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Kafkas Oktavhefte endlich im Faksimile zugänglich

  • Franz Kafka: Oxforder Oktavhefte 1 & 2. Hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Eine Edition des Instituts für Textkritik. (Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte 6) Frankfurt/M., Basel: Stroemfeld 2006. 322 S. Gebunden im Schuber. EUR (D) 128,00.
    ISBN: 3-87877-938-0.
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Jetzt gibt es keinen zwingenden Grund mehr, nach Oxford in die Bodleian Library zu reisen, um dort die Oktavhefte von Franz Kafka im Original zu lesen. Im Rahmen der im Verlag Stroemfeld / Roter Stern vom Institut für Textkritik herausgegebenen Historisch-Kritischen Franz Kafka Ausgabe 1 sind die Oxforder Oktavhefte 1 & 2 als Faksimile erschienen. Damit sind zwei wichtige Ziele erreicht: Zum einen die Sicherung der fragilen Hefte, die Kafka überwiegend mit immer weiter verblassendem Bleistift beschriftet hat. Zum zweiten ist weiteres Material für eine zunehmend an der Materialität der Schrift interessierte Literaturwissenschaft verfügbar. Die in den letzten Jahren entwickelten Fragestellungen 2 zur Ästhetik der Textproduktion und unterschiedlichen Formen von Schreibprozessen können sich nun auf einen weiteren Fundus aufschlussreicher Manuskripte beziehen, ohne auf die notwendigerweise defizitäre Darstellung von Schreibprozessen in den Apparatbänden der wissenschaftlichen Ausgaben allein sich stützen zu müssen. 3

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Zu den Oktavheften

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Im Winter 1916/17 hat Franz Kafka nicht mehr wie zuvor großformatige Quarthefte, sondern kleine Oktavhefte (16,6 cm x 10cm) für sein Schreiben verwendet. Eine exakte Beschreibung dieser neuen Schriftträger findet sich in der Stroemfeld-Ausgabe jeweils am Ende der beiden Faksimilebände sowie bereits zuvor im Band Nachgelassene Schriften und Fragmente I der Kritischen Kafka Ausgabe. 4 Die ersten acht Oktavhefte stehen in einem inneren Zusammenhang: weil sie eine der produktivsten Schaffensphasen Kafkas darstellen; weil sie in dieser Phase ausschließlicher Ort für Niederschriften aller Art waren; weil sie auf struktureller und inhaltlicher Ebene ein Textgeflecht bilden. Zahlreiche Texte hat Kafka bereits zu Lebzeiten u.a. im 1920 erschienenen Landarzt-Band veröffentlicht. Die Oktavhefte stellen einen Schreibraum dar, der als solcher ausschließlich in den Manuskripten sichtbar und lesbar ist. Die im Faksimile dokumentierten Spuren eines komplexen Schreibprozesses legen Zeugnis ab vom Ringen um den Anfang, das Ende und den Zusammenhang, von der Suche nach Strategien, um zu veröffentlichungswürdigen Texten zu gelangen, vom Umschreiben immer wieder gleicher Themen, die sich im nachhinein zu Kohärenzmustern zusammenfügen lassen.

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Max Brod hat als erster Nachlassverwalter die ingesamt zwölf überlieferten Oktavhefte nummeriert. 5 Malcolm Pasley und Klaus Wagenbach haben sie nach neuerlicher Chronologisierung, die aufgrund der kargen Datumsangaben in den Heften schwierig und nicht mit absoluter Bestimmtheit vorgenommen werden kann, mit Großbuchstaben gekennzeichnet. 6 Eine detailliertere und teilweise korrigierende Datierung wurde dann im Rahmen der Kritischen Kafka Ausgabe erarbeitet, die ebenfalls mit Großbuchstaben arbeitet. Es ist deshalb nicht zu verstehen, warum die FKA wieder auf die überholte und in der Forschung nicht mehr verwendete Zahlennummerierung zurückgreift. Der vorliegende Schuber umfasst die Hefte A und B, von den Herausgebern Reuß und Staengle mit 1 und 2 bezeichnet. Es bleibt abzuwarten, wie die Ausgabe in den folgenden Bänden mit der Nummerierung und Chronologisierung der anderen Hefte umgehen wird.

