftlichen Realität und »statistischen Realitätserfahrung« (S. 238) ist. Brunngraber erzählt Typen- statt Individualschicksale und bettet zudem die erzählte Geschichte Karl Lahners in die erzählte Chronologie historischer Geschehnisse und politischer Abläufe ein: Vor allem die soziologische Durchdringung des erzählten Stoffs, von Individuum und Epoche (»Karl und das 20. Jahrhundert«) weisen diesen Roman als einen paradigmatischen Text der Neuen Sachlichkeit aus. Solche Analysen bleiben aber, wie erwähnt, im vorliegenden Band die Ausnahme.

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Kritik des Sammelbandes – Desiderate und Anregungen

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Nicht nur mit Blick auf das wenig geschärfte Profil der Neuen Sachlichkeit stellt sich die Frage nach dessen Stimmigkeit. So wäre zu überlegen, ob über die Behandlung des Komplexes (neusachlicher) Realismus und magischer Realismus im Beitrag von Carsten Lange hinaus (»Magischer Realismus, Impressionismus und filmisches Erzählen in Friedo Lampes Am Rande der Nacht«) – der ebenfalls in vielem Ergebnisse eines (allerdings von Lange nicht zitierten) Aufsatzes von Friedhelm Marx wiederholt 3 – die Beschreibung anti-realistischer Schreibformen zwingend in einen Band gehört, der sich vorzugsweise und auf begrenztem Raum den Formen realistischen Schreibens der Weimarer Republik widmet. Lothar Blum etwa untersucht die spezifische Schreibpraxis Else Lasker-Schülers, so vor allem das (antirealistische) literarische Verfahren der Autorin, Realitätspartikel aus ihrer Lebenswelt zu poetisieren und »in ein literarisches Spiel mit Fiktionalität und Authentizität« (S. 168) zu überführen, mit dem Ziel des Entwurfs einer autonomen Welt bzw. Gegenwelt.

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Ähnliche Bedenken sind hinsichtlich der Ausführungen von Stefan Ringel zu äußern, hier werden die Verbindung von Satire und Realismus und die Möglichkeiten eines satirisch-realistischen oder gar grotesken Schreibens beleuchtet und als eines der wenigen Beispiele Erich Kästners Roman Fabian analysiert. Nach umfangreichen Ausführungen zur Theorie des Komischen und Grotesken, die bezeichnenderweise vor allem auf den Realismus des 19. Jahrhunderts Bezug nehmen, bleibt die Affinität zwischen neusachlichem Realismus und den satirischen, humoristischen und grotesken Formen des Schreibens doch weitgehend ausgespart und unklar. Kästners Roman, der zweifelsohne mit den Mitteln der Groteske und Satire arbeitet, zugleich aber aus der Perspektive des Melancholikers und nicht zuletzt mit larmoyantem, gleichwohl sachlichem Gestus erzählt ist, kann keineswegs überdecken, dass das in der Epik dominante Realismuskonzept der 1920er Jahre – anders als die Malerei, man denke an die Zeichnungen und Gemälde vor allem von George Grosz und Otto Dix – satirische oder auch humoristische Formen des Schreibens kaum kennt. Die funktionale Ausrichtung der realistischen Literatur, insbesondere die neusachlichen Forderungen nach der Funktionalität und Breitenwirkung, haben eine solche Ausrichtung weitgehend verhindert. Auch eine neuerliche Diskussion spezifischer, im Umfeld neoklassizistischer Tendenzen entwickelter Realismusstrategien der Rechenschaftsberichte über den Ersten Weltkrieg, die Erich Unglaub mit Blick auf den verpflichteten Autor Hans Carossa, vor allem dessen Rumänisches Tagebuch führt, ist sicherlich interessant.

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Angesichts der Vielfalt und Komplexität realistischer Schreibformen ist die Schwerpunktsetzung des Sammelbandes dennoch überraschend einengend. So bleibt etwa die Partizipation von Autorinnen am Realismusdiskurs der 1920er Jahre unterbeleuchtet. Allein das Phänomen der Vielzahl von Autorinnen in der Weimarer Republik ebenso wie der Befund, dass sie mehrheitlich mit realistischen Schreibkonzepten in Verbindung zu bringen sind, eröffnen aber Perspektiven des gewählten Themas, über die sodann wiederum die Dominanz der Neuen Sachlichkeit, aber auch die Affinität zwischen weiblicher Autorschaft und neusachlicher Ästhetik angesprochen wären.

