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Diebstahl zum öffentlichen 'Wohl'

Die Österreichische Nationalbibliothek im und
nach dem Dritten Reich

  • Murray G. Hall / Christina Köstner: »... allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern ...«. Eine österreichische Institution in der NS-Zeit. Wien: Böhlau 2006. 617 S. 142 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 59,00.
    ISBN: 978-3-205-77504-1.
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2004 präsentierte die Österreichische Nationalbibliothek die Ausstellung Geraubte Bücher. Die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer Vergangenheit. Zwei der drei Autoren des zugehörigen Ausstellungskatalogs 1 , Murray G. Hall und Christina Köstner, legen mit den anzuzeigenden Band eine Monographie zur Geschichte der Wiener Nationalbibliothek in der NS-Zeit vor. Die Publikation ist das Ergebnis eines zweijährigen, von der Österreichischen Nationalbibliothek initiierten Forschungsprojektes, dessen Ziel die »längst fällige Beseitigung von Erinnerungslücken und braunen Schatten« 2 war. Im Mittelpunkt des Buches steht die Bestands- und Erwerbungsgeschichte des Hauses von 1938 bis 1945, umrahmt von dahinter zurücktretenden, der Allgemeingeschichte gewidmeten Kapiteln.

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Der ›Anschluss‹ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 war auch im bibliothekarischen Bereich von langer Hand geplant. Der Leiter der Nationalbibliothek, Josef Bick (1880–1952), wurde als ›Systempolitiker‹ umgehend verhaftet. Entscheidende Bedeutung kam seinem Nachfolger zu, dem Historiker Paul Heigl (1887–1945), der einerseits ein fachlich ausgewiesener Bibliothekar, andererseits ein linientreuer Nationalsozialist war. Er wurde im heutigen Slowenien geboren und hatte sich schon 1927 durch Veröffentlichung einer gegen Freimaurer und Juden gerichteten Propagandaschrift einschlägig hervorgetan. Heigl trat im Mai 1933 in die in Österreich verbotene NSDAP ein, wurde 1934 aus politischen Gründen verhaftet, im April 1935 nach Deutschland abgeschoben und war in der Folge an der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin tätig. Nach dem Vorbild seines Vorgängers wurde dem überaus ehrgeizigen Heigl eine große Machtfülle zuteil. Im Wettbewerb mit Berlin und München versuchte er die Wiener Nationalbibliothek, deren Personal dem Nationalsozialismus in der Summe eher reserviert gegenüberstand, an die Spitze des deutschen Bibliothekswesens zu bringen. Da er der nationalsozialistischen Politik vorbehaltlos verhaftet war, unterstützte er die Verfolgungen der Gegner des neuen Regimes und die Beschlagnahmungen ihres Besitzes ohne Gewissensbisse und arbeitete zum ›Wohl‹ seiner Einrichtung eng mit Organen wie der Gestapo zusammen. Aus dieser Ideologie ist es auch abzuleiten, dass Heigl sich gegen Plünderungen von Bibliotheken wandte, die nicht zu den vom Regime definierten Feinden gehörten, da solche Handlungen einer ›europäische[n] Grossraumpolitik‹ (S. 360) entgegen ständen. Verwerfungen zeigten sich lediglich, wenn er versuchte, den Zugriff von Berliner Institutionen auf österreichische Bestände abzuwehren, beispielsweise im Falle der aufzulösenden Wiener Ministerialbibliotheken.

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Mehrere Verfolgungswellen und Raubzüge bis 1945

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Das NS-Regime beschlagnahmte bis 1945 in mehreren Verfolgungswellen den Besitz seiner Gegner. Bücher, Handschriften und andere für Bibliotheken relevante Materialien wurden entweder vernichtet, materiell verwertet oder vorhandenen Bibliotheken und neu zu errichtenden Institutionen zugeschlagen. Zu nennen wären neugeschaffene ›Gegnerbibliotheken‹ unter anderem im Reichssicherheitshauptamt in Berlin und die verschiedenen Institute zur ›Erforschung der Judenfrage‹. Heigl selbst plante die Errichtung eines eigenen Instituts dieser Art in Triest. Eine weitere, ebenfalls nicht verwirklichte Idee dieser Art war das im April 1938 erstmals fassbare Projekt der Begründung einer ›Führerbibliothek‹ in Linz, zu deren Vorbereitung rechtmäßig und unrechtmäßig erworbenes Bibliotheksgut akkumuliert wurde und auch die Nationalbibliothek in großem Umfang Dubletten bereitstellen wollte.

