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Die Kunst der offenen Grenzen

  • Johan Schimanski / Stephen Wolfe (Hg.): Border Poetics De-Limited. (TROLL Tromsøer Studien zur Kulturwissenschaft 9) Hannover: Wehrhahn 2007. 256 S. Broschiert. EUR (D) 25,00.
    ISBN: 978-3-86525-030-8.
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Das Themengebiet der interdisziplinären border studies hat sich mittlerweile weltweit etabliert. Konferenzen, wissenschaftliche Vereinigungen, Zeitschriften und eine steigende Anzahl von Monographien und Fachaufsätzen widmen sich aus unterschiedlichster Perspektive der Fragestellung nach der kulturellen, politischen, ästhetischen und lebensweltlichen Bedeutung der Grenze, Grenzziehung und Grenzüberschreitung in symbolischer, metaphorischer wie topographischer Hinsicht. In der vor allem englischsprachigen Literaturwissenschaft widmen sich die border poetics der Frage, mit welchen Strategien in Narrativen institutionelle, nationale und generische Grenzen hergestellt und überschritten werden können. Damit bearbeitet dieser Forschungsansatz freilich ein angestammtes Untersuchungsfeld der strukturalistisch und poststrukturalistisch geprägten Literatur- und Kulturwissenschaft. Die neuen Impulse, die dieser Band aufgreift, stammen unter anderem aus dem Umfeld des spatial turn, aus dem auch die border studies erwachsen sind, und zielen auf die Auseinandersetzung mit Raum und Grenze als kulturellen Größen, die geographisch, politisch, historisch, sozial und künstlerisch bestimmt sind, und die ihrerseits diese Bereiche prägen. Ausgangspunkt ist also ein neuer Forschungsansatz, der einerseits Innovationspotential bietet, sich andererseits aber in seiner Reichweite und seinem heuristischen Potential erst noch bewähren muss.

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Der in vier Großkapitel (Aesthetics, Media, Zones und Reading) eingeteilte Sammelband von Johan Schimanski und Stephen Wolfe – beide Herausgeber lehren als Associated Professors am Departement of Culture and Literature der norwegischen Universität Tromsø – thematisiert ›Grenze‹ vor allem in sozial- und kulturwissenschaftlicher Hinsicht und mit Bezug auf die Debatten um Identität, Medialität, Ethnizität und Geschlecht. Der Band vereinigt die Ergebnisse zweier Tromsøer Symposien aus den Jahren 2004 und 2005, ergänzt durch einen Beitrag von David Newman. Ein umfangreicher Index erleichtert das Auffinden der angesprochenen Schlüsselbegriffe und Autoren.

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Instabilitäten als Orte der
Neuverhandlung von Grenze

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Wie die beiden Herausgeber in ihrem Einleitungskapitel hervorheben, haben border practices und theories das gemeinsame Ziel, die Grenze als Bereich von Instabilität in Fragen von Kultur, Ethnizität und Politik neu zu verhandeln. Mit dem französischen Soziologen und Kulturphilosophen Michel de Certeau gehen sie davon aus, dass durch Narrative Grenzen gesetzt, überwunden und vervielfacht werden. Damit werden Unterschiede neu markiert und neue Verbindungen generiert.

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Das erste Kapitel »Contents«, dem auch die Einleitung von Schimanski und Wolfe zugehört, wird ergänzt durch den Aufsatz »The Litnes that continue to Separate us. Borders in our ›borderless‹ World« von David Newman, Herausgeber der Zeitschrift Geopolitics und Spezialist für Borderland Studies an der Ben Gurion University des Negev. Seit fünfzehn Jahren, so Newman in seinem kurzen Forschungsüberblick, erfahre die interdisziplinäre Erforschung von Grenzen nun regen Zulauf, etwa unter Geographen, Soziologen, Politikwissenschaftlern, Anthropologen, den Vertretern der internationalen Rechtswissenschaften, wobei die disziplinenübergreifende Forschung eher noch in den Anfängen stecke. Während die »klassischen Studien« zur Grenze sich vor allem den Fragen der politischen Geographie, also der deskriptiven Verortung von Grenzen / Landesgrenzen widmeten, würden sich die modernen Typologisierungsversuche vor allem mit dem Prozess der Demarkation und Delimination auseinandersetzen. Demarkation versteht Newman hierbei als einen Prozess, bei dem die Kriterien für Inklusion und Exklusion in die Gesellschaft (am augenscheinlichsten im Falle der Staatsbürgerschaft) festgelegt werden.