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Die im Beitrag von Rolf Selbmann geleistete Auseinandersetzung mit den idealistischen Anteilen im realistischen Schreiben der Weimarer Republik, die sich zuallererst durch den Rückgriff und die Rezeption der Weimarer Klassik ergäben, ist anregend; nicht zuletzt im Hinblick darauf, dass hierüber Annäherungen an den Begriff und das Phänomen einer ›klassischen Moderne‹ vorzunehmen sind, die die Literatur der Weimarer Republik insgesamt, aber auch das in ihr entwickelte besondere Verständnis von realistischer Literatur wenn nicht dominiert, so doch mitbestimmt haben. Solche Dimensionen des gewählten Themas werden – sowohl in Selbmanns Beitrag wie im vorliegenden Band insgesamt – aber nur am Rande reflektiert, so etwa bei Gustav Frank und Stefan Scherer. Angesichts der Tatsache, dass es sich um ein für die Epoche zentrales Phänomen handelt, wäre eine detaillierte Beschäftigung mit dem Verhältnis von Realismus und Moderne dennoch angemessen. Frank / Scherer streifen diese Frage, wenn sie auf die Möglichkeiten eines »modernen Realismus« im Werk Hermann Brochs und Rudolf Borchardts zu sprechen kommen. Es handelt sich – zumindest was die Passagen zu Broch angeht – um einen der spannendsten und perspektivenreichsten Aufsätze des Bandes. Das Erzählprogramm beider Autoren wird vergleichend untersucht; Ausgangspunkt ist die These, dass sowohl Broch als auch Borchardt gegen die in der Moderne destruierten Organisationsformen anschrieben und ihr Werk so zugleich gegen die literarische und gesellschaftliche Moderne gerichtet sei. Eine solche Zielsetzung führt, den Verfassern zufolge, insbesondere bei Broch zu einer spezifischen Ausrichtung des Œuvres, vor allem zu der Entscheidung, an einer kausal-chronologischen, linear geführten Erzählweise festzuhalten und – ein in Abgrenzung zur Broch-Forschung formulierter Ansatz – dabei auch auf essayistisch-reflexive Anteile weitgehend zu verzichten. Insbesondere die These, Brochs Realismus-Konzept trage reaktionäre Züge, indem »er die Moderne im Moment der Ablösung vom Realismus [des 19. Jh.] an ihrem Ursprung bekämpft« (S. 114), wirft einen neuen Blick auf das Œuvre dieses bislang nahezu uneingeschränkt im Kontext der literarischen Moderne behandelten Autors. 4 Frank und Scherer hingegen sehen gerade umgekehrt in Brochs Versuchen einer »Re-Mimetisierung« eine Haltung gegen die Avantgarde, die in vielem gar reaktionäre Tendenzen aufweist. Zugleich sprechen sie von einem komplexen Realismus, »bei dem mit der Moderne ebenso gerechnet wie abgerechnet wird« (S. 117); und bei dem es letztlich – sowohl auf der inhaltlich-thematischen als auch auf der ästhetisch-stilistischen Ebene – um die »Domestizierung der Moderne« (ebd.) ginge. Diese Diagnose ist in erster Linie mit Blick auf Brochs ›Bergroman‹ Die Verzauberung formuliert, in dem Lebensformen und Haltungen wie Abgeschiedenheit, Ausgrenzung und Rückzug verarbeitet werden. Auch handele es sich um einen Roman, in dem Broch – wie zuvor schon in seiner Schlafwandler-Trilogie – seinen Anspruch auf Ganzheit, Totalität, Geschlossenheit und Illusionismus in Abgrenzung zu ästhetischen Kategorien der Moderne wie Ausschnitt, Detail, photographisches Sehen usw. bekräftigt habe. Brochs Realismuskonzept, das im Aufsatz Das Weltbild des Romans aus dem Jahr 1933 umrissen ist, verstehen die Autoren aus guten Gründen als eine Kampfschrift gegen einen modernen neusachlichen Realismus, als eine Absage an moderne realistische Schreibweisen und antiillusionistische Verfahren, als einen Kampf gegen publizistische Elemente, gegen filmische Schnitttechnik, fragmentarisches Schreiben und Montage. Stattdessen, so machen die Autoren deutlich, setzt Broch spätestens ab 1936 auf die Strategie eines »Totalitätskunstwerks« 5 , das, indem es die Entwicklungen der Moderne und in der Moderne rückgängig zu machen sucht, reaktionäre Züge aufweist.