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Unmittelbar nach dem ›Anschluss‹ setzte die erste Verfolgungswelle ein, bei der große Materialmengen beschlagnahmt wurden, darunter die gesamten Lagerbestände missliebiger Verlage und Buchhandlungen mit verbotener und nicht verbotener Literatur. Aus einem Kompetenzgerangel verschiedener NS-Institutionen um die wohl bis zu 2 Millionen betroffenen Bände ging die zuerst im Gebäude der verbotenen Wiener Loge ›Humanitas‹ untergebrachte und später in die Nationalbibliothek überführte ›Bücherverwertungsstelle‹ hervor. Nach einem Bericht des dort arbeitenden Leipziger Bibliothekars Albert Paust vom Mai 1939 wurden bis dahin etwa 650.000 Bände sortiert, 400.000 davon vernichtet.

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Die Sammlungsbestände der Österreichischen Nationalbibliothek im Dritten Reich

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Den Hauptteil des Buches nimmt die Vorstellung der einzelnen Sammlungsbestände der Nationalbibliothek ein. Auf einen Überblick über die Geschichte der einzelnen Abteilungen, ihrer Organisation und ihres Personals folgt die Rekonstruktion der weit überwiegend unrechtmäßigen Erwerbungen in der NS-Zeit, die zum großen Teil auf jüdische Privatbibliotheken in Wien zurückgehen, sowie der Restitutionen nach 1945. Offensichtlich bestand bis 1938 in Wien eine lebendige Kultur hochkarätiger Privatsammlungen, die umgehend zerschlagen wurden, wenn die Besitzer als Feinde des Regimes galten. Nach dem ›Anschluss‹ wurde die in Deutschland bereits weit fortgeschrittene Entrechtung der Juden auf Österreich übertragen. Für die Flucht stand den Betroffenen nur ein kleines Zeitfenster bis zum Beginn der Deportationen in den Jahren 1941 und 1942 zur Verfügung. Ihres Besitzes wurden die Emigrationswilligen auf perfide Weise beraubt. Mit Stand April 1938 mussten Juden ihr Vermögen anmelden. Wenn sie sich aufgrund der politischen Lage zur Auswanderung entschlossen und ihre Sammlungen mit sich nehmen wollten, erhob die ›Zentralstelle für Denkmalschutz‹ Einspruch gegen die ›drohende Verschleppung wertvoller Kulturgüter ins Ausland oder seine Vernichtung‹ (S. 302). Im Falle von Bibliotheksbeständen führte dies zu einem Eingreifen des stets bestens informierten Heigl in enger Zusammenarbeit mit der Gestapo. Die Deportation und Ermordung des Albanologen Norbert Jokl steht beispielsweise in engem Zusammenhang mit dem Zugriff auf seine Sammlungen. Die Hauptmasse der unrechtmäßigen Erwerbungen der Nationalbibliothek in der NS-Zeit geht auf Beraubungen in diesem Zusammenhang zurück.

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Geringer waren die Zugewinne der Nationalbibliothek im Zuge einer weiteren Verfolgungswelle, die die katholische Kirche traf. Bis 1941 wurden, mit Ausnahme von Niederösterreich, alle Stifte aufgehoben und ihr Besitz, wie im Falle Klosterneuburgs, als ›staats- und volksfeindliches Eigentum‹ (S. 400) beschlagnahmt. Gegen die jeweiligen Gauleitungen, die die Oberhoheit über die aufgehobenen Klöster und ihre Bibliotheken beanspruchte, konnte sich Heigl mit seinen Ansprüchen allerdings nicht durchsetzen, so dass seiner Bibliothek überwiegend nur die Fachaufsicht verblieb.

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Eine dritte große Raubkampagne steht in Zusammenhang mit der NS-Herrschaft über Norditalien nach dem Sturz Mussolinis im Juli 1943, der sogenannten ›Operationszone Adriatisches Küstenland‹. Zentrum der sofort einsetzenden Judenverfolgungen war die Hafenstadt Triest, wo die Synagoge der großen Gemeinde als Sammelplatz für das beschlagnahmte Bibliotheksgut diente. Die Verbringung des Raubguts nach Österreich und Deutschland und seine Verteilung waren aufgrund des Vorrückens der Front allerdings nicht mehr zu bewerkstelligen.