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Allgemein betrachtet habe sich die Grenze durch die neuen Ansätze der border studies in ihrer Grundstruktur verändert: War sie in den »klassischen Studien« noch eine Absperrung, die eine sichtbare von einer unsichtbaren Seite abteilt, so werde sie nun als Verhandlungsort für Befriedung, Kooperation und Koexistenz denkbar, in dem Sinne, dass eine Grenze nun als Brücke, Interaktionsraum und Grenzgebiet (frontier) angesprochen werde, als Ort einer Begegnung mit dem Anderen, wodurch sich die durch die vorherige ›Unsichtbarkeit‹ hervorgerufene Animosität in einen produktiven Austausch verwandeln könne.

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Rüdiger Görner, Direktor am Zentrum für Anglo-German Cultural Relations an der Universität von London, legt in seinem Beitrag »Notes on the Culture of Borders« den Schwerpunkt auf die Frage, inwiefern Grenzen und Ideen einer bestimmten Grenze stets auf einen gültigen Referenzrahmen angewiesen sind und kulturtragende Bedeutung erlangen, indem sie Differenzierungen ermöglichen. Görner stellt dabei heraus, dass Grenzen dazu beitragen, personale wie politische Identitäten zu markieren und zu separieren. Er fasst seine Überlegungen in dem Paradoxon zusammen, dass unsere Identität heute einerseits durch zahllose Grenzen und Grenzauflösungen bedroht scheint, wir andererseits aber zugleich dem zentralen europäischen ›Mythos des Faustischen‹ in seiner gewagten Sehnsucht nach Überwindung aller ethischen und traditionellen Grenzen nachhängen.

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Die Essenz seiner – auf Überlegungen von Nietzsche bis Claudio Magris anspielenden – Idee einer »Kultur der Grenzen« findet Görner in der frühromantischen Philosophie und Ästhetik, in nuce in Novalis’ »poetische[r] Weltform« (S. 65), in der es um »transitorische Grenzen« (S. 65) geht, mithin um einen Zustand des zugleich Unbegrenzten und Begrenzten. An einzelnen Werken von Rainer Maria Rilke, Thomas Mann, Franz Kafka, Ingeborg Bachmann und Alfred Andersch sowie an den Skulpturen des Schweizer Künstlers Erwin Rehmann veranschaulicht Görner seine Thesen und kommt zu dem Schluss: Kulturelle Grenzerfahrungen aller Art stellen für die Gesellschaft Muster bereit, an der die Interpretation und Reflexion sich abzuarbeiten hat, auch wenn diese dabei in der Gefahr stehen, wiederum selbst nichts anders als ›Grenzfälle‹ zu sein.

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Um Raum und Grenze (»Space and Border«) bei Georg Simmel, Bernhard Waldenfels und Robert Musil geht es in Wolfgang Müller-Funks Beitrag. Müller-Funk, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Wien, wählt einen multiperspektivischen Zugang zum Thema Grenze. Mit Zygmunt Bauman interpretiert er die Anforderung an den Menschen im expansiven und aggressiven ›Hypermodernismus‹ als Herausforderung, die unterschiedlichsten heterogenen Typen des Raums zu integrieren. Die distanzierte, Gesellschaft überblickende Herangehensweise Georg Simmels zum Phänomen der Grenze verkörpert für ihn den Ort des allwissenden Erzählers in der modernen Prosa, während Waldenfels phänomenologischer Zugriff gerade den individuellen Leib als Ort eine psychophysikalische »experience and relation« (S. 76) in den Vordergrund stelle.

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Musil figuriert bei Waldenfels wiederum als wiederauferstandener Vergil, der sein ästhetisches Werk als ›symbolische Apparatur‹ zur Bewältigung experimenteller Abenteuer in der Moderne begreift. Müller-Funk sieht an Simmels Raumbegriff bereits die Lacan’sche Idee einer symbolischen und imaginären Grenze aufscheinen. Bei Musil werde das Ich unverfügbar und fremd, was zugleich zu einem Verlust und einem Zugewinn an Möglichkeiten führe, die sich im Falle des Protagonisten Ulrich in experimentellen Lebenszugängen äußerten. Die inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester Agathe platziere beide an der Schwelle eines unbekannten und verbotenen Raumes.