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Vergleichbares wird zu Borchardts Werk erarbeitet: Auch Borchardt ist einem auf die Herstellung von Ordnung und Überschaubarkeit zielenden Erzählen verpflichtet; die Brisanz des Beitrags dürfte aber wohl eher in den Aussagen zu Broch begründet liegen. Zumal die Verfasser hier die Tragfähigkeit ihrer bilanzierenden, verallgemeinernden Äußerungen zu einer »synthetischen Moderne« belegen können: Mit diesem Begriff möchten sie »die Doppelung von literarischer Modernität und Synthesis auf dem je aktuellen Stand der Formgeschichte« (S. 121) benennen; zwar bleibt mit Blick auf solche ungenauen Formulierungen [vgl. weiter: »Der doppelte Ursprung von literarischer Syntheseproduktion und ›reflexiver Reaktion‹ (in den ideologisch eingesetzten Totalisierungen im Zeitalter der Extreme) um 1925 reagiert auf das Historischwerden der künstlerischen Avantgarden«, ebd.] einiges unpräzise, dennoch liefern sie anregende Hinweise zur Debatte um Broch und die Moderne bzw. zu Brochs Verhältnis zu dieser Moderne; und dies, wie gesagt, in Abgrenzung zur wortmächtigen Broch-Forschung, die ihrem Autor unbedingt und uneingeschränkt dieser Moderne zuschlagen will, ohne zu sehen, dass Broch doch nahezu ungebrochen und in vielem unter Rückgriff auf ein restauratives Realismusverständnis gegen eine gesellschaftliche Moderne und Modernisierung anschrieb. Das mag erklären, warum Brochs Romane und Romanverständnis diametral zu jener Form realistischen Schreibens zu verorten sind, die in den 1920er Jahren – dies auch im Hinblick auf eine ästhetische Moderne – geradezu paradigmatische Bedeutung besitzt, und zwar zu einer publizistisch orientierten Prosaliteratur.

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Dieser Dominanz wird der vorliegende Band gerecht, mehrere Beiträge behandeln das Verhältnis von Realismus und Reportage. Hierbei werden zugleich Faktoren des Einflusses bedacht, im Beitrag von Artem Lyssenko etwa die Bedeutung der russischen Exilliteratur für die realistische Erzählkunst und für die Entwicklung publizistischer Schreibstrategien. Der Stellenwert des amerikanischen Realismus und das hohe Ansehen amerikanischer Autoren wie Upton Sinclair oder Sinclair Lewis, die im vorliegenden Band keine Berücksichtigung finden, sollten dabei allerdings nicht übersehen werden. Wolf-Dieter Krämers Überlegungen zum »Realismuskonzept des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller« konzentrieren sich bedauerlicherweise und anders als im Titel angekündigt auf die Geschichte, Organisation und Funktionsweise sowie auf das kulturpolitische Programm der Vereinigung. Das Verständnis von Realismus und die Techniken realistischen Schreibens im Umfeld des BPRS, die sich in vielem mit der neusachlichen Ästhetik decken (in der Studie von Matthias Uecker ist dies in Kapitel 5: »Wirklichkeit und Handlung. Formen des dokumentarischen Romans« nachzulesen), findet kaum Berücksichtigung.

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Ergiebiger ist der Aufsatz von Sascha Kiefer über die neusachliche Zeitdramatik. Im Mittelpunkt stehen die Antikriegsstücke von Wolf, Toller und Plivier, d.h. das gegen Ende der 1920er Jahre fest etablierte Zeittheater, das sich – ähnlich wie im Zeitroman – zeitversetzt mit der Revolution und dem Kriegsende auseinandersetzte. Damit schreibt Kiefer zugleich über die Piscator-Bühne, über jenes Theater also, das die Mehrheit der neusachlichen Zeitstücke inszenierte und eine Analogie zwischen werkeigener Ästhetik und Inszenierungskonzept herstellte; angesprochen sind so die neuen technischen Verfahren und der innovative, weil intermediale Inszenierungsstil, mit dem Erwin Piscator die Aufführungspraxis im Namen einer politischen, realistischen Kunst radikal erneuerte. Die Piscator-Bühne ist sozusagen für den Bereich Theater und Schauspiel, Inszenierung und Bühnenkunst der Kulminationspunkt der Bemühungen um einen neuen Realismus; insofern wäre sie in einer Publikation zum Realismus der Weimarer Republik mit einem eigenen Beitrag zu würdigen.

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Doch immerhin können Kiefers Überlegungen deutlich machen, wie eng das Verhältnis von Drama und Reportage, von Zeit- bzw. Dokumentartheater und politischer Intention, von Schauspiel und Berichterstattung war, zumal dabei die theatralischen Mittel einer realistischen Darstellungskunst – Kiefer spricht von der »Schaffung hybrider Repräsentationsformen« (S. 184) – benannt werden.

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Der Beitrag von Christina Jung-Hofmann, die 1999 eine grundlegende Studie zum Zeitstück der Weimarer Republik bzw. zur funktionalen Ästhetik der Dramatik der Weimarer Republik erarbeitete, widmet sich zum einen dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit allgemein, zum andern von Reportage und Realismus im Speziellen. Reportage und Reportagetechnik dürfen als Kernpunkte realistischen und neusachlichen Schreibens gelten, und die literarische Reportage, die als eigenständiges Genre durch Egon Erwin Kisch in den frühen 1920er Jahren entwickelt wurde, stellt den wichtigen Versuch dar, spezifisch publizistische Verfahren mit narrativen Techniken zu verschränken.

