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Verführerisches aus Frankreich

Eine komparatistische Studie zur Rezeption libertiner Erzählliteratur in Deutschland

  • Yong-Mi Quester: Frivoler Import. Die Rezeption freizügiger französischer Romane in Deutschland (1730-1800). Mit einer kommentierten Übersetzungsbibliographie. (Frühe Neuzeit 116) Tübingen: Max Niemeyer 2006. XI, 308 S. Leinen. EUR (D) 78,00.
    ISBN: 3-484-36616-8.
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Was heißt ›freizügiger Roman‹?

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Viele der Texte, mit denen sich die vorliegende komparatistische Arbeit beschäftigt, erscheinen in Antiquariatskatalogen noch heute unter der Rubrik ›Erotika‹: französische Romane des achtzehnten Jahrhunderts, die ›freizügige‹ Begebenheiten wie die erotische Initiation, Verführung und Ausschweifung zum hauptsächlichen Thema haben. Die Studie von Yong-Mi Quester, eine Freiburger Dissertation, verfolgt systematisch die Aufnahme solcher Romane im Deutschland der Aufklärung und bietet erstmals einen Gesamtüberblick über die wechselnden Phasen der Rezeption. Sie schließt eine wirkliche Lücke in der Geschichte der deutsch-französischen Literaturbeziehungen und bietet zukünftigen Einzeluntersuchungen eine verlässliche Grundlage.

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Was ist aber überhaupt unter dem Begriff ›freizügiger französischer Roman‹ zu verstehen? Er deckt sich in etwa mit dem französischen roman libertin, und wie der originale bedarf auch der deutsche Ausdruck einer näheren Bestimmung. Ursprünglich bezeichnet libertin die laizistische, materialistische Tradition des Freidenkertums; erst allmählich verengte sich der Begriff der Libertinage auf die ›Zügellosigkeit‹ im sexuellen Bereich. Der freizügige Roman der Aufklärung ist somit vor diesem – durchaus ernstzunehmenden – philosophischen Hintergrund zu sehen: Wenn etwa ein Kloster als Schauplatz frivoler Affären gewählt wird, geschieht dies nicht allein des pikant-skandalösen Kontrastes wegen. Oft ist die erotische Ausschweifung nur ein Aspekt einer umfassenden Kritik an der Scheinmoral kirchlicher und weltlicher Autoritäten. Die Grenze zwischen den mondänen Romanen »de la bonne compagnie« von Marivaux und Laclos und der Masse von ›nur‹ erotischen Erzählungen ist aber nicht eindeutig zu ziehen. Ob ein freizügiger Roman als Vehikel freidenkerischer Ideen erkannt oder einfach als Erotikon betrachtet wird, ist wertungsabhängig und zeitbedingt. Die deutsche Rezeption im Aufklärungszeitalter machte hier oft keinen grundsätzlichen Unterschied: ›französisch‹, ›freidenkerisch‹, ›schlüpfrig‹ und ›frivol‹ wurden in der literarischen Diskussion zunehmend zu Synonymen.

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Quellenkorpus und Fragestellung