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Zum Konzept der Ausgabe

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Seit 1995 erscheint die FKA mit dem Anspruch, den hermeneutischen Zirkel von Edition und Interpretation, in dem sich jede wissenschaftliche Ausgabe bewegt, zu durchbrechen. Sie lehnt den an sich autoritären Akt der Textkonstitution kategorisch ab und bietet stattdessen Faksimiles der Handschriften mit einer diplomatischen Umschrift als Lese- und Entzifferungshilfe. Damit nimmt sie Teil am Auftrag der Archive: Sicherung der Handschrift. Und, das wird auch in diesem Band der ersten beiden Oktavhefte deutlich: Die Handschrift als ästhetisches Objekt verdient es, auch als solches, eben als Bild der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu werden. Die FKA trennt nicht zwischen Manuskript und Text. Der Bedeutungsaspekt der Texte ist von der materiellen Dimension der in den Manuskripten dokumentierten Schrift nicht zu trennen. Beiden kommt ein eigenständiger Status zu, dessen Anerkennung in der Faksimilierung der Manuskripte und des gedruckten Landarzt-Bandes zum Ausdruck kommt.

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Varianten gibt es für eine solche Edition nicht, da »Kafkas Streichungen nicht das zuvor Geschriebene auslöschen, sondern lesbar lassen – als dem lesenden Auge kopräsenter Speicher möglicher Restitutionsmöglichkeiten, aber auch als Fixpunkte neu zu entfachender Phantasie, als Zeugnisse, daß alles auch anders sein könnte oder hätte werden können«. 7 Gerade die Oktavhefte sind Zeugnisse eines Schreibprozesses, in dem das Gestrichene oftmals zum Motor des folgenden Schreibens wird. Auch die FKA legt durch den Druck als Faksimile diese Texte fest:

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Sie [die Oktavhefte] in einer Faksimileausgabe ihrer Instabilität zu entreißen und die Flüchtigkeit des Geschriebenen dabei zugleich auszustellen, macht im Falle der Oktavhefte das eigentliche Paradoxon der editorischen Tätigkeit aus. 8
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Zur Umsetzung

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Mit der Faksimilierung der Oktavhefte A und B (in der FKA Oxforder Oktavhefte 1 & 2) ist nun eine textgenetische Lektüre von Kafkas Handschrift möglich, die ausgehend vom materiellen Befund der Manuskripte den Schreibprozess nachverfolgen kann. Ebenfalls sind die Typoskripte des Gruftwächter-Dramas sowie der Erzählung Der Kübelreiter abgedruckt. Die vorliegende Ausgabe ermöglicht erstmals, auch die Verteilung der Schrift auf den Heftseiten nachzuvollziehen, eine Auskunft, die in der KKA nicht gegeben wird. Damit werden Beziehungen zwischen Schreibmaterial und Textsegmenten sichtbar. Kafka verwendet in dieser Schaffensphase das Papier ausgesprochen »ökonomisch«, d.h. er schreibt die Seiten rand- und meist absatzlos voll.

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Beispiele aus Oktavheft A

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Auch einzelne Schreibvorgänge sind nun im Detail an den gut reproduzierten Faksimiles nachlesbar. Damit wird die Textkonstitution der KKA und die diplomatische Umschrift der FKA selbst überprüfbar. Gleich auf der ersten Seite des Heftes A findet sich beispielsweise der Satz »Sie durchlief die Dörfer, Kinder standen in den Türen, sahen ihr entgegen und sahen ihr nach.« (FKA I 4) 9 Das Schriftbild der Handschrift legt nahe, dass sich unter dem großen T zunächst ein F verbirgt, wodurch auch die Möglichkeit von »Fenstern« zu einem bestimmten Schreibzeitpunkt bestanden zu haben scheint. In den Oktavheften taucht das Fenster als Zielpunkt der Bewegung immer wieder auf. Doch weder die KKA noch die diplomatische Umschrift in der FKA verzeichnen dieses versteckte »F«.