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Jung-Hofmann konzentriert sich sodann auf Formen der Reportage, vor allem bei Heinrich Hauser und Joseph Roth. Letzterer wird als ein »entschiedener Kritiker der Neuen Sachlichkeit« (S. 49) vorgestellt, was in dieser undifferenzierten Formulierung wohl nicht zutreffen dürfte; die produktiven Dimensionen eines belletristische und publizistische Strategien verschränkenden Schreibstils zumindest lassen sich so kaum benennen. Auch Karin Theesfelds Studie über »Abtreibungsdramen der Weimarer Republik« – behandelt werden Stücke von Rehfisch, Wolf und Credé – beschäftigt sich mit der neusachlichen Dramatik bzw. dem Zeittheater der nachexpressionistischen Epoche. Im Vordergrund stehen die sozialgeschichtlichen Hintergründe sowie die Vorstellung der einzelnen Dramen; die literarischen Verfahrens- und Darstellungsweisen werden auch hier nur am Rande erörtert. So gelingt es Theesfeld zwar, die Nähe zwischen sozialgeschichtlicher Faktizität und literarischer Darstellung herauszuarbeiten und damit eine Facette realistischen Schreibens der Weimarer Republik nachzuvollziehen. Mit welchen ästhetischen respektive realistischen Verfahren diese Stücke im Detail erarbeitet sind, bleibt indes größtenteils offen.

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Alfred Döblin

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Der herausgehobenen, innovativen Rolle Alfred Döblins für die Ausbildung realistischer Formen des Schreibens zumindest im Bereich der Epik wird der Band mit gleich zwei Aufsätzen zu diesem Autor gerecht. Döblins in den 1910er Jahren entstandenes »Berliner Programm« 6 konnte wesentliche Orientierungen für die Modernisierung realitätsbezogener bzw. -naher Schreibformen weisen. Dementsprechend geht es Walter Delabar in seinem Beitrag um die Bemühungen dieses Autors um eine Erneuerung realistischen Schreibens und so zugleich um dessen innovative Position innerhalb der Literatur der 1920er Jahre. Zu erwähnen ist vor allem Döblins weit blickende Argumentation im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem italienischen Futurismus; skizzierte er hierbei doch experimentelle Formen des Erzählens – experimentell, weil sie mit Blick auf eine moderne Zivilisation konzipiert werden. Diese Döblins Poetik prägende Synchronisierung von gesellschaftlicher Realität und Formen realistischen Schreibens, von gesellschaftlicher Modernisierung und ästhetischer Modernität zeichnet Delabar nach. Es handelt sich um eine Verbindung, die für die gesamte Epoche von Weimar Bedeutung besitzt. Die Effektivität und Produktivität dieser Verzahnung kann Delabar gerade am Beispiel Döblins benennen, ist dessen Werk doch, wie kaum ein zweites, durch das Bestreben gekennzeichnet, moderne Ausdrucksformen und Schreibweisen in Analogie zur modernen Zivilisation zu entwickeln, die Kunst der Moderne also in unmittelbarer Nachbarschaft zur modernen Gesellschaft zu gestalten – und nicht wie etwa Broch in Abgrenzung zu ihr. Anders als der Verfechter eines »Totalitätskunstwerks« verfolgt Döblin keine geschlossenen Ordnungen, und er benötigt von daher auch keine geschlossenen literarischen Modelle.