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Sollen bei der Frage, was als ›freizügiger Roman‹ gilt, die Maßstäbe des achtzehnten Jahrhunderts angelegt werden? Dabei liefe man Gefahr, unterschiedlichste Erzähltraditionen vergröbert unter einen Begriff zu fassen und problematische moralische Wertungen zu übernehmen: Viele Autoren, die noch über das achtzehnte Jahrhundert hinaus als pornographisch galten – zum Beispiel Crébillon fils oder Restif de la Bretonne –, gehören längst zum etablierten Kanon, und ehemals nur heimlich verbreitete Werke sind mittlerweile als Klassiker in die renommierte Bibliothèque de la Pléïade aufgenommen worden. 1 Sollen also umgekehrt neue, eigene Einteilungen vorgenommen werden? Damit wiederum würde aber unter Umständen voneinander gesondert, was das achtzehnte Jahrhundert als zusammengehörig betrachtet hat. Für eine Studie, die sich unter anderem mit den Lizenzen erotischer Darstellung beschäftigt, und damit auch mit der historisch variablen Grenze zwischen ›Literatur‹ und ›Pornographie‹, sind solche Vorentscheidungen von fundamentaler Bedeutung. Quester geht zunächst von einer erstaunlich offenen Definition aus: Als ›freizügige Romane‹ gelten all jene »längeren Formen fiktiver Erzählprosa« (S. 13), in denen »erotische Motive und Topoi die Gesamthandlung […] konstituierend prägen« (S. 21). Hinzu kommt ein erzähl-ästhetisches Kriterium: Die erotischen Begebenheiten sollen nicht bloß angedeutet oder ›heruntererzählt‹, sondern bildhaft beschrieben oder psychologisch ausgeleuchtet werden. Somit kommt nicht jedes beliebige Erotikon in Betracht, sondern nur literarisch anspruchsvollere Werke, deren Reiz weniger im Geschehen selbst als vielmehr im spannungsvollen Verhältnis zwischen äußerer Handlung und innerer Reflexion besteht. Mit dieser extensiven Definition können so unterschiedlich geartete Werke wie Prévosts Manon Lescaut aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert und die gegen 1800 entstandenen Romane des Marquis de Sade auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Solange diese Gemeinsamkeit die einzig wesentliche bliebe, wäre sie allerdings reichlich allgemein.

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Um die mannigfachen Ausprägungen besser erfassen zu können, fächert Quester ihr Korpus deshalb in verschiedene ›Romanformen‹ auf. Sie seien hier kurz erwähnt, damit das Spektrum der behandelten Werke ersichtlich wird. 2 Die erste Gruppe stellen die Memoirenromane dar: Hierzu gehören Crébillons Égarements du cœur et de l’esprit (1736–38), Louvets Amours du Chevalier de Faublas (1787–90) oder ›Briefbekenntnisse‹ wie Diderots Leidensgeschichte einer Nonne (La Religieuse, 1796). Weniger auf die innere Entwicklung einer Figur als auf ihr soziales Umfeld ausgerichtet sind die sogenannten romans cyniques (›Dirnenromane‹) wie d’Argens’ Nonnes galantes (1740), in denen zum Beispiel die gesellschaftlichen Stände exemplarisch an den Liebhabern einer Dame durchleuchtet werden. Mit seinen Romanfragmenten La Vie de Marianne (1731–37) und Le Paysan parvenu (1734/35) hat Marivaux oft nachgeahmte und parodierte Muster für den Aufsteigerroman vorgegeben. ›Sittenromane‹ (romans des mœurs) wie Laclos’ Liaisons dangereuses (1782), 3 welche die zeitgenössische Gesellschaft als korrumpiert und pervertiert zeichnen, schließen an die moralistische Tradition an. Dass der conte de fée, das Feenmärchen, mitbehandelt wird, mag zunächst überraschen. Nicht das höfische Märchen Perraults oder d’Aulnoys ist aber gemeint, sondern dessen libertine Variante, die den Pariser grande monde in exotischer Verkleidung satirisch vorführt: In Diderots Bijoux indiscrets (1748) werden Damen gezwungen, von ihren Affären zu berichten, wenn ein Zauberring auf ihr bijou gerichtet wird; in Crébillons Sopha (1742) erinnert sich ein Brahmane an die Begebenheiten, die sich in seinem früheren Leben als Kanapee auf ihm abgespielt haben. Gegen Ende des Jahrhunderts entsteht schließlich die ›dunkle‹ Variante des roman libertin, der roman noir: Beckfords ›conte arabe‹ vom Kalifen Vathek (1787), Saint-Cyrs Pauliska ou la Perversité moderne (1797/98) und natürlich die Romane des Marquis de Sade – Werke, die allerdings in Deutschland nur schwach rezipiert wurden. Alle Titel sind im bibliographischen Anhang der Studie verzeichnet (S. 251–286), den es eigens hervorzuheben gilt. Er bietet knappe Inhaltsangaben der benutzten Übersetzungen und verzeichnet ausführlich die Standorte der mehrheitlich schwer greifbaren Texte. Er darf damit als das bislang umfangreichste Verzeichnis dieser Romanübersetzungen gelten, die bis anhin nur unvollständig bibliographisch erfasst worden sind. 4