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Svend Erik Larsens Beitrag »Boundaries. Ontologie, Methods, Analysis«, der das Kapitel »Aesthetics« beschließt, betrachtet ›Grenze‹ als ästhetisches Phänomen und definiert sie – ganz konventionell – als eine bedeutungsproduzierende Differenz zwischen zwei Bereichen, die dann auftauche, wenn bestimmte Gebiete voneinander abgetrennt werden sollen. Die Rolle einer Grenze als Barriere oder Zugangstor könne, so der Komparatist von der Universität Århus, durch Interaktion verändert werden. Larsens Einteilung der Grenzen in eine Ebene der Manifestationen (Beispiel: Bordstein) und eine Ebene der Bedingungen (Theorien darüber, warum und wie die Manifestationen da sind) lässt sich gut mit Müller-Funks Beharren auf der Interpretationsbedürftigkeit natürlicher Grenzen in Bezug setzen. Beiden Autoren geht es unter anderem darum, die Rolle von Kunst und Ästhetik für die Herausbildung und Überschreitung von Grenzen näher zu bestimmen. Larsen betrachtet Ästhetik als Zeugnis menschlicher Interaktion mit bereits existierenden Grenzen und der Möglichkeiten, diese zu verändern. Ästhetische Objekte seien als aktive Momente des kulturellen Prozesses zu betrachten, die gerade und vor allem durch ihre ästhetischen Qualitäten zu wirken in der Lage seien.

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Grenzräume und Grenzgänge
in den Medien

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Die als Professorin für Hispanic Studies an der Cornell University lehrende Debra Ann Castillo befasst sich seit Jahren mit lateinamerikanischer Literatur, die im Grenzbereich zwischen Mexiko und den USA zu verorten ist. Ihr Aufsatz »Borders, Identities, Objects« thematisiert Beispiele aus der lateinamerikanischen Literatur – von Eduardo González Viaña und Luis Rafael Sánchez bis Pat Mora –, die sich mit den spezifischen Effekten des Grenzüberschreitens in Form von Traumatisierungen, Nostalgie und Trauer befassen und dabei Differenzierungen in Bezug auf nationale Herkunft und Geschlecht berücksichtigen. Es gelingt ihr plausibel zu machen, wie durch Migration die Parameter etwa der puerto-ricanischen Identität verschoben werden; die gemeinsame Herkunft sagt in Anbetracht unterschiedlicher Migrationswege und Assimilationsgrade wenig über aktuelle Selbstverortungen aus.

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Reinhold Görling, Professor am Institut für Kultur und Medien der Universität Düsseldorf, befasst sich hier mit dem deutsch-türkischen Kino. In seinem Aufsatz »Topology of Borders in Turkish-German Cinema« geht er davon aus, die Spannung zwischen Spuren und Grenze würde in verschiedenen Kulturen, etwa durch Rituale, unterschiedlich ausbalanciert. Seinen Untersuchungsgegenstand, das Kino der Migration – hier am Beispiel von Tevfik Başer, Fatih Atkin, Thomas Arslan und Kutlug Ataman – sieht er vor allem charakterisiert durch eine Diskrepanz zwischen innerer und äußerer Landschaft und einer Fokussierung auf die Konstruiertheit von Raum und Zeit. Mit Hamid Naficy, einem Kunsthistoriker und Medienwissenschaftler an der Universität Houston, geht er davon aus, das in den Filmen des deutsch-türkischen Kinos vor allem Aspekte wie Klaustrophobie, Reise, Grenzüberschreitung und Identitätswechsel thematisiert werden.

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Lene Johannessens Beitrag »De-Symbolization and the Cultural Act« beabsichtigt, die Problematik der Grenzen und der Grenzräume vor dem Hintergrund der Entwicklung des fortgeschrittenen globalen Kapitalismus zu diskutieren. Die Autorin lehrt als Associate Professor am English Department der Universität Bergen mit den Schwerpunkten Chicano-Literatur und American Studies. Im Anschluss an Bahktin betont sie, dass die Abwesenheit von Grenzen tödlich für jeden kulturellen Entwicklungsprozess ist. Den Begriff der De-Symbolisierung entlehnt sie dem französischen Philosophen Dany-Robert Dufour, der festgestellt hat, dass seit 2002 Geldnoten in Umlauf gegeben wurden, die nicht mehr die nationalen Symbole der einzelnen Staaten tragen, sondern durch beliebige Zeichen für den erfolgreichen Waren- und Geldfluss in der globalen Ökonomie ersetzt wurden. Mit Edward Said bestimmt Johannessen daher die Anatomie der Grenze als die Anatomie ihrer Erinnerung, wobei der Kunst die Funktion zukomme, Kontinuitäten aufzufinden, die dem Terror der Immanenz durch ein anderes Zeitbewusstsein und eine andere Ansprache des Menschen entgegentreten könnten.