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Den Hauptumfang des Heftes A nimmt der Gruftwächter-Komplex ein, und es ist ein Hauptverdienst dieser Ausgabe, das Ringen des Autors um Perspektive, Erzählform und Figurenkonstellation nachvollziehbar zu machen. Nur eine textgenetische Lektüre der Manuskripte oder nun der Faksimiles vermag zu zeigen, dass im Oktavheft A verschiedene miteinander konkurrierende Repräsentations- und Legitimationsmodelle von Herrschaft erprobt werden, die sich nicht eindeutig auf bestimmte Figuren festlegen lassen, sondern als oszillierendes Wechselspiel immer wieder umgeschrieben werden. Wenn von 74 Heftseiten ca. 35 gestrichen sind, ist zudem eine Aufteilung des Textes in Text- und Apparatband wenig sinnvoll, dagegen die Faksimilierung des gesamten Schriftträgers dem überlieferten Schreibprozess angemessen. Wer faksimiliert, muss auch nicht entscheiden, wenn die Handschrift offenbleibt, wie z.B. im Heft A im ersten dramatischen Textsegment des Gruftwächter-Komplexes in einer Aussage des Fürsten zur Notwendigkeit der Mausoleumswache (FKA I 12). Der Gruftwächter als Repräsentant einer bestimmten Herrschaftsordnung dient dem Fürsten als Garant der eigenen Identität, so dass sich die kritische Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Tradition eines einzelnen Gruftwächters dieser Verantwortung gerecht wird, im Spannungsfeld von »Rechtfertigung« und »Mißbrauch« bewegt. Die Handschrift bleibt in diesem entscheidenden Punkt offen. Ein Apparatband stellt notwendigerweise Statik her, ein Faksimile kann im Bild die Dynamik und Offenheit des Schreibprozesses dokumentieren – die zum Stillstand gekommene Bewegung der Schrift.

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So gut lesbar die Verzeichnung im Apparatband der KKA auch ist, sie ist doch notwendigerweise gezwungen, eine zeitliche Chronologie der Schreibvorgänge zu rekonstruieren. Dieser Notwendigkeit entzieht sich die FKA durch die diplomatische Umschrift und überlässt damit dem Leser die Entscheidung bzw. den Manuskripten die ihnen oftmals innewohnende Unentscheidbarkeit, so z.B. im Oktavheft A, in dem auf der dritten Seite (FKA I 12) in mehrfachen Umschreibungen um die Begründung der Mausoleumswache gerungen wird. Wo historisch-kritische Ausgaben wie die KKA an die Grenzen des ihnen zugrundeliegenden Paradigmas stoßen, stellt das Verfahren der FKA die einzige den Manuskripten adäquate Editionsmöglichkeit dar.

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Ein weiteres Beispiel dazu aus dem Oktavheft A: Im Verlauf der ersten dramatischen Niederschrift der Gruftwächter-Thematik geht es um das Verhältnis zwischen Fürst und Mausoleumswächter. Als Ausdruck vertrauter Atmosphäre liest sich der Satz des Wächters: »In Deiner Nähe sich Auszuruhen ist das Grösste, was ein Diener erreichen kann.« (FKA I 28) Dieser Satz wird am linken Heftrand mehrmals angestrichen, was die KKA als Indiz für die Autor-Intention interpretiert, ihn von der Streichung der gesamten Passage auszunehmen. Dass der Satz deshalb sowohl in seinem Kontext im Apparatband als auch als einzelner im Textband 10 verzeichnet wird, weist auf die Grenzen der Editionsprinzipien der KKA hin. Diese Markierung stellt ein Element im Schreibprozess dar – ein nicht-graphisches, ebenfalls zum Text gehöriges Zeichen –, das die Funktion hat, diesen Satz in seiner inhaltlichen Aussage nochmals zu betonen. Dem Leser öffnet sich dieser Bedeutungshorizont jedoch nur, wenn er die Chance hat, wie in der FKA alle im Manuskript verzeichneten Schreibspuren nachzuverfolgen.