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Es leuchtet ein, dass eine Studie, die von einem solch gewaltigen Korpus von rund 140 Romanen ausgeht, nicht intensive Einzelstudien betreibt, sondern übergreifende Tendenzen der Rezeption auszumachen sucht. Der Längsschnitt ist an zwei Fragestellungen ausgerichtet: Wie hat das ›aufgeklärte‹ Deutschland die freizügigen Romane zwischen 1730 und 1800 beurteilt und aufgenommen? Und: Nach welchen Maßgaben sind diese Texte ins Deutsche übertragen worden? Im ersten Teil (S. 29–86) werden Rezensionen und andere Zeugnisse ausgewertet; 5 der zweite, umfangreichere Teil (S. 87–250) widmet sich exemplarisch einzelnen Übersetzungen. Die Vorarbeiten, auf die sich Quester dabei stützen konnte, sind spärlich gestreut. Zum ›Nachwirken‹ einzelner kanonisierter Autoren – Marivaux, Diderot, Prévost – liegt zwar eine Reihe von Monographien vor. 6 Ein umfassender Überblick, der den ›frivolen Import‹ nach Deutschland als Ganzes betrachtete, hat bislang jedoch gefehlt. Erschwerend kommt hinzu, dass die betreffenden Übersetzungen meist anonym erschienen und in der Regel von Bibliotheken nicht erfasst wurden. Wo heute größere Bestände vorhanden sind – vor allem in Wien, München und Göttingen –, handelt es sich in der Regel um Übernahmen privater Sammlungen von Erotika oder Curiosa. Bei einer solchen Ausgangslage dürfen keine gewagten Thesen oder kühnen Theorieexperimente erwartet werden. Es handelt sich vielmehr um eine sorgfältige, geduldige Auswertung entlegenen Materials, an dem allmähliche Richtungsänderungen und schließlich vorsichtig ›Phasenverschiebungen‹ abgelesen werden. Quester betont, dass die Übersetzungen neutral analysiert und nicht gewertet würden, »etwa ihr künstlerischer Abstand zum Original als ›Trivialisierung‹« (S. 192).

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Moralisierende Rezeption

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Die Voraussetzungen für die Aufnahme freizügiger Romane in Deutschland waren im frühen achtzehnten Jahrhundert alles andere als günstig. Der Roman wurde kaum oder nur unter großen Vorbehalten als literarische Gattung akzeptiert, denn Literaturkritik und Poetik stellten rigorose Forderungen an die Moral des Geschriebenen. In Frankreich hatten sich seit der Salonliteratur des siebzehnten Jahrhunderts das Vokabular und die Erzählsprache für psychologische Vorgänge und ›Liebesbegebenheiten‹ immer weiter differenziert. Das Lexikon der Galanterie und der Gefühlskultur stellte für die deutschen Übersetzer eine große Herausforderung dar – »der Stand der Literatursprache ist in beiden Ländern mitnichten vergleichbar« (S. 136). Wie werden also im Verlauf des Jahrhunderts die psychologisierende, ironische Sprachgebung, die Anspielungen auf den Pariser grande monde, die Lizenzen der Darstellung und die innovativen Erzähltechniken der freizügigen Romane ›eingedeutscht‹?