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Niemandsländer und Erinnerungszonen
zwischen den Kulturen

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Die freischaffende Kunstkritikerin Marlene Vest Hansen hat sich auf den ästhetisch-politischen Grenzbereich zwischen Öffentlichem und Privatem spezialisiert. In ihrem Aufsatz »Public Places – Private Spaces. Site-specific Blurring of Boundaries in Sophie Calle’s Jerusalem Projects« hat sie das Wechselverhältnis zwischen konkreten, von Einzelindividuen bewohnten Orten, deren medialer Masseninszenierung und deren Re-Individualisierung in der Kunst untersucht. Dies führt sie am Beispiel der Kunstwerke von Sophie Calle durch, die die geschichts- und repräsentationsträchtige Stadt Jerusalem zum Gegenstand haben und mittels individueller Erinnerungen ihrer Bewohner neu zu verorten suchen. Zu Calle und dem Thema Grenze hatte die Gießener Theaterwissenschaftlerin Helga Finter bereits 1998 interessante Überlegungen über die »singuläre Privatisierung des öffentlichen Raums« angestellt, 1 die Vest Hansen leider nicht aufgreift.

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Vest Hansen glaubt nicht, dass ortsbezogene Konzeptkunst ihr kritisches Potenzial in Form und Material im Zeitalter institutioneller Vereinnahmung verloren habe. Auf geschickte Weise gelingt es, so Vest Hansen, der – nicht zuletzt durch Elisabeth Bronfens Aufsatz »Gendering Curiosity« 2 auch unter Literaturwissenschaftlern bekannt gewordenen – Künstlerin Calle, zu zeigen, wie heterogene Gemeinschaften sich einen öffentlichen Raum teilen. Darüber hinaus besitzt Calles Konzeptkunst auch eine institutionskritische Dimension, die auf soziale Konventionen, politische Entscheidungen und ökonomische Investitionen mit all ihren Grenzziehungen für die Kunst fokussiert. Anstatt ›öffentliche Kunst‹ zu sein, nehmen, so Vest Hansen, Calles Exponate eher die Position des Instabilen, Fragmentarischen, Nicht-Monumentalen ein, das in der Lage ist, durch Verschiebung und Verundeutlichung sowohl individuelles und kollektives Erinnern wie auch die Grenzen der Konventionen in Frage zu stellen.

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Um die Erinnerungszonen zwischen zwei Kulturen, hier der walisischen und der anglophonen Kultur im 20. Jahrhundert, geht es auch in dem Beitrag der an der Universität von Glamorgan lehrenden Englisch-Professorin Jane Aaron. Die walisisch-sprachige Kultur repräsentiere stets auch die anglo-walische Grenze und sei damit zugleich mit erschütterndem Verlust assoziiert. Walisische Literatur reflektiert seit ihrem Beginn im 6. Jahrhundert den territorialen Verlust an der Grenze zu den Angelsachsen. Wie die poetischen Texte und Essays des walisischen Autors Ronald Stuart Thomas aus der Mitte des 20. Jahrhunderts erweisen, entpuppe sich Hybridität in diesem speziellen Falle als eine Spannungssituation des Existierens in einem Niemandsland zwischen zwei Kulturen. Das Walisische, so Aaron, sei insgesamt eher kulturell als materiell kolonisiert worden. Die Auswirkungen einer Anglisierung seien am deutlichsten am Verlust der Sprachkompetenz der border people erkennbar. Als Gegenstück zu R. S. Thomas bringt Aaron den 1921 in Wales geborenen marxistischen Theoretiker Raymond Williams ins Spiel, der sich zwar der kulturellen Prägung durch das Walisische in seiner Jugend bewusst sei, die positiven Aspekte dieser Sozialisation aber nicht anerkennen könne. Am Ende stellt Aaron heraus, dass sich englische und walisische Kultur in ihren unterschiedlichen Erfahrungen gegenseitig respektieren müssten, damit eine vollständige Erinnerung an das »Island of Britain« möglich bleibe. Grenzsituationen und kulturelle Grenzzonen könnte man, so Aaron, nur dann als Startpunkte einer konstruktiven Entwicklung begreifen, wenn sich alle Kulturen als Grenzkulturen (border cultures) auffassen. Was damit genau gemeint ist, lässt die Verfasserin allerdings offen.