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Ebenfalls nur im faksimilierten Manuskript ist nun die Zeichnung sichtbar, die Kafka mitten in die Niederschrift des zweiten dramatischen Entwurfs setzt, als dieser ins Stocken gerät. Diese Zeichnung eines Wagens, der den Berg hinauf gezogen und geschoben wird, ist wohl als Illustration einer Eintragung in sein Tagebuchheft aus dem Jahr 1912 zu lesen. 11 Vermutlich hat Kafka dieses Heft im Jahr 1916 erneut gelesen und dabei auch die ebendort notierte Erzählung Das Urteil – jener Text, der ihm zum Paradigma gelingenden, weil störungsfrei fließenden Schreibens wurde. Die Ähnlichkeiten zwischen diesem Text und demjenigen in Oktavheft A (»Der Unfrieden, der zwischen Hans und seinem Vater seit jeher bestand«) sind offensichtlich und zeigen einmal mehr, wie Kafka gearbeitet hat: Die Lektüre von eigenen, auch lange zuvor geschriebenen Texten wird zum Auslöser neuen Schreibens, das thematisch an bereits Geschriebenes anknüpft oder es umschreibt.

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Beispiele aus Oktavheft B

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Die in Heft A angelegten thematischen und figuralen Grundkonstellationen werden im folgenden Heft B weiter- und umgeschrieben, wodurch ein Schreibkontinuum entsteht, das Heftgrenzen überspringt. Das mehrfach von Roland Reuß vorgetragene Argument, nach der Ausgabe von Max Brod hätte es keiner weiteren Kafka-Edition bedurft, die nicht Faksimiles bietet, lässt sich an einer zentralen Stelle aus dem Oktavheft B widerlegen, so wie es nun in faksimilierter Form vorliegt und von der KKA ihrem Paradigma wissenschaftlicher Ausgaben folgend bereits publiziert wurde. Die Jäger-Gracchus-Thematik gerät mitten im Gespräch zwischen Gracchus und dem Bürgermeister ins Stocken. Es folgt eine thematisch anderen Prosaniederschrift (»Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich.« (FKA II 35)), dann wieder ein Stück des Gespräches, der Satz »Ich bin der Jäger Gracchus, meine Heimat ist der Schwarzwald in Deutschland.« (FKA II 39) und schließlich das für den gesamten Schreibprozess zentrale Element: »Niemand wird lesen, was ich hier schreibe« (ebd.). Bis hin zur Ausgabe der Erzählungen von Raabe 1989 werden die einzelnen Segmente des Gracchus-Komplexes der Erstausgabe von Max Brod folgend zu einem scheinbar kohärenten Text kontaminiert. Damit geht zwangsläufig der komplexe Prozess der Herausbildung der Erzählperspektive und das Ineinander verschiedener Instanzen verloren. Alle Interpretationen, die sich auf diese Textkonstitution stützen, verwenden viel interpretatorische Energie auf Fehlurteile. 12 Wird der Satz: »Niemand wird lesen, was ich hier schreibe«, sofort Jäger Gracchus in den Mund gelegt, im Anschluss an seine Aussage, der Bootsmann trage die Schuld, kommt es zu einer simplen Identifikation von Gracchus mit dem Autor Kafka. Andere konstatieren unzuverlässiges Erzählen. 13 Erst also die Lektüre des Textes in seinem Entstehungskontext, wie ihn die KKA transkribiert und die FKA photographiert, vermag die Vielschichtigkeit seiner Erzählebenen sichtbar zu machen.