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Die beiden Hauptkapitel zur Rezeption und Übersetzung können hier nur in groben Zügen wiedergegeben werden. Quester zeigt zunächst, wie die Romane von Marivaux und Prévost als Beispiele eines neuartigen, ›realistisch‹-moralisierenden Typus gegen die barocken und galanten Romanformen ins Feld geführt wurden. Als interessante Ausnahme in der Rezeption des freizügigen Romans wird auf Herder verwiesen, der im Journal seiner Reise im Jahre 1769 französische libertine Autoren in seinen Entwurf eines Bildungsprogramms integriert. (Hier wäre vielleicht erwähnenswert gewesen, dass Herder noch 1795 von Schiller für eine Übersetzung von Diderots Religieuse angefragt wurde.) 7 Als mit Rousseaus Nouvelle Héloïse in Frankreich eine neue, sentimentale Romanmode einsetzt, verlagert sich auch das deutsche Interesse vom libertinen auf den sentimentalen Roman. Autoren wie Marmontel oder Baculard d’Arnaud treten in den Vordergrund; in den sechziger und siebziger Jahren setzt dann die öffentliche Rezeption freizügiger Romane nahezu aus. Ab 1770 beginnt aber eine dritte – bislang offensichtlich massiv unterschätzte – Rezeptionsphase: Französische Neuerscheinungen stoßen auf großes Interesse, werden aber so kontrovers wie nie zuvor beurteilt. Die französische Literatur gerät insgesamt in den Ruch des Schlüpfrigen und Unanständigen; ›erotische Literatur‹ und ›französische Literatur‹ werden zunehmend gleichgesetzt. 8 Das brisante ›transgressive‹ Potential der freidenkerischen Ideen wird dabei überhaupt nicht mehr beachtet. Laclos’ Liaisons dangereuses zum Beispiel werden in einer Übersetzung von 1798 moralisch ›verbessert‹: Mme de Merteuil bereut ihre Taten und widerruft ihr libertines System; eine Nachschrift erklärt zudem die Gründe ihrer Verdorbenheit. Dieser strengen Kritik am ›Immoralismus‹ französischer Romane steht aber ein anhaltendes, intensives Leserinteresse entgegen sowie ein vor allem von den Übersetzern propagiertes Konzept zweckfreier Unterhaltungsliteratur.

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Zunehmendes Selbstbewusstsein der Übersetzer

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Analog zur Rezeption lassen sich, so Quester, auch in der Geschichte der Übersetzung des freizügigen Romans drei Phasen unterscheiden. Die erste Rezeptionsphase ist bestimmt von den moralistischen Memoirenromanen Marivaux’ und Prévosts, die vor allem in inhaltlicher Hinsicht interessierten. Der kolloquial-spontane, Mündlichkeit suggerierende Stil der französischen Originale hingegen wurde im Deutschen zu einer neutraleren Diktion nivelliert. So gingen die ironischen Distanzierungen und Perspektivierungen sowie der lebhafte Ausdruck verloren – und damit die stilistischen Hauptmerkmale der französischen freizügigen Romane. Das Vokabular der Galanterie und der Gefühlskultur sowie die lokalen Sitten und Begebenheiten hätten die deutschen Übersetzer nicht adäquat umzusetzen vermocht, wie Quester unter anderem am Beispiel des Wortfelds coquetterie/›Buhlerei‹ aufzeigt (S. 139–142). Ab der Mitte des Jahrhunderts weitet sich die Übersetzertätigkeit in einer zweiten Phase auf das gesamte Spektrum des freizügigen Romans aus: Nachahmungen von Marivaux, Dirnenromane, Memoiren und literarischer Klatsch sowie vor allem die Feenmärchen werden in dieser zweiten Phase übertragen – zum Teil mit erheblicher Verspätung: In Frankreich ist die Mode der contes merveilleux zu diesem Zeitpunkt längst vorbei. Mehr und mehr werden dabei auch die stilistischen und erzählerischen Mittel berücksichtigt. Die Sprache des deutschen Romans sowie das Lesepublikum seien somit »durch eine jahrzehntelange Übersetzungstradition aus dem Französischen vorbereitet« (S. 156) worden, eine ›Vorarbeit‹, die Wieland und anderen innovativen Autoren der 1770er Jahre zugute kam.

