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Die Bücherflut der Frühen Neuzeit
im Spiegel der philosophischen und
wissenschaftlichen Literatur

  • Dirk Werle: Copia librorum. Problemgeschichte imaginierter Bibliotheken 1580-1630. (Frühe Neuzeit 119) Tübingen: Max Niemeyer 2007. X, 590 S. Leinen. EUR (D) 142,00.
    ISBN: 978-3-484-36619-0.
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Gegenstand und Methode

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Das ist die für den Druck überarbeitete Version der 2005 an der Humboldt-Universität in Berlin eingereichten Dissertation des Literaturwissenschaftlers Dirk Werle. Das Thema des Werks sind imaginierte Bibliotheken, worunter Bibliotheken zu verstehen sind, die es nicht in der Realität, sondern lediglich in der Vorstellung gibt. Die Bibliothek als Motiv in literarischen, vor allem philosophischen und wissenschaftlichen Texten des Frühbarock steht damit im Zentrum. Die Zeit zwischen 1580 und 1630 ist für eine derartige Untersuchung sehr ergiebig, zeichnet sie sich doch durch eine ausgesprochen breite Vielfalt untersuchenswerter Publikationen aus und ist gleichzeitig in vielerlei Hinsicht eine Übergangszeit.

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Den methodischen Ansatz seiner vorrangig literaturhistorischen Untersuchung umreißt Werle »als das Projekt einer diskurstheoretisch informierten und metaphorologisch orientierten literaturwissenschaftlichen Ideengeschichtsschreibung auf der Basis philologisch elaborierter Textanalysen« (S. 36). Die Studie fußt also methodisch auf der von Michel Foucault entwickelten Diskursanalyse, vor allem aber auf einer literaturwissenschaftlich geprägten Ideengeschichtsschreibung. Nicht einschlägig vorgebildete Leser, die dieses Buch in der Hoffnung auf die Bereicherung ihres buch- und bibliothekshistorischen Wissens zur Hand nehmen, müssen sich erst in diese für sie ungewohnte Terminologie einfinden. Sie werden, sofern sie zu Beginn über das nötige Durchhaltevermögen verfügen, aber reichlich belohnt. Oft erschließt sich der geradezu stupende Inhaltsreichtum dieses Werks erst bei der erneuten Lektüre. Die von Werle vorgestellten Texte eröffnen häufig völlig neue Blicke auf das Thema Bücher und Bibliotheken.

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Quellen

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Die Arbeit Werles spiegelt die eingehende und langjährige – bereits die Magisterarbeit des Verfassers galt dem gleichen Thema – Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Originaltexten wider. Die von Werle für seine Untersuchung ausgewählten Texte sind überwiegend mittel- und westeuropäischer Herkunft, verfasst wurden sie im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert. Es ist Werle hoch anzurechnen, dass er sich bei der Bearbeitung dieser Thematik nicht mit Übersetzungen begnügt, sondern durchgehend auf die Originalliteratur zurückgegriffen hat. Die zahlreichen Zitate belegen die immense Belesenheit des Autors ebenso wie seine ausgezeichnete Kenntnis des Neulateinischen. Da die vielen in den Text aufgenommenen, vor allem neulateinischen Zitate für das Textverständnis durchaus unverzichtbar sind, wären aber sicherlich nicht wenige Leser für die Hinzufügung einer Übersetzung dankbar. Dies hätte der Lesbarkeit des Buches gut getan und auch sicherlich die Zahl potentieller Leser, gerade unter Nichtphilologen, erhöht.

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Imaginierte Bibliotheken
in der Literatur um 1600

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Der erste der drei Hauptteile bietet eine Einführung in die inzwischen zum Modethema gewordene Behandlung des Bibliotheksmotivs in der Literaturwissenschaft der letzten Jahre. In diesem Zusammenhang führt Werle auch den von ihm neu entwickelten Begriff der imaginierten Bibliothek ein, unter der er eine nicht real existierende Bibliothek versteht, die in einem fiktionalen oder nicht-fiktionalen Text vorkommt. Gleichzeitig wird im ersten Hauptteil auch das Verhältnis von Büchern und Wissenschaft um 1600 erörtert. Die Darstellung der medialen Veränderungen ist für die Einordnung der im nachfolgenden Hauptteil vorgestellten Texte äußerst hilfreich.

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Behandelten frühere literaturwissenschaftliche Arbeiten nahezu ausschließlich das Vorkommen des Bibliotheksmotivs in der schönen Literatur, so nimmt Werle im zweiten Hauptteil vor allem unterschiedliche Texttypen »philosophischer und gelehrter Provenienz« ins Visier. Er zeigt an ausgewählten Einzelbeispielen auf, welche Bedeutung das Nachdenken über Bücher und Bibliotheken in der frühneuzeitlichen (Gelehrten-)Welt und Literatur hatte. Werle behandelt dabei ausnahmslos imaginierte Bibliotheken, also solche, die es lediglich in der Vorstellung gibt.