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Gestrichener Text, Varianten werden üblicherweise im Apparatband verzeichnet. So lautet eines der Grundparadigmen historisch-kritischer Ausgaben, dem auch die KKA folgt. Was jedoch im Apparatband steht, wird nicht in alle weiteren, dem Textband folgenden Leseausgaben aufgenommen und schwindet damit aus dem kulturellen Gedächtnis. Wie bedauerlich das gerade in Kafkas Fall sein kann, zeigt sich im Faksimile der FKA am Schluss des ebenfalls in Heft B verzeichneten Kübelreiter-Textes. Der nicht gestrichene Text endet bekannterweise mit dem Satz: »Und damit steige ich in die Regionen der Eisgebirge und verliere mich auf Nimmerwiedersehn.« (FKA II 63) Im Manuskript wird der Erzählfaden nach einem kurzen Querstrich in der Mitte der Seite mit räumlich veränderter Perspektive fortgeführt: »Ist es hier wärmer, als unten auf der winterlichen Erde?« (Ebd.) In den genannten »Regionen der Eisgebirge« (ebd.) können wiederum nichts anders als die Züge der Schrift entstehen: »Weissgefrorene Eisfläche, der Himmel, strichweise durchschnitten von den Bahnen verschwundener Schlittschuhläufer« (FKA II 63 f.). Die Position des Kübelreiters hat sich verändert, seine Suche ist sinnlos geworden: »Mein Reiten hat den Sinn verloren, ich bin abgestiegen und trage den Kübel auf der Achsel« (FKA II 64). Der poetologisch als konkrete Darstellung einer abstrakten Form umgesetzte Versuch, eine neue, eigene Lebensform zu finden, ist zum Scheitern verurteilt. Diese Verdichtung des vorangehenden Textes wird gestrichen, hier materialiter auf der Heftseite, später erneut auf einer zweiten Ebene: Kafka nimmt 1919 erst auf den Umbruchabzügen für den Landarzt-Band die Erzählung aus seiner sorgfältig geplanten und strukturierten Komposition heraus und publiziert sie vier Jahre später in der Morgen-Ausgabe der Prager Presse.

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Faksimiles in Farbe nur auf CD

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Bedauerlicherweise bietet auch dieser Band der FKA nur schwarz-weiße Faksimiles. Dabei geht signifikante Information verloren: Es gibt in den Oktavheften Tintenstift-Spuren von Kafkas Hand sowie Eingriffe späterer Editoren, wie die von Brod und Politzer eingefügten Absatzmarken, mit denen sie die von ihnen konstituierten Texte kennzeichnen. Lediglich auf der beigelegten CD sind alle Abbildungen in Farbe. Diese CD enthält die beiden faksimilierten Oktavhefte mit diplomatischer Umschrift, den faksimilierten Nachdruck des Landarzt-Bandes sowie das Franz Kafka-Heft 5 als PDF-Dateien. Mit einer einfachen Suchfunktion lassen sich Wörter, Satzteile und ganze Sätze über die diplomatische Umschrift dann in den Manuskripten finden. Der Vergrößerungsmodus ermöglicht ein Entziffern auch sehr komplexer Um- und Überschreibungsstellen in den Heften. Eine Verknüpfung zwischen Handschrift und diplomatischer Umschrift gibt es allerdings nicht.

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Eine letztlich konsequente Umsetzung des Konzeptes der Ausgabe, die die Manuskripte in ihrer Materialität möglichst authentisch dokumentieren will, wäre eine Farbfaksimilierung der Oktavhefte in Originalgröße gewesen. Begründeterweise ist der Anspruch der FKA eine »größtmögliche[n] Adäquanz an die Makrostruktur des überlieferten Materials«. 14 Dem entsprechend würde eine Ausgabe dann aus den Faksimiles der Hefte im Maßstab 1:1 bestehen und begleitet sein von einem Extraband mit den Transkriptionen als Lesehilfe nach Bedarf. Doch leider unterwirft sich auch dieser Band den verlagspragmatisch bedingten Normen und damit einem m.E. nicht nachvollziehbaren Diktat der notwendigen Einheitlichkeit von Gesamtausgaben.

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Faksimilierter Nachdruck des Landarzt-Bandes

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In dem Schuber des zu besprechenden Bandes ist ebenfalls ein faksimilierter Nachdruck der Erzählsammlung Ein Landarzt enthalten. Sichtbar wird darin das Bestreben des Verlegers Kurt Wolff, durch die Kombination von großer Schrifttype und schmalem Satzspiegel den verhältnismäßig geringen Umfang des zu veröffentlichen Konvoluts auszugleichen. Man fragt sich allerdings, warum die editorische Bemerkung von Roland Reuß, die im Vergleich zu den Informationen in der KKA (1994) sowie den einschlägigen Veröffentlichungen von Ludwig Dietz und Joachim Unseld nichts wesentlich Neues bringt, auch in diesen Nachdruck aufgenommen werden musste – leider nicht die Seitenzählung des Landarzt-Bandes fortführend, sondern eine eigene beginnend – und nicht in dem beigelegten Franz-Kafka-Heft 5 erscheinen konnte. So hat sich wohl auch dieser Editor nicht enthalten können, seinen eigenen Namen in das Buch des Autors zu setzen, das doch gerade so authentisch wie möglich dem Leser zugänglich gemacht werden sollte.