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Döblins Verdienste um eine moderne realistische Schreibweise sind auch Gegenstand des Beitrags von Gabriele Sander. Urbanität ist ein zentraler Aspekt des Döblinschen Schreibens, sowohl seine romanpoetischen als auch seine literarischen Schriften sind von dieser Verzahnung von urbaner Erfahrung und experimenteller Ästhetik durchzogen. Ganz zu Recht nähert sich Sander von daher Döblin als dem innovativen Repräsentanten eines urban grundierten, neusachlichen Realismus bzw. Großstadtrealismus. Einseitigkeiten vermeidend verweist sie zugleich auf jene Werke, etwa auf den 1924 erschienenen utopisch-phantastischen Roman Berge Meere und Giganten, mit dem Döblin von jener seit der 1910er Jahren proklamierten Konzeption eines mimetisch-beobachtenden Schreibens abweicht und seiner Forderung nach der Gestaltung einer »Überrealität« 7 nachkommt; oder auch auf den Berlin Alexanderplatz, der gleichfalls Passagen integriert, die auf die Transzendierung von Wirklichkeit ausgerichtet sind, wie etwa Teile der Schlachthofszene, in der sich »immer wieder Meditationen über den Tod und Vergänglichkeit« in die Reportage über die Tierschlachtungen schieben. Ob das allerdings einer (poststrukturalistisch verstandenen) »Dekonstruktion« realistischer Darstellungsformen gleichkommt, darf bezweifelt werden. Nicht zuletzt deshalb, weil Sanders Analyse sogleich selbst deutlich machen kann, dass eine solche ›über-reale‹ Ausrichtung auch im Berlin Alexanderplatz ein »Intermezzo« (S. 149) bleibt; und zwar auch innerhalb des Schlachthof-Kapitels, das durch einen »satirisch-photographischen Berichtstil« (S. 149) eingeleitet werde und insgesamt mit literarischen Reportagebildern und mit Techniken eines neusachlichen Mimesismodells arbeitet. Zu nennen wären u.a. Montage, Dokumentarismus, auf Aktualität und zeitbezogene Konkretheit zielendes Erzählen, faktenabhängiges Schreiben, soziologisch und sprachlich milieugetreues Erfassen von Lebensformen und Lebenssituationen; überhaupt die Konzeption einer wissensgesättigten Literatur, die medizinische, kriminologische und soziologische Diskurse in die erzählte Welt einbezieht. 8

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An dieser Stelle sei bemerkt, dass Sanders Argumentation, wie vielen in diesem Band versammelten Aufsätzen, eine nach wie vor wirkende, aber auch nach wie vor unverständliche Haltung abzulesen ist: Die Literatur, so die Basis der Urteile, die nicht ausschließlich über realistische Darstellungsformen verfügt, sondern den Versuch der Gestaltung einer »Überrealität« 9 unternimmt, ist die qualitativ höherwertigere Literatur. Sich über eine solche Einschätzung der Literatur der Weimarer Republik nähern zu wollen, führt sodann zu wenig überzeugenden Ausführungen. Der komplexen Ästhetik der 1920er Jahre, die unter dem Begriff der Neuen Sachlichkeit das Verhältnis zwischen Realität und Literatur neu vermisst und über avancierte poetologische Modelle und literarische Strategien von neuem austariert, wird ein solcher Ansatz zumindest nicht gerecht. Vor allem deshalb nicht, weil die Möglichkeit eines ›platten‹ Abbildrealismus angenommen wird, ein ästhetisches Phänomen, das spätestens mit dem Naturalismus als Schimäre erkannt sein sollte. Der Nachteil des vorliegenden Bandes und der in ihm vereinten Aufsätze liegt nicht zuletzt darin, dass ihre Verfasser sich dieser Einsicht doch weitgehend entziehen.

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Dokumentarisches Schreiben in der Weimarer Republik

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Dabei hätte man sich im Beitrag von Matthias Uecker zum »dokumentarischen Diskurs der Weimarer Republik« über die Vielschichtigkeit realistischen Erzählens informieren können, gleichwohl dieser sich auf nurmehr eine Dimension konzentriert. Uecker problematisiert den Begriff des Dokumentarischen und des Dokuments innerhalb des neusachlichen Diskurses, hier allerdings vornehmlich mit Bezugnahme auf Positionen und Äußerungen Siegfried Kracauers, was sicherlich dem breiten Spektrum des neusachlichen Dokumentarismus der 1920er Jahre kaum gerecht werden dürfte. Sodann werden die Aspekte Wirklichkeitsbezug, Faktizität und Tatsachenästhetik fokussiert. Die diskursinternen Auseinandersetzungen um die Pole Wahrheit/Wirklichkeit, Wissen/Fiktion, Empfindung bzw. Intuition/Beobachtung, individuelles Erlebnis/Analyse, Fiktionalität/Faktualität werden, so macht Uecker deutlich, durch die Technik der epischen Integration, durch ein Verfahren der Episierung dieser dokumentarischen Strategien, durch ihre Vermischung mit einer narrativen Ausrichtung geleistet. Erhellend sind in diesem Zusammenhang auch die Hinweise auf die intermedialen Dimensionen des dokumentarischen Diskurses der Neuen Sachlichkeit, mithin auf den intermedialen Charakter des Dokumentarismus ebenso wie der Tatsachenästhetik: insbesondere Film und Fotographie stellen neue mediale Techniken bereit, die in literarische Schreibstrategien integriert werden.