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Die Restitutionen nach Kriegsende

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Im April 1945 beging Heigl mit seiner Frau Selbstmord, nachdem er einschlägige belastende Akten vernichtet hatte. Zu seinem Nachfolger wurde der 1938 abgesetzte Direktor Josef Bick ernannt. Bis etwa 1950 zogen sich die Restitutionen des ermittelbaren geraubten Bibliotheksgutes hin, wobei die Beweislast letztlich auf die Opfer abgewälzt wurde, die ihre Ansprüche aktiv anmelden mussten. In vielen Fällen führte die bibliothekarische Sammelleidenschaft auch nach dem Ende des NS-Regimes zu hinhaltendem Widerstand. Zum Teil sahen sich die Besitzer oder ihre Erben gezwungen, die (seit 1945) Österreichische Nationalbibliothek, die die Schuld an den Zuweisungen ganz der Gestapo zuschob, durch Schenkungen für die ›treuhänderische Verwaltung‹ ihrer Sammlungen zu entschädigen. Eine Kehrtwende stellte das österreichische Kunstrückgabegesetz von 1998 vor, das die Beweislast der aufbewahrenden Institution zuwies. Im 2003 veröffentlichten Provenienzbericht der Österreichischen Nationalbibliothek konnten 25.000 bedenkliche Objekte und zwei Nachlässe namhaft gemacht und zur Restitution empfohlen werden.

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Nach Schätzungen der Autoren erwarb diese Institution während der NS-Zeit etwa 500.000 geraubte Bücher. Insbesondere aufgrund des Personalmangels und anderer Einschränkungen der Kriegszeit wurden bis 1945 hiervon lediglich etwa 15.000 Titel einsigniert. Die Rekonstruktion der einzelnen Entfremdungen ist aufgrund der großen Menge beschlagnahmten Materials und den vielen Betroffenen in ganz unterschiedlichem Maß möglich. Nach heutigem Wissensstand übernahm die Nationalbibliothek, so lässt sich resümieren, »eine weder von der Menge noch vom Umfang noch von der Provenienz her dokumentierbare Anzahl von Privat- oder Teilbibliotheken« (S. 214). Die Opfer oder ihre Erben erhielten ab 1945 im Regelfall nur Anteile ihrer Sammlungen zurück, vieles ist bis heute verschwunden. Mit den Restitutionen in der Folge des Provenienzberichts von 2003 konnte sich die Österreichische Nationalbibliothek von den noch vorhandenen Raubgutresten befreien.

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Fallbeispiel für eine linientreue NS-Bibliothek

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Die beiden Autoren haben mit ihrer Monographie im Gefolge der Ausstellung von 2004 eine detaillierte Darstellung der Nationalbibliothek in der NS-Zeit vorgelegt, in deren Mittelpunkt die unrechtmäßigen Erwerbungen stehen. Es ist ihnen gelungen, die Mechanismen der Entfremdungen aufzuzeigen und den Umfang des Raubgutes deutlich werden zu lassen. Mit Paul Heigl wird ein überzeugter Nationalsozialist als Täter beschrieben, der sich persönlich nie bereicherte und der subjektiv seine Institution nach Kräften fördern wollte, dem aber in seinem Handeln aufgrund der staatlich vorgegebenen Ideologie jegliches Unrechtsbewusstsein und jegliche Moral fehlten. So ist diese Abhandlung nicht nur als Bibliotheksgeschichte, sondern auch als Fallbeispiel für das Funktionieren einer totalitären Diktatur zu lesen, die sich willkürlich ihre eigenen Gesetze und Werte schuf. Der reich illustrierte Band zeigt viele Fotos der Mitarbeiter der Zeit sowie Innenansichten der Nationalbibliothek und wird durch einen umfänglichen Anmerkungenapparat ergänzt.

 
 

Anmerkungen

Murray G. Hall / Christina Köstner / Margot Werner (Hg.): Geraubte Bücher. Die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek 2004.   zurück
Österreichische Nationalbibliothek, Newsletter Nr. 3, September 2006, S. 5.   zurück