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Den meisten Raum widmet Quester aber der dritten Rezeptionsphase zwischen 1770 und 1800, in der die deutschen Übersetzer ihre Vorlagen mit gesteigertem Selbstbewusstsein bearbeiten. An Einzelbeispielen wird die Spannweite von freien Übersetzungen über Bearbeitungen bis hin zu kompletten Nationalisierungen vorgestellt, wobei die letztgenannte Übertragungsart die eigenwilligsten Texte hervorgebracht hat. Beinahe ein halbes Jahrhundert nach ihrem Erscheinen überträgt etwa Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer Diderots Bijoux indiscrets unter dem Titel Die Verräther (1793). Die lokalen Verhältnisse und Allusionen sind hier durchgängig durch deutsche Entsprechungen ersetzt: Schauplatz ist nicht mehr Paris, 9 sondern Wien; es trifft sich nicht der Adel im Bois de Boulogne, sondern gebildetes Bürgertum im Prater. Anspielungen auf Voltaire werden durch solche auf Lessing ersetzt; 10 statt Crébillon liest man Wieland. Die Ersetzung von Hinweisen, die dem deutschen Publikum nicht (mehr) verständlich wären, durch ›deutsche‹ Analogien sollten aber nicht vorschnell als chauvinistische Ignoranz belächelt werden. Quester zeigt, dass es sich dabei auch um ein ambitioniertes Streben selbstbewusster Übersetzer nach größtmöglicher Adäquatheit handeln kann. Ebenfalls nach Wien versetzt ist eine ›nationalisierende‹ Übertragung von Marivaux’ Marianne unter dem Titel Josephe (1788) durch Friedrich Schulz. Die perspektivisch vielfach gebrochene Geschichte der französischen Marianne, die zwischen ihrem Liebhaber Valville und dessen Onkel Climal steht, verflacht Schulz zu einer einsträngigen Erzählung von Josephe, dem Baron von Törring und Herrn von Rost. Diese Verwandlung in einen konventionellen Unterhaltungsroman muss auch Quester als »Absage an die progressive Erzählweise Marivaux[’]« (S. 221) werten. Ausführlich besprochen wird schließlich eine Bearbeitung von Louvets Amours du Chevalier de Faublas durch Franz von Bilderbeck unter dem Titel Lenzheims Jugend (S. 222–236). Hier werden ganze Passagen entfernt oder umgeschrieben, eine schwankende Figur in zwei Personen gespalten und die Charaktere als Verkörperungen moralischer Prinzipien modelliert. Statt einem realistisch-psychologischen Gesellschaftsbild bietet die Übersetzung die aus dem deutschen Unterhaltungsroman bekannte Gegenüberstellung von ›deutscher Redlichkeit‹ und ›französischer Frivolität‹. 11

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Fazit

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In den Ausführungen zu den ›eindeutschenden‹ Übersetzungen gleitet die philologische Textbeschreibung unmerklich in eine Textinterpretation über. Hier zeigt sich das Potential, das in Rezeptionsstudien liegt, die nicht nur Abweichungen verzeichnen, sondern die ihnen zugrunde liegenden Übersetzungsprinzipien rekonstruieren. 12 Die vorhergehenden Kapitel bleiben dagegen zwangsläufig eher beschreibend und summarisch. Die Studie ist angesichts des größtenteils entlegenen Materials – zumeist anonymer Übersetzungen von nur Kennern bekannten Romanen – in erster Linie um Klarheit und Verständlichkeit bemüht. Der Text ist durch Einleitungen, Konklusionen, Resümees und Zwischenbilanzen übersichtlich durchstrukturiert (einige Feststellungen wie die der drei Phasen der Rezeption werden dabei etwas redundant immer wieder in Erinnerung gerufen). Die mit vielen Zitaten belegten Textvergleiche und Einzelbeobachtungen überzeugen durch Gründlichkeit und Präzision sowie die aus der Erzähl- und Übersetzungstheorie entlehnte Terminologie. Die wenigen Bemerkungen zur (deutschen und französischen) Romangeschichte selbst hingegen übernehmen manchmal etwas grob geschnitzte Thesen der älteren Literaturgeschichtsschreibung. So seien die ersten deutschen »Romane von literarischem Rang« (S. 31) bzw. von »literarischer Bedeutung« (S. 58) erst mit Wieland entstanden, »der als Pionier des deutschen Kunstromans gilt« (S. 31). Oder: »In Frankreich hatte die Nouvelle Héloïse dem in einer Krise stagnierenden Sittenroman in den 1760er Jahren neuen, sentimental-moralisierenden Elan gegeben« (S. 157). Solche vereinfachenden Vorstellungen der Ablösung einer Romanform durch eine andere stehen im Widerspruch zu den allmählichen Verschiebungen der Gattungskonventionen, wie sie Quester selbst nachzeichnet. Zudem wäre zu beachten, dass die ambivalente Aufnahme französischer galanter und ›libertiner‹ Romanmodelle nicht erst im Aufklärungszeitalter zu einem spannungsvollen Verhältnis führt, sondern bis ins siebzehnte Jahrhundert zurückreicht. 13