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Zwar wird diese Verbindung nur am Rande reflektiert. In der soeben erschienenen Buchpublikation Wirklichkeit und Literatur: Strategien dokumentarischen Schreibens in der Weimarer Republik jedoch hat Uecker den Themenkomplex umfassend bearbeitet und unter Bezugnahme auf die neusachliche Ästhetik umrissen. Es handelt sich sozusagen um ein Konkurrenzunternehmen zu dem von Kyora und Neuhaus vorgelegten Band, selbstredend verfolgt die Monographie den Gegenstand wesentlich stringenter, aber auch weitblickender. Wichtige Facetten und innovative Erweiterungen einer realistischen Ästhetik der 1920er Jahre werden einbezogen und unter dem Aspekt »Literatur und Wirklichkeit« (S. 13 ff.; die Abänderung gegenüber dem Haupttitel der Untersuchung bleibt unkommentiert) vorgestellt: Das veränderte »Literatursystem« (S. 67 ff.), die im Zuge der Demokratisierung der Gesellschaft und der Funktionalisierung breiter Teile des Alltagslebens in einer modernen Massenzivilisation etablierten neuen Berufsbilder und sich wandelnden »Arbeitsformen und Aufgaben des Schriftstellers in der Zeit« (S. 125 ff.) sind Gegenstand der Studie. Damit ist diese zugleich eine Auseinandersetzung mit dem »dokumentarischen Projekt der Neuen Sachlichkeit« (S. 8), in die die literarische, aber auch die gesamtkulturelle Basis einbezogen wird. So fragt Uecker nach den veränderten Ansprüchen an Literatur, nach den sich wandelnden Vorstellungen von Autorschaft, nach der Entwicklung der Medien und dem Standort von Literatur in der veränderten Medienlandschaft der 1920er Jahre.

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Neben der literaturhistorischen Annäherung an das Verhältnis von Idealismus und Realismus, von Dokumentarismus und Fiktionalität, von Autonomie und Heteronomie (dies nicht zuletzt unter Bezugnahme auf systemtheoretische Überlegungen zur Ausdifferenzierung von Literatur) ist von daher die Beschäftigung mit der Neuen Sachlichkeit ein zentrales Kapitel und Thema der Untersuchung. Auch in diesem Fall leuchtet mir die Ausgangshypothese, nach der die »kulturelle Produktivität« der 1920er Jahre an ein »umfassendes Krisengefühl« (S. 7) rückzubinden sei, nicht ein. Und auch nicht die daraus abgeleitete These, dass die vor allem im Umfeld der Neuen Sachlichkeit diskutierte Neubestimmung des Verhältnisses von Literatur und Wirklichkeit, von Fiktionalität und Faktualität, vornehmlich als das Resultat von »Selbstzweifel[n] der Literatur an ihrer Berechtigung« (ebd.) zu verstehen seien. Die in diesem Zusammenhang vorgenommenen Erweiterungen literarischen Schreibens, die Anpassung ästhetischer Ausdrucksformen an veränderte Formen der Erfahrung, Wahrnehmung und Kommunikation, die Annäherung des literarischen Mediums an jüngere oder gerade erst entstandene Medien, an Zeitung, Film und Rundfunk also, werden in dieser Perspektive ausschließlich als Krisenreaktion betrachtet. Plausibler scheint mir der Hinweis auf die nach 1920 intensiv und umfassend geführte Diskussion über die gesellschaftliche Funktion und politische Dimension von Literatur und Kultur in Verbindung mit dem Demokratisierungsprozess einer Gesellschaft; und zwar gerade mit Blick auf Ueckers Ansatz, die Neue Sachlichkeit innerhalb des literarischen Systems zu verorten und das Verhältnis von literarischem Text und außerliterarischer Wirklichkeit präzisieren zu wollen.

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Dabei möchte Uecker die von mir vorgelegte Untersuchung in drei Punkten modifizieren: im Hinblick auf die Periodisierung der Neuen Sachlichkeit, auf die Spezifizierung der Neuen Sachlichkeit als eine literarische Ästhetik und auf die Annahme einer Kohärenz innerhalb der neusachlichen Programmatik. Im Zuge der Analyse kommen diese vorab markierten Differenzen jedoch nicht durchgehend zum Tragen; weite Teile der Arbeit sind in enger Anlehnung an das in meiner Habilitationsschrift entwickelte Modell erarbeitet. Denn auch Uecker destilliert aus den Texten literaturpoetologische Positionen und Bestimmungen, wobei er an vorgezeichnete Kategorien anschließt. Überhaupt ergibt sich das Problem, dass der dokumentarische Diskurs weitgehend mit dem neusachlichen zusammenfällt, so dass der Zugewinn an Erkenntnis in den Teilen der Arbeit, die diesen Diskurs anhand von Dokumenten und Materialien zeitgenössischer beteiligter Autoren nachzeichnen, nicht allzu hoch erscheint; daran ändern auch die von Uecker vorab angekündigten Abweichungen und Modifikationen im Ansatz wenig.