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Postkoloniale Lektüren
des Größenwahns

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In diesem abschließenden Kapitel wagen sich die beiden Herausgeber Schimanski und Wolfe unter dem Titel »Imperial Tides. A Border Poetics Reading of Heart of Darkness« an Joseph Conrads weltberühmten Roman, der nicht nur bei Chinua Achebe, Edward Said und Homi K. Bhabha, sondern auch bei Hans Christoph Buch, Nadine Gordimer und Sara Suleri zum Thema wird. Dabei stellen Schimanski und Wolfe die Frage, inwiefern die Kongo-Reise des Flussdampferkapitäns Marlow im Auftrag einer belgischen Handelskompanie und darüber hinaus der gesamte imperiale Zugriff auf die Küsten Afrikas metaphorisch als Gezeit (tide) gefasst werden können. Der von Gezeiten geprägte, bewegliche Raum zwischen Land und Meer erschaffe eine Grenzzone mit den Markierungen des höchsten und niedrigsten Wasserstands. Das Boot sei im Text von Anbeginn in einer Grenzzone des Dazwischen verortet. Die topographische Lage des Bootes verweise damit zugleich auf die Opposition zwischen Licht und Dunkel, Zivilisation und Wildnis, Metropole und Kolonie, Weiß und Schwarz. Die enigmatische bis ironische Sprache des Erzählers in Conrads Text werfe, ausgehend von diesen unscharf gemachten Grenzen, epistemologische Fragen nach der Rolle des Reisenden für die Wissensproduktion über Afrika auf. Marlow verkörpere damit das Narrativ von Europa als, mit dem französischen Soziologen Daniel Defert gesprochen, ›planetarischer Prozess‹. Schimanski und Wolfe knüpfen hier mit ihrem Konzept der border poetics – ohne diese direkt zu nennen – an Überlegungen Susanne Gehrmanns, 3 Frances B. Singhs 4 oder Patrick Brantlingers 5 zum »colonialistic bias« in Conrads Kanonwerk an.

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Fazit

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Manche themenverwandte Veröffentlichung aus dem deutschsprachigen Raum, so Michael C. Franks Kulturelle Einflussangst, 6 lässt der besprochene Band leider unberücksichtigt. Darüber hinaus ließe sich zweierlei kritisch anmerken: Erstens gerät der Vorteil des Begriff ›Grenze‹ (nämlich die Möglichkeit des Aufzeigens von Interferenzen zwischen abstrakten und konkreten, sozialen und geographischen, künstlerischen und real-historischen Räumen) in manchem Beitrag zum Nachteil, wenn er, bewusst als Metapher verwendet, an analytischer Kraft verliert und zum essayistischen Bindeglied zwischen unterschiedlichen Betrachtungsebenen wird. Zweitens versprechen die im Titel erwähnten ›Poetiken‹ eingehende literarische Textinterpretationen (oder Interpretationen anderer Kunstformen), die man leider nicht in allen Beiträgen des Bandes vorfindet. Abgesehen von diesen beiden Einwänden enthält das Buch zahlreiche Anregungen und bietet Anhaltspunkte für die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Problematik von Grenzziehung und Grenze.

 
 

Anmerkungen

Helga Finter: Grenzgänge I. Grenzerfahrungen des Subjekts, Entgrenzungen des Theaters. In: Gabriele Brandstetter u.a. (Hg.): Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste. Tübingen: Narr 1998, S. 3–11.   zurück
Elisabeth Bronfen: Gendering Curiosity. The Double Games of Siri Hustvedt, Paul Auster and Sophie Calle. In: Annegret Heitmann u.a. (Hg.): Bi-Textualität. Inszenierungen des Paares. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2001, S. 283–302.   zurück
Susanne Gehrmann: Kongo-Greuel. Zur literarischen Konfiguration eines kolonialkritischen Diskurses (1890–1910). Hildesheim: Olms 2003.   zurück
Frances B. Singh: The Colonialistic Bias of Heart of Darkness. In: Conradiana 10 (1978), H.1, S. 41–54.   zurück
Patrick Brantlinger: Rule of Darkness British Literature and Imperialism 1830–1914. Ithaca: Cornell University Press 1988.   zurück
Michael C. Frank: Kulturelle Einflussangst. Inszenierungen der Grenze in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts. Bielefeld Transcript 2005.   zurück