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Ausblick

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Welche Impulse kann die Arbeit weiterer Forschung geben? Zum einen weist Quester nach, dass die Rezeption französischer freizügiger Romane kontinuierlicher und intensiver gewesen ist als bislang vermutet. Insbesondere die in der Germanistik hartnäckig vertretene These, dass mit Richardson und Fielding der englische Roman das französische Gattungsmodell völlig verdrängt habe, wird dadurch erheblich in Frage gestellt. Aussichtsreich wäre deshalb eine Studie, die einmal den parallelen, konkurrenzierenden Einfluss der englischen und französischen Romanmodelle untersuchte. Questers Studie zeigt zum anderen, wie sich die zeitgenössische Reflexion über die Gattung zeitweise völlig von der tatsächlichen Romanpraxis und vom Lesergeschmack entfernt: Trotz (oder gerade wegen?) der massiven Kritik an den freizügigen Romanen blieben sie offenbar eine beliebte Lektüre – allerdings ohne in Deutschland eine entsprechende Tradition erotischer Literatur anzuregen. In deutschen Originalromanen des späten achtzehnten Jahrhunderts spielen die freizügigen Themen denn auch nie eine so zentrale Rolle wie im französischen Roman, sondern treten als eines von vielen unterhaltenden Elementen auf. Dass sich nicht nur Unterhaltungsautoren, sondern auch Schriftsteller wie Wieland (Der neue Amadis, Don Sylvio, Der goldene Spiegel), Wezel (Belphegor) oder Klinger (Die Geschichte vom Goldenen Hahn) intensiv mit dem freizügigen französischen Roman beschäftigt haben, ist seit langem bekannt und teilweise erforscht. Motivische Übernahmen sind auch relativ leicht nachzuweisen; die schwierigere, undankbarere Aufgabe, die Quester übernommen hat, ist es, die ›unterirdische‹ Einwirkung jenseits der ›oberflächlichen‹ Entlehnungen freizulegen: so etwa die Übernahmen gewisser Erzählstrukturen aus dem französischen Roman oder die allmähliche Anreicherung der deutschen Literatursprache durch die biegsame Mündlichkeit der französischen Literatur. Hier hat der ›frivole Import‹ offenbar weit nachhaltiger gewirkt als bislang angenommen. »[W]erden die Übersetzungen miteinbezogen, gewinnt die Geschichte des deutschen Romans erheblich an Kontinuität« (S. 156): Diesen überzeugend nachgewiesenen Befund an weiterem Material zu prüfen, wäre eine vielversprechende Aufgabe.

 
 