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Zumal ich nicht erkennen kann, warum für die Beschreibung der neusachlichen Ästhetik auf die Benennung literarhistorischer Kontexte zu verzichten ist, woraus Uecker sodann alternative Vorschläge, die Wirkungsphase der Neuen Sachlichkeit betreffend, ableitet. Für die Präzisierung des dokumentarischen Schreibens mag die These von der voraussetzungslosen ästhetischen Strategie zutreffen; für den umfassenden neusachlichen Diskurs wohl kaum. Zumindest wäre zu fragen, warum die Einbindung der Neuen Sachlichkeit in das weitere Feld der literarischen Moderne unberücksichtigt bleiben soll, arbeitete letztere doch von Beginn an – explizit oder mit verwandten Termini – mit der Kategorie der Sachlichkeit und Versachlichung. Dass die Neue Sachlichkeit in den 1920er Jahren den zu diesem Zeitpunkt benannten ästhetischen Kategorien und literarischen Verfahren neue hinzufügt, ist so offensichtlich wie selbstverständlich. Gleichfalls dass in den letzten Jahren der Weimarer Republik, vor allem nach 1930, die Neue Sachlichkeit verstärkt attackiert wurde, wie Uecker betont (S. 69 ff.). Daraus aber eine Verschiebung der zeitlichen Festlegung der Neuen Sachlichkeit abzuleiten, scheint mir wenig sinnvoll. Zumal Uecker selbst herausarbeitet, dass die Diskussion um die neusachliche Ästhetik am Ende der Weimarer Republik vehement geführt wurde, indirekt also darauf verweist, dass diese in den Jahren nach 1930 weiterhin virulent war. Das Phänomen, dass sie sich stärkeren Attacken ausgesetzt sah als noch um die Mitte der 1920er Jahre, liegt auch daran, dass man in ihr (am Ende der Republik) kompromisslos die literarische Moderne befehdete. Die Neue Sachlichkeit ist die urban ausgerichtete ›Asphaltliteratur‹, die nicht erst von den Nationalsozialisten nach 1933 bekämpft wurde. Sie ist ein, wenn nicht das wichtigste Paradigma einer intellektuellen Großstadtliteratur und -kultur, die in konservativen und nationalkonservativen Kreisen als eine gegen idealistische Dichtungskonzepte gerichtete Ästhetik diskreditiert wurde. Und zwar durchaus, hierin ist Ueckers Ansatz uneingeschränkt zuzustimmen, innerhalb eines Literatursystems. Das mit dem Hinweis auf die vermeintlichen »Gemengelage« in den 1920er Jahren begründen zu wollen, halte ich nach wie vor für nicht ausreichend. Die zentralen Einwände gegen die Funktionalisierungsbestrebungen der Neuen Sachlichkeit kamen von jenen literaturästhetisch konservativen Kreisen, die Dichtung auf der Basis idealistischer Konzepte bestimmten und Sachlichkeit, wenn sie den Begriff denn benutzten, mit kaum viel mehr und anderem als Tugend, Disziplin, Härte, Männlichkeit, Stolz, Pflichterfüllung füllten – letztere Zuschreibung dürfte ein Relikt an und zugleich ein Vorgriff auf Kriegszeiten gewesen sein. Die präzisen Nachweise, dass die Rechte, sei es vor oder nach 1933, sich der Sachlichkeitskategorie in dem von mir aufgezeigten Horizont bediente, liegen meines Erachtens nach wie vor nicht vor.

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Dass Uecker nun, nachdem eine Spezifizierung des neusachlichen Diskurses der Literatur geleistet ist, den Versuch unternimmt, diesen mit anderen Diskursen des kulturellen Systems in Verbindung zu bringen und auch innerhalb des Literatursystems zu verorten, ist plausibel und produktiv. Ob man dieses Unterfangen zwingend mit dem Hinweis rechtfertigen muss, »ihre [die von mir vorgenommene; S.B.] Bestimmung des spezifischen literarischen Charakters der Neuen Sachlichkeit bleibt unvollständig« (S. 68), ist fraglich. Denn die Voraussetzung dafür, dass er die angestrebte Verortung des literarischen Diskurses im gesamtkulturellen System leisten kann, ist doch die Präzisierung dieses Diskurses, bleibt also die Rekonstruktion des neusachlichen Diskurses in der Literatur und für die Literatur. Und dass Uecker bei seinem Versuch der Rekontextualisierung ohne dieses Wissen gar nicht auskommt, belegen seine Ausführungen ohnehin. Bei vielen der hinzugezogenen und angewendeten Kategorien zur Beschreibung der dokumentarischen Literatur innerhalb des gesamten Feldes der Weimarer Republik handelt es sich um die in meiner Arbeit herausgestellten, so etwa Dokumentarismus, Authentizität, Faktualität statt Fiktionalität, Erlebnis, Tendenz, Wissen, Information, Verstand statt Intuition, Gebrauchswert bzw. Funktionalität statt Zweckfreiheit und Selbstreferentialität; nicht zuletzt die breit vorgestellte Debatte um Gottfried Benns Entwurf einer dichterischen Geistesaristokratie, mit dem dieser den neusachlichen Konzepten von Autorschaft begegnete, verweist auf die Nähe seiner Ausführungen zu den von mir gewählten Ansätzen.