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Bei dem Einband handelt es sich nicht um den vermutlich ersten, sondern um einen späteren. Die unterschiedliche Gestaltung der erschienenen Erstdruckbände legt nahe, dass die im Frühjahr 1920 auf den Markt gebrachten Bücher nur einen Teil der Gesamtauflage ausmachten. Der Kurt Wolff Verlag lagerte weitere bereits gedruckte Bögen, um sie nach Bedarf zu binden und in den Handel zu bringen. Reuß begründet seine Entscheidung für eine solche spätere, vermutlich posthume Ausgabe folgendermaßen:

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Die Entscheidung, für das Faksimile diese Einbandart zu wählen, erklärt sich vornehmlich dadurch, daß wir ein Exemplar wiedergeben, das mit Kafkas Biographie enger zusammenhängt. Dora Dymant schenkte es 1928 ihrer Freundin Mine Meyer. Die Unterschrift ›Dora Dymant-Kafka‹ unter ihrer Widmung bezeugt, daß Sie sich noch vier Jahre nach Kafkas Tod als dessen Frau verstand. 15
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Interessant wäre auch gewesen, exakt jenen Einband zu sehen, in dem Kafka selbst die von ihm mit soviel Ausdauer verfolgte Veröffentlichung in den Händen hielt.

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In jedem Fall ist dieser faksimilierte Nachdruck ein Gewinn, zeigt er doch in aller Deutlichkeit die andere, öffentliche Seite von Kafkas Schreiben und dessen enge Verbindung zum handschriftlichen Schreibprozess, wie er in den Oktavheften dokumentiert ist. Dem Konzept der Ausgabe folgend finden sich im beigelegten Franz Kafka-Heft 5 auch drei Texte aus den ersten beiden Oktavheften, die zu Kafkas Lebzeiten außerhalb des Landarzt-Bandes erschienen sind: Der Kübelreiter, Schakale und Araber, Der neue Advokat. Auch damit wird die öffentliche Seite des Schreibens in den Heften deutlich.

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Zum Ton der Diskussion

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Die im beiliegenden fünften Franz Kafka-Heft befindliche aufschlussreiche Interpretation 16 der ersten beiden Oktavhefte wird leider leicht getrübt durch einen teilweise unsachlichen, aber spezifischen Ton des Editors. Warum kann es nicht eine sachliche Auseinandersetzung über die Chronologie der Oktavhefte geben? Unterstellungen tragen dazu nicht viel bei:

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Neuere Versuche, durch die Annahme gleichmäßiger Zeichenproduktion zur Datierung einzelner Entwürfe [zu] gelangen, entspringen mehr dem horror vacui, als daß sie den Befunden entsprächen. […] Eine wissenschaftliche Aussage ist nicht darum präzise, weil sie mit der Setzung eines Datums aufwarten kann; wenn aus den vorliegenden Materialien kein genaues Datum abzuleiten ist – wie im Falle der Aufzeichnungen, die sich in den ersten beiden Oktavheften finden – beschreibt ein dürres nescio den Sachverhalt angemessener. 17
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Mit bereits erschienenen Forschungen zum Thema Oktavhefte gibt es keine, bzw. nur eine indirekte Auseinandersetzung: »Dergleichen fast unmerkliche Abweichungen von der Standardsprache für unwillkürliche regionale Automatismen (›Pragismen-Theorem‹) zu halten, heißt nur den Gedanken stillstellen, bevor er sich entfalten kann«, 18 oder: »Lektüren, die sich um Kohärenz auf dieser Ebene bemühen, denken sich in solchen Fällen behelfsweise gerne […] den Ich-Erzähler als erinnernden.« 19

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Wünschenswert wäre eine sachliche Auseinandersetzung über Interpretations- und Editionsweisen der Kafkaschen Texte. Jede Edition ist innerhalb ihrer Paradigmen und Ansprüche zu beurteilen. Mit Sicherheit ist die Faksimilierung der Kafkaschen Oktavhefte ein diesem Schreiben in besonderer Weise angemessenes Verfahren.