Anmerkungen

Romanciers libertins du XVIIIe siècle. Éd. établie sous la direction de Patrick Wald Lasowski. (Bibliothèque de la Pléïade 472) Paris 2000. Seltenere Texte finden sich auch in der Reihe »Collection XVIIIe siècle« bei Desjonquères.   zurück
Ein solcher ›weiter‹ Begriff des roman libertin ist in der neueren Forschung durchaus verbreitet. Vgl. z.B.: Jacques Rustin: Le vice à la mode. Étude sur le roman français du XVIIIe siècle de Manon Lescaut à l’apparition de La Nouvelle Héloïse (1731–1761). Paris 1979; Catherine Cusset: Les romanciers du plaisir. Essai. (Les dix-huitièmes siècles 15) Paris 1998.   zurück
Wohl versehentlich fehlt der Roman in der der Untersuchung vorangestellten Liste der behandelten Werke.   zurück
Bislang maßgebend: Hans Fromm: Bibliographie der Übersetzungen aus dem Französischen 1700–1948. Baden-Baden 1950–1953; Ernst Weber / Christine Mithal: Deutsche Originalromane zwischen 1680 und 1780. Eine Bibliographie mit Besitznachweisen. Berlin 1983.   zurück
Viele der Quellen sind im zweiten Band von Ernst Webers pionierhafter Anthologie zur Romantheorie greifbar: E. W. (Hg.): Texte zur Romantheorie II (1732–1780). Mit Anmerkungen, Nachwort und Bibliographie von Ernst Weber. München 1981.   zurück
Die wichtigsten monographischen Studien: Hugo Friedrich: Abbé Prevost in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Empfindsamkeit. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 12) Heidelberg 1929; Joachim Abrahams: Diderot, Französisch und Deutsch. In: Romanische Forschungen 51 (1937), S. 27–70, 305–388; Roland Mortier: Diderot en Allemagne (1750–1850). Paris 1954 [dt. Diderot in Deutschland 1750–1850. Stuttgart 1967]; Roswitha Kramer: Marivaux’ Romane in Deutschland. Ein Beitrag zur Rezeption des französischen Romans in Deutschland im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1976; Anne Saada: L’Accueil de Crébillon fils en Allemagne au XVIIIe siècle. In: Revue de littérature comparée 76 (2002), S. 343–354; A. S.: Inventer Diderot. Les constructions d’un auteur dans l’Allemagne des Lumières. Paris 2003.   zurück
Vgl. Johann Gottfried Herder: Briefe. Siebenter Band: Januar 1793–Dezember 1798. Bearbeitet von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. Weimar 1982, S. 204 (Nr. 203, an Schiller, 23.12.1795).   zurück
Reichhaltiges Material bietet die monumentale Anthologie: Ruth Florack (Hg.): Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur. Stuttgart, Weimar 2001.   zurück
Les Bijoux indiscrets spielen genaugenommen am Hof des kongolesischen Sultans Mangogul; es handelt sich aber um eine ziemlich durchsichtige Verkleidung der Pariser bzw. Versailler Verhältnisse unter Louis XV.   zurück
10 
Vgl. hierzu die Miszelle: Yong-Mi Quester: Lessing als deutscher Voltaire – Zu einer Übersetzung der Bijoux indiscrets von Diderot aus dem 18. Jahrhundert. In: Lessing Yearbook 34 (2002), S. [35]–39.   zurück
11 
Interessanterweise lassen sich umgekehrt bei französischen Übersetzungen deutscher Romane gegen Ende des Jahrhunderts dieselben Tendenzen zur nivellierenden Übersetzung und zur Hervorhebung nationaler Stereotypen feststellen. Hier handelt es sich anscheinend auch um allgemeine Verfahren der Anpassung an ein Modell anspruchsloser Unterhaltungsliteratur. Vgl. allg.: Wilhelm Graeber: Der englische Roman in Frankreich: 1741–1763. Übersetzungsgeschichte als Beitrag zur französischen Literaturgeschichte. (Studia Romanica 85) Heidelberg 1995.   zurück
12 
Ein innovatives Beispiel einer solchen Übersetzungsstudie bietet z.B.: Thomas O. Beebe: Clarissa on the continent. Translation and seduction. University Park 1990. Darin wird u.a. auch eine weitere ›Eindeutschung‹ von Friedrich Schulz behandelt (S. 182–185), seine »Überpflanzung« (Schulz) von Richardsons Clarissa unter dem Titel Albertine.   zurück
13 
Vgl. z.B.: Thomas Borgstedt / Andreas Solbach (Hg.): Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle. (Studien zur Neueren deutschen Literatur 6) Dresden 2001.   zurück