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Derartige nur in der Vorstellungswelt vorhandene Bibliotheken begegnen in der Bibliothekslyrik, der aufkommenden Essayistik, den Bibliothecae (eine Vorläuferform der modernen Bibliographien), der utopischen sowie der schönen Literatur ebenso wie in Bibliothekstraktaten. Vorgestellt werden unter anderem Texte des Theologen Johann Valentin Andreae, des Späthumanisten Johann Fischart, des Essayisten Michel de Montaigne oder des Bibliothekars und Wissenschaftsorganisators Gabriel Naudé.

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Die ausgewählten Beispiele dienen Werle dazu, dem Umgang mehr oder weniger bekannter Autoren mit der Überfülle an alten und neuen Büchern – eben der copia librorum – nachzugehen; zentral ist dabei die Frage, welche Rolle imaginierte Bibliotheken für die Konstruktion von Ordnungen des ständig anwachsenden Wissens spielten. Gleichzeitig aber sind imaginierte Bibliotheken ein Spiegelbild der Reflexion über diesen Wissenszuwachs. Nicht selten werden dabei auch für Buchhistoriker interessante Gebiete angerissen, so etwa die Entstehung der Frühformen der modernen Bibliographie. Für Bibliothekshistoriker sind vor allem Werles Darlegungen zu Naudés Advis pour dresser und bibliothèque von 1627, das als das früheste Werk der neu entstehenden Bibliothekswissenschaft gilt, von großem Interesse. Noch heute Bibliothekare bewegende Fragen, etwa zur Ordnung von Bibliotheken, werden darin von Naudé behandelt. Aber er entwickelt in diesem Werk eben auch Gedanken zum idealen Bestand einer Bibliothek, imaginiert also selbst eine Bibliothek.

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Der dritte Hauptteil nimmt sich thematisch-inhaltlicher Fragestellungen an, die die vorgestellten Texte durchziehen. Werle geht darin dem Verhältnis der vielen Bücher in der Bibliothek zu dem einen Buch – sei dies nun die Heilige Schrift oder das Buch der Natur – nach. Weiterhin untersucht er in diesem Hauptteil die Bibliothek als Bild für das individuelle wie das allgemeine Gedächtnis, mit der Gedächtnismetapher eng verknüpft ist das Verhältnis von Universalbibliothek und Bibliotheksbrand sowie die Rolle von Kanonisierung und Zensur in der Bibliothek. Vor allem die Frage, ob eine Bibliothek einer Enzyklopädie oder einem Labyrinth gleicht, also die Frage nach der Ordnung oder Unordnung des angehäuften Wissens, erlaubt es dem Leser, Bezüge zwischen der Gegenwart und der Diskussion im Frühbarock herzustellen. Ein sich anschließender, eher etwas lose verbundener Epilog versucht von den vorgestellten Texten den Bogen zu den Überlegungen zur kombinatorischen Universalbibliothek bei Leibniz und Borges zu spannen.

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Fazit

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Werles Buch ist vorrangig eine literaturhistorische Arbeit, die jedoch aus ihrer spezifischen Perspektive heraus auch Beiträge für aktuelle, nicht nur die Bibliothekswelt bewegende Diskussionen bietet. Wie die Menschen um 1600 leben auch wir in einer Zeit eines vielfach als bedrohlich empfundenen Wissenswachstums. Für Leser mit buch- und bibliothekshistorischem Hintergrund regt das Buch aber vor allem zum Nachdenken über das eigene Forschungsfeld an. Die vielen neuen Eindrücke, die Werles Arbeit vermittelt, lassen es als nahe liegend erscheinen, in einer verstärkt interdisziplinären Arbeitsweise die Zukunft der oft sehr isoliert arbeitenden Buch- und Bibliotheksgeschichte zu sehen.

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In erster Linie richtet sich dieses Buch an Literaturwissenschaftler, die sich, vorrangig in der Germanistik und der Romanistik, mit der Frühen Neuzeit beschäftigen. Doch entwickelt es im zweiten und dritten Hauptteil einen stark interdisziplinären Ansatz und ist deshalb auch für Historiker, die sich mit der Buch-, Bibliotheks-, Geistes- und Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit beschäftigen, eine anregende und inhaltsreiche Lektüre.

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Es ist zu hoffen, dass Dirk Werle mit seiner materialreichen Problemgeschichte imaginierter Bibliotheken zu zahlreichen weiteren, für Buch- und Bibliothekshistoriker relevanten Forschungen anregt.