 
 

Anmerkungen

Im Folgenden FKA.   zurück
Ein Meilenstein ist hier der von Davide Giurato und Stephan Kammer herausgegebene Sammelband: Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur. (Nexus) Frankfurt/M., Basel: Stroemfeld 2006.    zurück
Zumal gerade Kafkas Handschriften im Original für Forscher in den Archiven schwer zugänglich sind.   zurück
Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Apparatband. Hg. von Malcolm Pasley. Frankfurt/M.: S. Fischer 1993, S. 26 ff. Im Folgenden wird diese Ausgabe mit KKA abgekürzt.   zurück
Franz Kafka: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß . Hg. von Max Brod. New York, Frankfurt/M. 1953, S. 55–161.   zurück
Malcom Pasley / Klaus Wagenbach: Datierung sämtlicher Texte Franz Kafkas. Anhang. In: Jürgen Born u.a. (Hg.): Kafka-Symposion. Berlin 1965, S. 76 ff. Siehe ebenfalls Malcom Pasley: Franz Kafka Mss: Description and Select Inedita. In: The Modern Language Review 57 (1962), S. 53–59.   zurück
Roland Reuß: Zur kritischen Edition von »Der Process« im Rahmen der Historisch-Kritischen Franz Kafka-Ausgabe. In: Franz Kafka-Heft 1 (1997), S. 22.   zurück
Roland Reuß: Die ersten beiden Oxforder Oktavhefte Franz Kafkas. Eine Einführung. In: Franz Kafka-Heft 5 (2006), S. 6.   zurück
Der Einfachheit halber zitiere ich die zu besprechende Ausgabe folgendermaßen: FKA I für das Oxforder Oktavheft 1 und FKA II für das Oxforder Oktavheft 2, dahinter gleich die Seitenzahl des jeweiligen Bandes.   zurück
10 
KKA Nachgelassene Schriften und Fragmente I, S. 270.   zurück
11 
KKA Tagebuch, S. 431.   zurück
12 
So z.B. Donald P. Haase: Kafka’s Der Jäger Gracchus. Fragment or Figment of the Imagination? In: Modern Austrian Literature 11 (1978). Special Franz Kafka Issue, S. 319–332. Auf der Grundlage eines von Max Brod fehlerhaft konstituierten Textes kommt auch Hartmut Binder zu dem Schluss, dass es sich um eine »unbefriedigende Perspektivgestaltung« handelt. Siehe Hartmut Binder: Der Jäger Gracchus. Zu Kafkas Schaffensweise und poetischer Topographie. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 15 (1971), S. 372–440, hier S. 435.   zurück
13 
Rainer Nägele: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Versuch einer Interpretation zu Kafkas »Der Jäger Gracchus«. In: The German Quarterly 47 (1974), S. 60–72.   zurück
14 
Roland Reuß: Zur kritischen Edition von »Der Process« im Rahmen der Historisch-Kritischen Franz Kafka-Ausgabe. In: Franz Kafka-Heft 1, 1997, S. 21.   zurück
15 
Roland Reuß im faksimilierten Nachdruck von Ein Landarzt, S. 23.   zurück
16 
So zum Beispiel die einleuchtende, auch metrische Belegung der Selbstreflexivität des Eingangstextes im Oktavheft A, dessen erste gestrichene Passage sich insgesamt auf Kafkas poetologisches Selbstverständnis bezieht. Siehe Franz Kafka-Heft 5, S. 10 f.   zurück
17 
Roland Reuß in Franz Kafka-Heft 5, S. 4 f.   zurück
18 
Ebd., S. 16.   zurück
19 
Ebd., S. 10.   zurück