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Das schmälert die Leistung und Effizienz der Untersuchung keineswegs, kann sie doch in anderen Punkten über die bereits vorgelegte Grundlagenarbeit hinausgehen. Insbesondere Kapitel 4 bezieht das »Verhältnis von Dokumentarismus und neuen Medien in der Weimarer Republik« mit ein und greift eine in genannter Arbeit ausgesparte Komponente bzw. Dimension auf. 10 Von besonderem Interesse sind hier die Überlegungen zur »Fotografie als neusachliche[m] Leitmedium« (S. 186–194; sie können die Ausführungen von Steve Giles aus dem Band von Kyora / Neuhaus auf jeden Fall ergänzen) sowie zur Integration filmischer Techniken in realistische Schreibverfahren der Neuen Sachlichkeit. Mit diesen Kapiteln lenkt Uecker den Blick auf Dimensionen realistischer Kultur und Ästhetik der Weimarer Republik, die bislang zu wenig Aufmerksamkeit erfahren haben, gleichwohl aber zu den spannendsten Entwicklungen dieser Epoche gehören: der Modernisierung realistischen Schreibens in Verbindung mit den Phänomenen der Intermedialität und Interdisziplinarität. Es bleibt zu hoffen, dass gerade dieser Komplex künftig stärkere Aufmerksamkeit und weitere Bearbeitung erfahren wird.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Alfred Döblin: Bekenntnis zum Naturalismus [1920]. In: A. D.: Kleine Schriften. 2 Bde. Hg. von Anthony W. Riley. Olten, Freiburg i. Br. 1985, Bd. 1, S. 291–294, hier S. 291; A. D.: [Antwort auf die Rundfrage] Ein neuer Naturalismus. Eine Rundfrage des Kunstblatts [1922]. In: Ebd., Bd. 2, S. 135 f., hier S. 135.    zurück
Vgl. Sabina Becker: Neue Sachlichkeit. 2 Bde. Band 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920–1933). Band 2: Quellen und Dokumente. Köln, Weimar, Wien 2000.    zurück
Friedhelm Marx: Zwischen Provinz und Metropole. Alfred Döblin, Friedo Lampe, Wolfgang Koeppen. In: Treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre. Bd. 1: Wolfgang Koeppen & Alfred Döblin. Topographien der literarischen Moderne. Hg. von Walter Erhart. München 2005, S. 178–188.    zurück
Vgl. etwa Paul Michael Lützeler: Hermann Broch. Zweifel als Grundimpuls der Moderne. In: Literarische Moderne: Begriff und Phänomen. Hg. von Sabina Becker und Helmuth Kiesel. Unter Mitarbeit von Robert Krause. Berlin 2007, S. 227–244.   zurück
Hermann Broch: James Joyce und die Gegenwart. Rede zu Joyces 50. Geburtstag. In: H. B.: Schriften zur Literatur 1 (Werkausgabe Bd. 9/1). Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt/M. 1978, S. 63–94, hier S. 65.   zurück
Alfred Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm [1912]. In: A. D.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hg. von Erich Kleinschmidt. Olten, Freiburg i. Br. 1989, S. 119–123.   zurück
Alfred Döblin: Der Bau des epischen Werks [1928]. In: A. D.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur (siehe Anm. 6), S. 215–245, hier S. 219. – Vgl. den Beitrag Sander im vorliegenden Band, S. 149, Anm. 34. – Sander weist hier darauf hin, dass mit Döblins Postulat der »Überrealität« »auch jene Differenz bezeichnet« ist, »die Döblins Romanpoetik im allgemeinen und Berlin Alexanderplatz im besonderen von den ästhetischen Maximen der literarischen Neuen Sachlichkeit trennt«.   zurück
Vgl. hierzu demnächst: »Tatsachenphantasie!« – Alfred Döblins Poetik des Wissens im Kontext der Moderne. Hg. von Sabina Becker und Robert Krause. Bern [u.a.] 2008.   zurück
Alfred Döblin: Der Bau des epischen Werks [1928]. In: A. D.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur (wie Anm. 6), S. 215–245, hier S. 219.   zurück
10 
Vgl. dazu aber: Sabina Becker: Literaturgeschichte als Mediengeschichte: Zur Literatur der Weimarer Republik. In: Der Deutschunterricht 6 (2003), Themenheft: LiteraturGeschichte entdecken. Hg. von Hermann Korte, S. 54–64.    zurück